29. Oktober 2023
Irische Liberale werben lautstark dafür, dass Irland seine Neutralität aufgeben und der NATO beitreten sollte. Dieser Vorschlag genießt allerdings kaum Unterstützung in der Bevölkerung – und würde Irlands potenziell positiven Einfluss als »blockfreier« Staat zunichtemachen.
Irlands Außen- und Verteidigungsminister Micheál Martin spricht beim Atlantic Council in Washington DC, am 08. Februar 2023.
Es ist nicht unmittelbar ersichtlich, was die irische Regierung dazu veranlasst hatte, im Juni einen nationalen Austausch zur internationalen Sicherheitspolitik (Constultative Forum on International Security Policy) abzuhalten. Umfragen zeigen immer wieder, dass die militärische Neutralität eine der populärsten politischen Positionen im Land ist. Die Befürwortung eines NATO-Beitritts liegt bei lediglich 15 Prozent. Es gab im vergangenen Sommer auch keine plötzliche 180-Grad-Wende in der öffentlichen Meinung, die das plötzliche Interesse an einer Änderung dieser grundsätzlichen Politik Irlands gegen Militäreinsätze im Ausland (»Triple Lock«) erklären würde.
Noch vor drei Jahren hatte die amtierende liberalkonservativ-grüne Regierungskoalition ein Programm verabschiedet, in dem sie klarstellte, der traditionelle Ansatz werde beibehalten. Die irischen Medien spielten daher die Sorge herunter, mit dem Consultative Forum könne die neutrale Haltung des Staates infrage gestellt werden. Die restliche europäische Presse mutmaßte hingegen sehr viel deutlicher, Staaten wie Irland würden ihre »Neutralität mehr und mehr hinterfragen.«
Tatsächlich stellte sich heraus, dass der irische Staat in den vergangenen drei Jahren nicht nur etwas mehr als 1,19 Millionen Euro für ein neues »Verbindungsbüro« in Brüssel (wo die NATO ihr europäisches Hauptquartier hat) ausgab , sondern auch, dass eine Bewertung der »NATO-Fähigkeiten« von immerhin 130 Mitgliedern der irischen Streitkräfte durchgeführt wurde.
Dass ich von der ersten Sitzung des Consultative Forums in Cork ausgeschlossen wurde – weil ich es gewagt hatte, einen Antrag zur Geschäftsordnung bezüglich des Veranstaltungsformats zu stellen – zeigt, wie ernst gemeint das Angebot der Regierung für eine »nationale Debatte« war. Für die Regierung als Organisator der Veranstaltung schien es hingegen nicht sonderlich beunruhigend zu sein, wenn eine gewählte Stadträtin von einer Informationsveranstaltung über Geopolitik ausgeschlossen wird – noch dazu übrigens von einer »Dame« des Britischen Empires, die den Vorsitz innehatte.
»Die irische Debatte findet vor dem Hintergrund der NATO-Erweiterung in anderen Teilen Europas statt. Doch die Diskussion in Irland kann nicht durch die Angst vor Angriffen von außen gerechtfertigt werden.«
Präsident Michael D. Higgins, dessen begrenzte politische Rolle darin besteht, die Verfassung zu verteidigen, bezeichnete die Diskussion über die Neutralität als »Spiel mit dem Feuer« im geopolitischen Treibhaus, zu dem Europa seit der russischen Invasion der Ukraine wurde. Darüber hinaus ist das Thema irische »Neutralität« zwar einerseits eine militärische Frage, andererseits geht sie weit darüber hinaus. Zunächst einmal hat die irische Armee kaum 7.000 Vollzeitkräfte. Ihr Nutzen für die NATO ist also überaus fragwürdig. Darüber hinaus ist es kurzsichtig, den militärischen Aspekt der bisherigen Neutralität von Irlands wirtschaftlicher, politischer und kultureller Position als Vermittler und Schaltstelle zwischen diversen regionalen Blöcken abzukoppeln.
Es war schon paradox genug, dass Präsident Higgins‘ Worte als »ungestüm« kritisiert wurden, obwohl er lediglich auf den lang etablierten Status Quo pochte. Noch widersinniger ist, dass Irlands vermeintlicher »Drang Richtung NATO« die Nischenrolle gefährdet, die das Land im neoliberalen Zeitalter für sich selbst entdeckt und eingenommen hat. Irland hat sich seit seiner faktischen Umwandlung in ein Steuerparadies seit Ende der 1980er-Jahre zu einem globalen »Hub« für die Technologie- und Finanzbranche (und ähnliche mobile Wirtschaftszweige) entwickelt.
