20. November 2023
In Indien hat sich eine regelrechte Telefonbetrug-Industrie entwickelt, die jedes Jahr Milliardenbeträge von älteren Menschen vor allem in den USA erbeutet. Die Geheimwaffe der Betrüger: der Mangel an Gemeinschaft, Fürsorge und familiärer Unterstützung.
Die Einsamkeit, in der viele ältere Menschen leben, bildet ein offenes Einfallstor für Betrug.
Die finanzielle Hürde, um ein Callcenter in Indien zu gründen, ist nicht sonderlich hoch. Für 15.000 Dollar kann ein erfahrener Franchisegeber helfen, geeignete Büroflächen hinter verdunkeltem Glas zu finden, diese mit Dutzenden Computerstationen verkabeln und ein Team ehrgeiziger, englischsprachiger Hochschulabsolventen für die Durchführung von Telefonbetrug ausbilden. Die Investition hat man in der Regel in ein bis zwei Monaten wieder eingespielt.
Die Einnahmen fließen in Dollar, die Gehaltszahlungen und andere Ausgaben hingegen in Rupien. Die örtliche Polizei ist schlimmstenfalls ein lästiges Kostenrisiko, wobei die Gefahr einer Festnahme – geschweige denn einer echten Strafverfolgung – verschwindend gering ist. Wenn die Paranoia doch kommen sollte, kann man sich einfach an Samarth Bansal erinnern, der für die Hindustan Times einen ebenso ausführlichen wie eindringlichen Bericht über »Scam Centers« im Raum Delhi vorlegte – und als Reaktion lediglich eine einzige Textnachricht erhielt: ein Daumen-hoch-Emoji.
Mehr als ein Jahrzehnt nach Indiens Aufstieg zur »Supermacht des Telefonbetrugs« florieren die entsprechenden Callcenter auf dem Subkontinent weiterhin. Diese Art Betrug ist jetzt eine ausgereifte Industrie, deren Wachstum ähnlich wie Lieferservices während der Pandemie exponentiell anstieg. Im Jahr 2022 haben in Indien ansässige Betrugsunternehmen über zehn Milliarden Dollar von US-amerikanischen Bürgerinnen und Bürgern erbeutet. Mehr als drei Milliarden Dollar wurden dabei von Konten von rund 90.000 Personen im Alter von über sechzig Jahren abgezweigt. Laut dem Internet Crime Complaint Center des FBI ist dies eine Versechsfachung gegenüber den 500 Millionen Dollar, die Senioren im Jahr 2021 an Betrüger verloren. Die Über-sechzig-Jährigen sind dabei mit Abstand die häufigste Opfergruppe. Die Zahlen basieren allerdings auf Schätzungen und könnten durchaus zu niedrig angesetzt sein. Die Behörden räumen ein, dass sie nur mit Mühe mit diesem schwer fassbaren und sich schnell entwickelnden internationalen Gegner Schritt halten können.
Die explosionsartige Zunahme von Telefonbetrug während der Pandemie hat zu einer neuen Phase der internationalen Zusammenarbeit zwischen den US-amerikanischen und indischen Strafverfolgungsbehörden geführt: Bereits im Jahr 2020 eröffnete das FBI ein ständiges Büro in der US-Botschaft in Neu-Delhi. Diese Partnerschaft war letztlich ausschlaggebend für die Zerschlagung eines Betrügerrings mit Sitz in der westindischen Stadt Ahmedabad im Juni 2023. Die Verhaftung des 29-jährigen Drahtziehers, Vatsal Mehta, und seiner wichtigsten Mitarbeiter war der Höhepunkt einer fünfjährigen gemeinsamen Operation von FBI, Interpol und »Spezialeinheiten« der indischen Polizei.
Fast ein ganzes Jahrzehnt lang haben Mehtas Leute US-amerikanische Seniorinnen und Senioren um mehrere Millionen Dollar gebracht, indem sie sich in Anrufen als Regierungsbeamte ausgaben. Wenn die Opfer den Anruf unter der angegebenen Nummer erwiderten, informierten die Telefonisten sie, dass ihre Sozialversicherungsnummern mit einem schweren Verbrechen in Zusammenhang gebracht worden seien. Um eine Verhaftung zu vermeiden, müsse umgehend eine Geldbuße beglichen werden – zahlbar per Banküberweisung, Krypto oder Kreditkarte. Bei Bedarf wurden sogar »Angestellte« von Mehta in den USA zum Haus des Opfers geschickt, um Bargeld oder gar Gutscheinkarten des örtlichen Drogeriemarktes einzusammeln.