Die irische Debatte findet freilich vor dem Hintergrund der NATO-Erweiterung in anderen Teilen Europas statt: Finnland ist bereits Vollmitglied geworden und Schweden steht kurz davor, diesem Beispiel zu folgen. Die (externen) Gründe dafür sind bekannt. Doch die Diskussion in Irland kann nicht durch die Angst vor Angriffen von außen gerechtfertigt werden. Das Vereinigte Königreich, die benachbarte Ex-Kolonialmacht, stellt Irland seit einem Jahrhundert seine Verteidigungskapazitäten zur Verfügung und fordert diesbezüglich kein Umdenken. Auch aus den Unterlagen zum Besuch von US-Präsident Joe Biden in Irland im April geht nicht hervor, dass auf der anderen Seite des Atlantik eine Änderung der bestehenden Form der Neutralität Irlands erwartet würde. Diese Neutralität hatte ohnehin immer ihre Grenzen: Militärflugzeuge der Vereinigten Staaten nutzen den Flughafen Shannon regelmäßig für militärische Einsätze und Versorgungsoperationen; er war unter anderem für die Kriege in Afghanistan und im Irak von Bedeutung.
Im politischen Zeitgeist der jungen 2020er-Jahre werden die Themen Neutralität oder Blockfreiheit als ein Anachronismus aus der Welt von vor 1991 dargestellt. Angesichts der oben genannten Aspekte kann dies aber kein Argument sein, Irlands Strategie als Vermittler, Verarbeiter und »Durchleiter« aufzugeben. Diese Position ist nichts weniger als die Quelle seines Reichtums und seiner Bedeutung für die globalen Kapital-, Informations-, Menschen- und Warenströme im 21. Jahrhundert. Die relativ flexible »Neutralität« macht das Steuerparadies Irland zu einem attraktiven Standort für die großen westlichen Technologiekonzerne wie Google, Facebook und Microsoft. Auch chinesische Unternehmen wie TikTok und das Flugzeugleasing eines Großteils der kommerziellen Flugzeugflotten weltweit spielen eine immer größere Rolle und sogar russische Rüstungsunternehmen nutzen das irische Steuerrecht, um ihre Kriegsprofite reinzuwaschen.
Vermeintliche Kleinigkeiten wie das besagte »Forum« an sich verstärken den Eindruck, dass es eine Krise in der sehr introvertierten herrschenden Klasse gibt, die jetzt meint, in einer polarisierten Welt handeln zu müssen. Dabei präsentiert man sich in diesen Gefilden doch selbst so gern als die »adults in the room« – in deren eigenem Interesse es doch eigentlich sein sollte, die Neutralität aufrechtzuerhalten. Der Druck, der auf Irlands derzeitiger, postkolonialer herrschenden Klasse lastet, ist hausgemacht. Sie befindet sich offensichtlich in einer – nach Antonio Gramsci – »organischen Krise«.
Seit Langem etablierte Aspekte der Hegemonie der herrschenden Klasse müssen demnach dringend gefestigt und/oder aktualisiert werden. Das gilt unter anderem für die sich im Niedergang befindende Partei Fianna Fáil, der Außenminister Micheál Martin seit 2011 vorsitzt. Die gegenwärtige Regierungsführung mit der rechtskonservativen Rivalin Fine Gael – ein Pakt, der die Unterstützung der Grünen Partei erfordert, um überhaupt regieren zu können – hat wenig dazu beigetragen, die neue Popularität von Sinn Féin, die bisher keiner Regierung angehörte, abzuschwächen.
Einige Reaktionen der herrschenden Klasse Irlands auf ihre »organische Krise« waren lehrbuchartig-rational. Dazu gehört die Akzeptanz der Sinn Féin im Gegenzug für das Versprechen, dass ein Wirtschaftsmodell, das auf der Anziehung ausländischer Direktinvestitionen (und anderer Relikte des postkolonialen Staates) basiert, nicht gefährdet wird. Andere Reaktionen scheinen dem Ziel der Hegemonie aber erstaunlicherweise zu widersprechen. Dazu gehört vor allem, dass man die permanente Wohnraumkrise gelassen hinnimmt und gleichzeitig einen Haushaltsüberschuss von 26 Milliarden Euro nicht nutzt, obwohl es ganz offensichtlich große Lücken bei den öffentlichen Investitionen gibt.
Diese Irrationalität kommt inzwischen so häufig vor, dass es schwierig sein kann, den Überblick zu behalten. So verkündete der Justizminister im Sommer munter die pauschale Vorratsspeicherung aller privaten Telekommunikationsdaten – ohne Angabe von Gründen und nach einer gerichtlichen Anhörung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Diese bizarre Kurzschlussreaktion eines offensichtlich in Panik geratenen Staates dürfte höchstwahrscheinlich erfolgreich angefochten werden.
Solche Paranoia-Aktionen sind spätestens seit Januar 2023 immer wieder zu beobachten. Damals warf ein Bauer aus Protest gegen eine Biogasanlage in der westirischen Stadt Gort symbolisch zwei Ministern während ihres Besuchs zwei kleine versiegelte Beutel mit getrocknetem Kuhmist vor die Füße. Eine stark aufgebauschte Version der Geschichte schwappte zwei Tage lang durch die irischen Medien. Es wurde vor der Gefahr eines jeden Protests gewarnt, der »unsere Demokratie« nicht respektiere oder gar gefährde.
»Die wichtigste Errungenschaft der irischen herrschenden Klasse in den letzten 40 Jahren war die Schaffung einer modernen Version des Stadtstaates, indem ein Kanal für internationales Kapital und ein wichtiger Knotenpunkt für Finanzdienstleistungen in Dublin geschaffen wurde.«
Diese »unsere Demokratie« wurde auch beschworen, als friedliche Demonstrierende von der Polizei aus rechtswidrigen Gründen gewaltsam von der ersten Sitzung des Neutralitäts-Diskussionsforums ausgeschlossen wurden. Das Forum steht damit in dieser jüngsten Tradition der unbeholfenen Zurschaustellung von Selbstherrlichkeit der herrschenden Klasse einerseits und ihrer Nervosität andererseits. Es sind Bilder einer Klasse in der Krise.
Inmitten dieser organischen Krise soll vor allem Dublins Position als Magnet für ausländische Direktinvestitionen gestärkt werden – egal ob man sich nun näher an Boston oder Berlin wähnt. Sinnbildlich dafür ist das enorme Wachstum der ursprünglich elf Hektar großen Sonderwirtschaftszone in den Dubliner Docklands, dem 1987 gegründeten International Financial Services Centre (IFSC).
Dieses im Zentrum der Hauptstadt gelegene Areal und Projekt nahm bisher die »Neutralität« als Grundlage für eine verbindende Rolle in der sich damals neu formierenden kapitalistischen Hegemonie. Diese Hegemonie beruht auf den Prinzipien Globalisierung und Finanzialisierung. Für Irland war diese Entwicklung neu, doch es gibt historische Vorläufer: die italienischen Stadtstaaten des 15. Jahrhunderts, deren unglaublicher Reichtum auf einer ähnlichen Idee von neutralem Unternehmertum sowie der Rolle als Mittelsmann (und Merkantilismus) aufgebaut wurde.
Die wichtigste Errungenschaft der irischen herrschenden Klasse in den letzten 40 Jahren war die Schaffung einer modernen Version dieses Stadtstaates, indem ein Kanal für internationales Kapital und ein wichtiger Knotenpunkt für Finanzdienstleistungen in Dublin geschaffen wurde. Diese bewusste Transformationsstrategie wird häufig heruntergespielt; beispielsweise von einer Pro-Nato-Vertreterin auf dem Forum, die ihrerseits von einer Art natürlichen (oder gar gottgegebenen?) »günstigen geografischen Lage« sprach.
Da Irland den rasanten Aufstieg solcher Stadtstaaten wiederholt hat, könnte auch deren Untergang wiederholt werden. Die italienischen Städte erlagen ihren eigenen irrationalen Reaktionen auf die sich verändernde Welt. Ähnlich dazu zeigen die Bemühungen der irischen herrschenden Klasse, ihre schwindende Popularität zu konsolidieren, eine Ignoranz, die ihr eigenes Projekt und ihre eigenen Interessen zu untergraben droht. Für Länder wie Irland werden vermeintliche Allheilmittel wie eine kurzfristig veränderte geopolitische Ausrichtung als Reaktion auf den Zeitgeist niemals das bieten, wonach sich die herrschende Klasse doch eigentlich so sehr sehnt: eine von den Risiken unserer polarisierten Welt möglichst gut abgeschirmte Existenz.