»Das unkontrollierte Sammeln von Daten hat unzählige Anruflisten produziert, die von von legalen Datenhändlern (und mindestens ebenso vielen illegalen im Dark Web) verkauft werden.«
Mehtas Lieblingsstrategie sah vor, dass seine Helfer sich als Uttam Dhillon ausgaben, damals amtierender Leiter der US-amerikanischen Drug Enforcement Agency. Man kann durchaus davon ausgehen, dass der stocksteife Karriere-Staatsanwalt die Verwendung seines Namens persönlich nahm: Im Rahmen einer Umstrukturierung der Behörden wurde Dhillon im Frühjahr 2021 an die Spitze des Interpol-Büros in Washington versetzt. Das dürfte Mehtas Schicksal besiegelt haben, denn Dhillon ging sofort entschlossen und letztendlich auch erfolgreich an die Arbeit. Geschnappt wurde dabei nicht nur Mehta selbst, sondern auch seine Handlanger in Indien und den USA. Im Dezember vergangenen Jahres verurteilte ein Bundesrichter in Texas den 44-jährigen indischen Staatsbürger Hitesh Madhubhai Patel wegen Identitätsbetrug, Bankbetrug, Betrug mit Zugriffsgeräten, Geldwäsche und Amtsanmaßung zu zwanzig Jahren Haft und einer Rückerstattung von 9 Millionen Dollar. 24 von Patels Mitarbeitenden in den USA erhielten ähnliche Strafen in Texas, Arizona und Georgia.
Die Verhaftungen von Patel und Mehta haben bewiesen, dass selbst die raffiniertesten Betrüger aufgespürt, gefasst und strafrechtlich verfolgt werden können. Das bedeutet aber keineswegs, dass der Hydra der indischen Telefonbetrugsindustrie endgültig der Kopf abgeschlagen wurde. Die Strafverfolgungsbehörden sind zahlenmäßig unterlegen, sie können maximal symbolisch Gerechtigkeit üben. Angesichts dieser Asymmetrie mussten weitere US-Bundesbehörden aktiv werden. Im April hat die Federal Trade Commission (FTC) das Projekt Point of No Entry ins Leben gerufen, das sich gegen Anbieter von Voice over Internet Protocol (VoIP) richtet, die billige internationale Robocalls über das Internet ermöglichen.
In Zusammenarbeit mit der Federal Communications Commission (FCC) und den Generalstaatsanwälten der Bundesstaaten verfügt die FTC nun über ein Team, das Unterlassungserklärungen an VoIP-Unternehmen mit Sitz in den USA verschickt. Aber selbst an dieser Front kämpfen die US-Behörden gegen Windmühlen: Robocalls können einfach von anderen Ländern aus durchgeführt werden. Das unkontrollierte Sammeln von Daten hat unzählige Anruflisten produziert, die von einer wachsenden Zahl von legalen Datenhändlern (und mindestens ebenso vielen illegalen im Dark Web) verkauft werden.
So könnte sich die älteste Verteidigung gegen Betrug als die beste herausstellen: Aufklärung, Information, Bildung. Dann wäre die wichtigste Gruppe zum Schutz älterer Menschen nicht das FBI, Interpol oder die FTC – sondern die American Association of Retired Persons.
Schon 1958, als Ethel Percy Andrus die Rentnerorganisation American Association of Retired Persons (AARP) gründete, hatte die pensionierte Lehrerin das Thema Betrug im Blick. Die Betrügereien des vorigen Jahrhunderts mögen heute skurril erscheinen, aber auch sie sorgten für tiefe Löcher in den Geldbörsen von Millionen Rentnerinnen und Rentnern. Insbesondere die Hartnäckigkeit und das Durchhaltevermögen der Betrüger empörten Andrus. Selbst im neuen »Zeitalter des Wohlstands« zog der offenbar zeitlose »Medizinmann« ungehindert von Tür zu Tür, um dort allerlei »Wundermittel« zu bewerben und zu verkaufen, die versprachen, die Übel und Leiden des Alterns zu lindern. Reguliert wurde diese aufdringliche Art des Vertriebs bis dahin nicht. Zu den ersten Erfolgen der AARP gehörte Ende der 1950er Jahre die strengere Regulierung des Verkaufs und der Werbung für Medikamente (nicht nur an der Haustür) durch die Food and Drug Administration.
Im Gegensatz zum Betrug mit vermeintlichen Arzneimitteln lassen sich die Ursprünge des damals zweithäufigsten Betrugs an Senioren auf eine der größten Errungenschaften der amerikanischen Linken zurückführen: die Verabschiedung des Sozialversicherungsgesetzes 1935. Die frühen Sozialversicherungsbetrügereien nahmen verschiedene Formen an, darunter auch eine primitive Version des heutigen Betrugs, bei dem sich jemand als Beamter ausgibt. Die vorherrschende Masche war jedoch einfacher Diebstahl und Fälschung. 1963, dem Jahr, in dem Andrus als Hauptzeugin bei einer Kongressanhörung zum Thema »Frauds and Quackery Affecting the Older Citizen« (Betrug und Quacksalberei gegenüber älteren Bürgern) auftrat, schätzte das Finanzministerium, dass ein Drittel der 50.000 jährlich gemeldeten gefälschten Schecks Sozialversicherungsschecks waren.
»Nichts ist schlimmer als der Druck, der auf älteren Menschen lastet und ihr geringes Einkommen weiter aufzehrt«, klagte Andrus vor dem Sonderausschuss des Senats für Altersfragen. Sie schlug eine nationale Aufklärungskampagne unter der Leitung der AARP und eine nationale Servicestelle vor, um »alle Praktiken oder Aktivitäten zu verhindern und aufzudecken [...], die der Sorge der Nation um ihre älteren Bürger zuwiderlaufen«.
»Ein komfortabler Ruhestand kann sich über Nacht in bittere Armut verwandeln. Teure Krebsbehandlungen können nicht mehr bezahlt werden. Pflegekräfte müssen entlassen werden. Familienhäuser und Erbstücke werden verkauft. Und Suizide begangen.«
Die gewünschte Servicestelle wurde niemals Realität, aber die AARP steckte nicht zurück. Heute, sechzig Jahre später, steht die Aufklärung über Betrug nach wie vor im Mittelpunkt der Arbeit der Organisation. Sie betreibt das Fraud Watch Network, eine gebührenfreie Hotline für Betrugsfälle, und veröffentlicht regelmäßig aktuelle Informationen darüber, wie die neuesten Betrugsmaschen erkannt werden können. Doch heute sind diese Verbrechen sowohl in ihrer Art als auch in ihrem Ausmaß gänzlich anders als die, gegen die Andrus einst ankämpfte. Betrug hat sich zu einer veritablen Industrie entwickelt, die wir gerade erst verstehen lernen. Noch im Jahr 2017 behauptete David Graeber in Bullshit Jobs, dass Betrügereien als »eine Handlung, nicht als Beruf« betrachtet werden sollten, weil niemand fürs Betrügen »Lohn oder Gehalt« zahle. Diese Einschätzung verkennt jedoch die Professionalisierung des Betrugs, die bereits seit den 2010er Jahren in Indien zu beobachten ist, wo Callcenter mit Grundgehältern und saftigen Provisionen um neue Angestellte konkurrieren, ähnlich wie bei jedem anderen Job im Vertrieb.
Ein weiterer Unterschied zu den Betrügereien der Vergangenheit ist die Höhe der gestohlenen Beträge, sowohl im Einzelfall als auch in der Gesamtheit. Im Jahr 2022 erbeuteten Betrugsunternehmen, die es auf Seniorinnen und Senioren in den USA abgesehen hatten, laut FBI durchschnittlich 35.000 Dollar pro Opfer. Das ist ein überwältigender Betrag – vor allem für Rentnerinnen und Rentner, von denen mehr als 90 Prozent auf Sozialleistungen angewiesen sind, um ihre Ersparnisse aufzubessern (falls sie welche haben). Der moderne Betrug führt somit zu Situationen, die weitaus schlimmer sind als lediglich ein entgangener Sozialversicherungsscheck. Je nach Fall kann sich ein zuvor komfortabel erscheinender Ruhestand über Nacht in bittere Armut verwandeln. Teure Krebsbehandlungen können nicht mehr bezahlt werden. Pflegekräfte müssen entlassen werden. Familienhäuser und Erbstücke werden verkauft. Und Suizide begangen.