Anstatt einfach nur zuzusehen, wie dieses Gebilde vor sich hin bröckelt, müssen Sozialistinnen und Sozialisten die Gelegenheit nutzen, um eine Alternative voranzutreiben. Im Sozialismus geht es nicht um Isolation und Abschottung, sondern vielmehr um Vernetzung und Selbstermächtigung. Fehltritte wie das Forum bieten der Linken nicht nur einen guten Anlass, sich den Falken der herrschenden Klasse entgegenzustellen. Vielmehr erlaubt es uns, programmatisch zu artikulieren, wie Neutralität und Vernetzung ein Baustein für eine alternative, nämlich sozialistische politische Ökonomie sein können.
Ein Beispiel: Die humanitäre Mitarbeit im Mittelmeer während der »Operation Sophia« hat dazu geführt, dass bis 2020 etwa 18.000 Geflüchtete von der irischen Marine gerettet wurden. Die irischen Mitglieder des Europäischen Parlaments, die gemeinsam mit vielen anderen für die Beendigung der Rettungsmission stimmten, wurden daheim scharf für ihre reaktionäre Haltung kritisiert. Die Bevölkerung befürwortete die Rolle der irischen Marine in der Seenotrettung ausdrücklich.
Das größte Problem in Bezug auf die irischen Militärressourcen ist im Prinzip ein Problem der Finanz- und Personalplanung: Es s wird schlicht nicht genug Geld gezahlt, um all die Aktionen, an denen man im Rahmen der NATO teilnehmen möchte, tatsächlich durchzuführen. Wir leben bereits in einer Welt der Massenvertreibung und Migration. Irland wäre in einer guten Position, die Rettungsmissionen für Geflüchtete wieder aufzunehmen – und einen Kontrapunkt zur abscheulichen Politik einer »Festung Europas« zu setzen, die bisher lediglich das massenhafte Sterben im Mittelmeer »erreicht« hat.
»Die unterbezahlte irische Armee und Marine werden heute schon auf Ad-hoc-Basis zu diversen derartigen Aufgaben herangezogen. Warum sollte diese wichtige Arbeit nicht offiziell festgeschrieben und ausgebaut werden – als im wahrsten Sinne des Wortes neutraler Staat?«
Als neutraler Staat sind solche Abweichungen, die einigen EU-Staats- und Regierungschefs sicherlich ein Dorn im Auge sind, durchaus möglich. Im speziellen Fall »Operation Sophia« wurde die Gelegenheit leider verpasst; Irland stellte sich unterwürfig hinter die Kapitulation der EU vor der migrationsfeindlichen Stimmungsmache der radikalen Rechten.
Es ergeben sich aber noch andere Möglichkeiten. Eine Welt, die sich durch die Klimakrise verändert, braucht proaktive Stabilisierungsmaßnahmen, beispielsweise den Aufbau wichtiger Energie- und Wasserinfrastruktur in Staaten, in denen sie derzeit noch fehlt. Irland ist bereits mit einer UN-Friedenstruppe im Libanon präsent. Es hätte diesem infrastrukturarmen Land jedoch viel mehr zu bieten, wenn es sich umorientieren und entsprechende sinnvolle Güter dorthin exportieren würde.
Darüber hinaus gibt es ökologische Grenzen, die neutrale Staaten kontrollieren könnten, wie zum Beispiel die Überwachung von Meeresschutzgebieten oder die Sicherung von Gebieten gegen invasive Arten oder Waldbrände. Die unterbezahlte irische Armee und Marine werden heute schon auf Ad-hoc-Basis zu diversen derartigen Aufgaben herangezogen. Warum sollte diese wichtige Arbeit nicht offiziell festgeschrieben und ausgebaut werden – als im wahrsten Sinne des Wortes neutraler Staat?
Ein solcher positiver Ansatz steht in krassem Gegensatz zu den irrationalen Übertreibungen, die auf dem Forum zur irischen Neutralität zu beobachten waren. Diese angstgetriebene Argumentation erinnert an ein Pamphlet, das 1970 von den britischen Tories herausgegeben wurde und in dem bange gefragt wurde, ob Irland »unser Kuba« sei. Zumindest lässt sich festhalten, dass dieser andere Inselstaat in der Karibik sich seither trotz der anhaltenden Wirtschaftsblockade zu einem Vorbild in Sachen nachhaltiger Entwicklung und zum Exporteur von Gemeingütern in weite Teile der Welt entwickelt hat.
Wir können uns bisher nur vorstellen, welche Möglichkeiten sich auftun würden, wenn ein tatsächlich neutrales Land, mit so weitreichenden Beziehungen wie Irland sie pflegt, sich für eine ähnliche Politik entscheiden würde.
Lorna Bogue ist Stadträtin in Cork, Irland, und Vorsitzende der irischen ökosozialistischen Partei An Rabharta Glas-Green Left.