Oft wird angenommen, dass gerade ältere Menschen ins Visier genommen werden, weil sie leicht verwirrt werden könnten oder an irgendeiner Form von geistigem Leistungsverlust leiden. Teilweise mag dies der Fall sein, aber die Forschung stützt diese Annahme nicht grundsätzlich: Die wichtigsten Risikoindikatoren sind den Daten zufolge soziale Isolation und Einsamkeit. Wenn Menschen einsam sind und ihnen die täglichen menschlichen Kontakte fehlen, bleiben sie eher am Telefon und sprechen mit Fremden. Wenn man allein lebt, hat man auch keine Möglichkeit, eine zweite Meinung einzuholen. Eine Studie der University of Southern California ergab, dass Seniorinnen und Senioren, die »einsam und sozial unzufrieden« waren, eine größere »Anfälligkeit für finanziellen Betrug« zeigten. Dass diese Risikofaktoren auch immer mehr und immer jüngere US-Bürgerinnen und -Bürger betreffen, ist mit ziemlicher Sicherheit der Grund für die steigenden Betrugszahlen. In den USA erfüllt ein Viertel der Menschen im Alter von über 65 Jahren die Kriterien für »chronische soziale Isolation«; ein Drittel der Erwachsenen über 45 Jahren gibt an, sich »einsam« zu fühlen.
Der Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Betrugsanfälligkeit zog sich schon 1963 wie ein roter Faden durch die Anhörungen, die der Sonderausschuss des Senats einberufen hatte. In einem besonders traurigen Beispiel wurde ein Betrug beschrieben, bei dem ältere Menschen dazu verleitet wurden, im Voraus für Tanzstunden zu bezahlen, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. »In ihrem Wunsch nach Gesellschaft und einem möglichen Ausgleich für die Einsamkeit, die häufig mit dem Alter einhergeht, wird diesen älteren Mitbürgern vorgegaukelt, dass sie durch die Teilnahme am Tanzunterricht beziehungsweise die regelmäßige Teilnahme an Kursen ein Gegenmittel für ihr zurückgezogenes Leben finden können«, sagte der damalige Vorsitzende der FTC, Paul Rand Dixon.
Diese Wirkung des Alleinseins wird auch von den modernen Betrugsunternehmen (die es auf weit mehr abgesehen haben als auf ein paar Dollar für einen nicht stattfindenden Tanzkurs) gut verstanden. Die indische Journalistin Snigdha Poonam hat dies im Rahmen ihrer Recherchen erfahren. Eine junge Betrügerin aus der Tech-Metropole Gurugram sagte der Reporterin: »Amerika ist voll von alten Menschen, die allein leben. Die haben einfach niemanden, an den sie sich wenden können.«
Wie das Telefon ist auch das Callcenter eine US-amerikanische Erfindung. In seiner modernen Form startete es in den 1960er Jahren durch und erlebte eine drei Jahrzehnte währende Blütezeit. Ab Mitte der 1990er Jahre begannen US-Unternehmen jedoch, Arbeitsplätze im Kundensupport ins Ausland zu verlagern, ähnlich wie viele Fabrikarbeitsplätze nach Mexiko oder China. Das Offshoring von Callcentern beschleunigte sich mit dem wirtschaftlichen Abschwung nach 9/11: Die meisten großen Banken, Fluggesellschaften und Telefongesellschaften verlagerten ihren Kunden-Support nach Indien. Auf dem Subkontinent gab es einen Überschuss an Arbeitskräften mit Hochschulabschluss, die mindestens seit der dritten Klasse Englisch gelernt hatten. In den schnell wachsenden Support-Zentren in der Nähe von Delhi, Kolkata und Mumbai verdienten junge Inderinnen und Inder nur einen Bruchteil des Einstiegsgehalts in den USA. Ebenso richteten auch Tech-Unternehmen ihr Augenmerk auf Indien, wo sie nun Programmier- und technisches Supportpersonal, das fließend Java sprach, für nur 5.000 Dollar im Jahr einstellen konnten – 60.000 Dollar weniger als für eine ähnlich ausgebildete Facharbeiterin in den USA.
Mitte der 1990er Jahre war für rund 90 Prozent der großen US-Unternehmen ein solches Outsourcing nicht mehr nur eine Kosteneinsparungsmaßnahme, sondern ein zentraler Bestandteil ihres Geschäfts. Es entstand eine neue, englischsprachige Beratungsbranche, die US-amerikanische und britische Unternehmen bei diesem Schritt unterstützte. Nach Angaben der International Association of Outsourcing Professionals konnten diese Firmen für jede 1.000 Arbeitsplätze im Kundendienst, die nach Indien verlegt wurden, mit Einsparungen von bis zu 20 Millionen Dollar rechnen.
Die Boomzeiten hielten allerdings nicht lange an. Wenige Jahre nach ihrer Ankunft verließen viele große US-Firmen die neu errichteten Bürotürme von Kalkutta und Gurugram schon wieder, um weiter östlich noch vielversprechendere Standorte zu finden. Im Jahr 2011 gehörten die Philippinen neben Indien zu den führenden Callcenter-Standorten. Etwa 400.000 Kundenbetreuerinnen und -betreuer beantworteten in Büroparks außerhalb Manilas Anrufe für Expedia, JPMorgan Chase und AT&T. Etwa zur gleichen Zeit vergaben andere Firmen ihre Kundenbetreuung an US-Gefängnisse. Beworben wurde diese Arbeit zu minimalen Personalkosten von UNICOR, einem US-Regierungsunternehmen, das »alle Vorteile des inländischen Outsourcings zu Offshore-Preisen« versprach.
»Eine der Hauptstädte der Branche, Kolkata, war früher das »Hauptquartier« für eine ganz andere Art Betrug, der um ein Vielfaches größer, bösartiger – und lukrativer – war: die britische East India Company.«
Während die indische Callcenter-Branche schrumpfte, erlebten die Bereiche Software-Entwicklung und IT-Support durch die anhaltenden Auslagerungen des florierenden US-Technologiesektors einen enormen Aufschwung. So beschloss beispielsweise Microsoft im Jahr 2010, alle seine Helpdesk- und Supportdienste an Infosys Limited mit Sitz in Bangalore zu vergeben. Allerdings waren die indischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die in den alten Callcentern tätig gewesen waren, nicht unbedingt für die neuen IT-Jobs qualifiziert. Was jeder junge englischsprachige indische Hochschulabsolvent jedoch konnte, war vorzugeben, für die Tech-Giganten zu arbeiten, die nach Indien kamen, als die Banken und Fluggesellschaften gerade abzogen.
So stieg die Zahl der Fake-Anrufe von angeblichen Microsoft-, Apple-, Norton- und Amazon-Angestellten in den 2010er Jahren deutlich an und erreichte zu Beginn der Pandemie einen Höhepunkt. Im Jahr 2022 war der sogenannte »Tech Support Fraud« die häufigste Betrugsart in allen US-Altersgruppen – Seniorinnen und Senioren waren überproportional stark betroffen. 95 Prozent dieser Betrugsanrufe kamen aus Indien.
Alle Elemente, die für die Entstehung dieser Betrugsmasche erforderlich waren, waren in den frühen 2010er Jahren vorhanden: Büroimmobilien in Indien, Fachwissen über den Betrieb von Callcentern vor Ort, erhöhte Einkommenserwartungen junger Inderinnen und Inder mit College-Abschluss sowie Erfahrung mit dem psychologischen Verhalten US-amerikanischer Seniorinnen und Senioren, die unter sozialer Isolation litten und mit neuen Technologien schlicht überfordert waren. Dass all diese Voraussetzungen oft jahrelang und hart erarbeitet wurden, dürfte zumindest einigen ehemaligen Callcenter-Angestellten moralisch geholfen haben, den persönlichen »Jobwechsel« hin zum professionellen Betrug zu vollziehen. Hinzu kommen Rassismuserfahrungen: Support-Telefonate waren seit den späten 1990er Jahren nicht selten ein Ventil für die Wut und Überforderung der US-amerikanischen Kundinnen und Kunden mit der Modernisierung und Globalisierung. Ein Time-Artikel aus dem Jahr 2007 beschreibt die Flut an Beschimpfungen, die indische Callcenter-Angestellte regelmäßig über sich ergehen lassen mussten, darunter auch die »Streiche« eines Radiomoderators aus Philadelphia, der in Indien ansässige Kundenservice-Angestellte nur zu dem Zweck anrief, sie live auf Sendung als »dreckige Rattenfresser« zu bezeichnen.
Darüber hinaus könnten noch tiefergehende und historische Ressentiments gegen westliche Mächte eine Rolle spielen. Eine der Hauptstädte der Branche, Kolkata, war früher das »Hauptquartier« für eine ganz andere Art Betrug, der um ein Vielfaches größer, bösartiger – und lukrativer – war: die britische East India Company. Seit den 1750er Jahren schöpfte die Company mit dem Segen der Krone systematisch den Reichtum Bengalens und schließlich auch des restlichen Indiens ab. Einzelne Händler kamen durch Ausbeutung zu ungeahntem Reichtum. Erst als Berichte über Massenhunger und gewaltsame Plünderungen Europa erreichten, verspotteten Satiriker die Direktoren der Gesellschaft als »Lord Vultures« oder als »eine Truppe wilder Banditen [...], eine skandalöse Bande, die plündert und raubt«.
Heute tobt in Indien eine Debatte über den Schaden, den die Betrugsindustrie dem Ruf des Landes zufügt – und auch dabei wird nicht selten auf die Erfahrungen der Kolonialgeschichte hingewiesen. Unter einem Bericht der Times of India über Callcenter-Scams forderte der Top-Kommentator »indische Betrüger« auf, ihre Arbeit doch bitte auf Großbritannien auszuweiten. Schließlich sei es das Vereinigte Königreich gewesen, »das Billionen von Indien geplündert hat. Und selbst heute haben sie Steuerparadiese und bieten all jenen Zuflucht, die mit dem geplünderten Geld aus Indien geflohen sind«.
Wie schon bei der vorangegangenen Outsourcing-Welle hat der indische Betrugssektor inzwischen weitere Branchen in seinem Kielwasser hervorgebracht: Die Angestellten von Internet-Sicherheitsanbietern verdanken ihre Jobs der durch Betrug ausgelösten Angst und Verunsicherung. Auch die Anti-Scam-Abteilungen großer Tech-Unternehmen sowie entsprechende Behörden sind deutlich gewachsen.
Die wohl größten Gewinner sind jedoch Youtube-Stars, die mit Online-Selbstjustiz für Unterhaltung sorgen: die sogenannten Scambaiter. Die besten Scambaiter werden in der Regel von VPN-Anbietern und Internet-Sicherheitsunternehmen gesponsert. Ihre Videos erzielen Hunderttausende oder gar Millionen von Aufrufen. Mit Stimmveränderungsprogrammen können sie sich als verwirrte ältere Damen ausgeben, um dann den Spieß gegen die Betrüger umzudrehen. Manchmal geht es nur darum, die Scammer zu nerven oder auszufragen, manchmal aber auch darum, deren eigene Konten in ausgeklügelten und raffinierten Betrugsaktionen zu leeren. Wenn man die Welt nicht von Betrügern befreien kann, will man sie wenigstens heulen sehen, so der Tenor.
Das Duo Ashton Bingham und Art Kulik aus Los Angeles, das unter dem Namen Trilogy Media auftritt, ist einer der Stars der Branche. Im vergangenen Sommer haben sie sich mit ihren Kollegen Mark Rober und Jim Browning zusammengetan, um eine gewagte Infiltrationsaktion gegen ein weit verzweigtes Betrugsunternehmen in Kolkata zu organisieren. Mithilfe indischer Spitzel ließ das Youtuber-Team Kakerlaken, Stinkbomben mit Zeitzündern und Glitzer-Bomben vor den Türen des Callcenters hochgehen und legte so den Betrieb für Tage lahm. Die Videos von den Streichen erreichten insgesamt hunderte Millionen Views.
Doch so beliebt die Videos auch sein mögen, sie führen kaum zu mehr als einem kürzen Ärgernis für die Scam-Unternehmen. »Wir lieben es, die Zeit der Betrüger zu verschwenden«, so Bingham in einem Interview mit Wired. »Je mehr Zeit sie mit uns am Telefon verbringen, desto weniger Zeit mit deiner Oma.« Doch auch er muss sich eingestehen: Selbst wenn die Videos so viel Aufsehen erregen, dass die indische Polizei Razzien durchführt, ist das Ergebnis meist nicht mehr als eine vorübergehende Inhaftierung und anschließende Freilassung der Betrüger.
»Künstliche Intelligenz wird es Scam-Zentren bald ermöglichen, die Stimmen von geliebten Angehörigen oder Staatsbeamten zu imitieren.«
Der »Pate des Scambaiting« Jim Browning hatte große Hoffnungen, als er 2013 seinen Scambaiting-Kanal startete. Browning ist der Youtube-Name eines irischen Technikers, der sich darauf spezialisiert hat, in die Überwachungskamerasysteme von Callcentern einzudringen und die Aufnahmen dann der Welt zu zeigen. »Ich dachte, wenn ich sie so aufnehme, können die Behörden vielleicht etwas dagegen unternehmen«, sagt er heute. »Da habe ich mich aber arg getäuscht.« Er beschreibt Indien als einen »sicheren Hafen« für eine Betrugsindustrie, die es geschafft habe, den Behörden immer einen Schritt voraus zu sein. Er selbst ist inzwischen hauptberuflicher Scambaiter. Er bezeichnet seine Arbeit als »die Kunst, die Betrüger aus dem Konzept zu bringen und die Situation auf den Kopf zu stellen«.
Ob die von den Scambaitern gesammelten Informationen und Beweise – Standorte von Scam-Zentren, Überwachungsaufnahmen, Namen und Geschäftsinformationen – letztendlich von den Strafverfolgungsbehörden aufgegriffen werden, hängt vor allem von der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen den USA und Indien ab. Das FBI-Büro in der Botschaft in Neu-Delhi kann in einem korruptionsgeplagten Rechtssystem nur sehr wenig allein ausrichten. Sowohl aus Washington als auch von einflussreichen Stimmen innerhalb der indischen Diaspora in den USA werden Forderungen laut, dass die indischen Behörden mehr Ressourcen für dieses Thema bereitstellen sollten. »Wir haben versucht, in diesem Land [den USA] einen guten Ruf für Indien aufzubauen«, fasst der Journalist Yudhijit Bhattacharjee zum Abschluss seiner Podcast-Serie Scam Likely zusammen. »Wenn ich mit indischen Regierungsvertretern spreche, wiederhole ich immer wieder, was für einen großen Fehler sie machen, wenn sie die Sache nicht ernst nehmen. Letztendlich kostet es nicht nur die amerikanischen Opfer Milliarden von Dollar, sondern verursacht auch einen unkalkulierbaren Schaden in den Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern.«
Eine der Quellen von Bhattacharjee, ein Ermittler des US Department of Homeland Security, sieht das ähnlich. Die Telefonate der Betrugsindustrie, sagt er, seien »die größte grenzüberschreitende Kommunikation, die je stattgefunden hat. Es wurden Millionen Anrufe aus Indien getätigt. Das sind wirklich erstaunliche Zahlen – die von den Menschen negativ aufgenommen werden. Man muss sich fragen: Was bedeutet das für den zukünftigen Dialog zwischen den USA und Indien?«
Eine schärfere Version dieser Frage wurde von Suhel Daud, dem Chef des FBI für die Region Südasien und Rechtsattaché der Behörde an der Botschaft in Delhi, vorgetragen. In einem Gespräch mit der Times of India sagte Daud, Indien laufe Gefahr, als »Exporteur des Betrugs« abgestempelt zu werden. Damit ahmte er in gewisser Weise die Rhetorik des »Kriegs gegen den Terrorismus« aus der Bush-Ära nach. Damals wurde andauernde Untätigkeit anderer Staaten seitens der USA mit »staatlich geförderter« Kriegsführung oder Terrorismus gleichsetzt. Unabhängig davon, ob dies nur eine unvorsichtige diplomatische Formulierung war oder nicht, gibt es Anzeichen dafür, dass die indischen Behörden begonnen haben, das Thema Betrugsindustrie ernster zu nehmen. Die jüngste Initiative der Regierung trägt den Namen Operation Chakra – als ob nichts Geringeres als die Seele oder das »wahre, innere Selbst« Indiens auf dem Spiel stünde.
Die Betrugsindustrie hat sich in einer Weise ausgebreitet und verändert, die sich wohl nur Science-Fiction-Autoren vorstellen konnten, als Ethel Percy Andrus 1963 zum ersten Mal den Kongress um Bundesmittel gegen Betrug bat. Künstliche Intelligenz wird es Scam-Zentren bald ermöglichen, das Timbre und den Tonfall der Stimmen von geliebten Angehörigen oder Staatsbeamten zu imitieren. Sicherlich werden bald auch andere KI-basierte Scams auftauchen und sich verbreiten. Gleichzeitig werden die westlichen Gesellschaften immer älter: Bis 2030 wird jede fünfte Person in Amerika 65 Jahre oder älter sein. Im Jahr 2060 ist es dann schon jede Vierte, einschließlich einer Verdreifachung der heutigen 85-plus-Bevölkerung.
Was jedoch noch nicht feststeht, sind die sozialen Bedingungen, unter denen diese ältere Bevölkerung leben wird. Um der Isolation und Einsamkeit, die ältere Menschen quälen, entgegenzuwirken, bedarf es staatlicher Interventionen und Programme, die sich mit den vielen Skandalen in der US-amerikanischen Altenpflege auseinandersetzen – von Hedgefonds-geführten Altersheimketten bis hin zu endemischer Armut – und sich mit dem tieferen kulturellen Problem der Vernachlässigung ganzer Generationen auseinandersetzen. Dafür bedarf es einer Wiederbelebung der zivilgesellschaftlichen Organisationen und des politischen Engagements.
Nicht jede oder jeder kann oder will ein »Gray Panther« werden, aber es ist auffällig, dass der Niedergang der Gewerkschaften und des politischen Aktivismus im Allgemeinen mit einem stetigen Anstieg der Einsamkeit einhergeht. Lernen könnte man beispielsweise vom Ansatz der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten, die der sozialen Care-Arbeit ebenso viel Bedeutung beimessen wie der Gesundheitsfürsorge. Diese bieten eine staatlich geförderte Version der generationenübergreifenden Unterstützungssysteme, die sonst vor allem in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen anzutreffen sind. Es braucht Aufklärungskampagnen und ein ernsthaftes Nachdenken darüber, wie ältere Menschen ein erfüllteres, sozial eingebundenes Leben führen können.
Wenn uns die vergangenen zwei Jahrzehnte etwas gelehrt haben, dann, dass wir nicht auf das Internet setzen sollten, um den Verlust eines gemeinschaftlichen öffentlichen Lebens und familiärer Unterstützung zu kompensieren. In einem Essay zu Robert Putnams Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community in JACOBIN hat Anton Jäger nachverfolgt, wie sich die Einsamkeit in den gut zwanzig Jahren seit Veröffentlichung des Buches im Jahr 2000 verschlimmert hat – obwohl Menschen aller Altersgruppen immer mehr Zeit auf vermeintlich »sozialen« Online-Plattformen verbrachten. Im Gegensatz zu den frühen Versprechungen der Internet-Utopien zeigt sich, dass die Teilhabe an Online-Gemeinschaften die soziale Zersplitterung nicht aufhält, sondern sie vielmehr »beschleunigt und verfestigt«. Die heutige Online-Kultur, so Jäger, sei »offensichtlich ein Produkt der Atomisierung, die die neoliberale Offensive in der Gesellschaft erzeugt hat. Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, die eine Korrelation zwischen abnehmendem zivilgesellschaftlichem Engagement und Breitbandzugang belegen«.
Da bleibt fast nur noch der überaus schwache »Trost«, dass Rentnerinnen und Rentner in Zukunft weniger Geld an Betrugsunternehmen verlieren dürften: Die USA haben nämlich bereits jetzt die höchste Rate an Altersarmut aller Industriestaaten. Jeder dritte Mensch im Alter von mindestens 65 Jahren lebt unter oder nahe der Armutsgrenze. Das Land wird immer älter, und die durchschnittliche Seniorin immer ärmer. Die fünf- und sechsstelligen Ersparnisse und Renten, die im Jahr 2023 an Betrüger verloren gingen, werden zukünftig eine Ausnahme sein.
Wenn sich Telefon- und Online-Scams dann nicht mehr lohnen, könnte es ja vielleicht zu einem digitalen Äquivalent zum gefälschten Sozialversicherungsscheck von vor einem Jahrhundert kommen. Der Kreislauf der Betrugsgeschichte hätte sich dann geschlossen.
Alexander Zaitchik ist Journalist aus New Orleans und Autor von Owning the Sun: A People’s History of Monopoly Medicine from Aspirin to COVID-19 Vaccines.