19. November 2024
Kamala Harris hat im Wahlkampf immer wieder betont, dass Donald Trump eine Gefahr für die Demokratie darstellt. Das Problem ist nur: In den Augen vieler Amerikanerinnen und Amerikaner ist die Demokratie längst kaputt.
Kamala Harris bei einer Rede nach ihrer Wahlniederlage, Washington, 07. November 2024
Wie wir alle wissen, ist der Vorstoß der Demokraten, die »Demokratie zu verteidigen« bei den Präsidentschaftswahlen gescheitert. Aber warum? Das liegt zum einen daran, dass das Gerede über die Bedrohung der Demokratie für die meisten Menschen vor der Wahl völlig irrelevant war. Denn ihre größte Sorge war die Wirtschaft, insbesondere die in den letzten Jahren in die Höhe geschnellten Kosten für Lebensmittel, Wohnen, Konsumgüter und mehr. Hinzu kommt, dass sich die Art und Weise, wie die Demokraten über die Demokratie sprechen, davon unterscheidet, wie die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner über sie denken.
Eine Reihe von Umfragen verdeutlicht, dass fast jeder in Amerika das Gefühl hat, die Demokratie des Landes sei bedroht. Das denken selbst Anhängerinnen und Anhänger von Donald Trump. Das hat zum großen Teil damit zu tun, dass beide Parteien der Führung der anderen Seite vorwerfen, die Demokratie zu untergraben. Wir diskutieren aber viel zu wenig darüber, dass hinter diesem Gefühl die Tatsache steckt, dass die amerikanische Demokratie ihren Bürgerinnen und Bürgern kein anständiges Leben bietet und von Milliardären gekapert worden ist.
In der letzten Umfrage der New York Times vor der Wahl gaben von den 76 Prozent der Befragten, die sagten, die amerikanische Demokratie sei bedroht, 14 Prozent als Grund dafür »die Regierung/Regierungskorruption« an. Das war die zweithäufigste Antwort nach »Donald Trump«, für den 21 Prozent als Auslöser der Demokratiekrise votierten. Ein höherer Anteil sowohl der Trump-Wähler (19 Prozent) als auch der Nichtwählerinnen im Jahr 2020 (11 Prozent) wählte diese erste Antwort noch vor jeder anderen genannten Bedrohung der Demokratie. Die Tatsache, dass ein relativ großer Anteil derjenigen, die nicht für die Demokraten stimmen, Korruption und die politische Führung im Allgemeinen als die größte Bedrohung für die Demokratie ansehen, spiegelt sich auch in anderen Umfragen wider.
In einer Pew-Studie von Ende 2023, in der nur 27 Prozent der Erwachsenen sagten, das politische System funktioniere sehr oder einigermaßen gut, gab es eine Reihe von alarmierenden Befunden: Der Anteil der Öffentlichkeit, der der Regierung vertraute, gehörte zu den niedrigsten der vergangenen siebzig Jahre, »korrupt« und »spalterisch« waren die beiden häufigsten Begriffe, mit denen die amerikanische Bevölkerung die Politik beschrieb, und eine große Mehrheit sagte, dass Politikerinnen und Politiker ihre persönlichen finanziellen Interessen schlecht von ihrer Arbeit im Kongress trennen (81 Prozent), dass große Spender (80 Prozent) und Sonderinteressen (73 Prozent) zu viel Einfluss auf ihre Entscheidungen nehmen und dass die unerschwinglichen Kosten einer Kandidatur gute Leute davon abhalten, in die Politik zu gehen (85 Prozent).
Schauen wir uns als nächstes die Einstellung junger Wählerinnen und Wähler an, einer wichtigen Bevölkerungsgruppe, deren sinkende Wahlbeteiligung und – im Fall von jungen Männern – deren Hinwendung zu Trump eine Schlüsselrolle bei der Niederlage von Kamala Harris spielte. Eine im April durchgeführte Umfrage des den Demokraten nahestehenden Unternehmens Blueprint unter Wählerinnen und Wählern im Alter von achtzehn bis dreißig Jahren ergab, dass diese Gruppe in der US-Politik »ein sterbendes Imperium [sieht], das von schlechten Menschen geführt wird«: Mehr als die Hälfte von ihnen glaubt, dass »fast alle Politikerinnen und Politiker korrupt sind und mit ihrer politischen Macht Geld verdienen« (65 Prozent), dass das politische System der USA »nicht für Menschen wie mich funktioniert« (51 Prozent) und dass die Wahlen Menschen wie sie selbst nicht repräsentieren (49 Prozent). In einer späteren Umfrage speziell unter jungen Männern stimmten die Befragten mit 20 Prozentpunkten Vorsprung der Aussage zu, dass »Amerika zu einer Oligarchie und nicht zu einer Demokratie geworden ist«.
Für viele Amerikanerinnen und Amerikaner geht die Frage nach der Demokratie der USA und ihrem Überleben offensichtlich weit über Trump hinaus. Es geht um ein offensichtlich korruptes politisches System, in dem sich ultrareiche Geldgeber in Wahlen einmischen und sie verzerren, in dem die Wall Street und führende Unternehmen die politische Agenda beider Parteien bestimmen und in dem die Bedürfnisse und Anliegen der breiten Bevölkerung für die Gesetzgeberinnen und Gesetzgeber keine Rolle spielen.
»Nur 28 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner mit dem Funktionieren der US-Demokratie zufrieden.«
Mit anderen Worten: Wenn es um die US-Demokratie und ihre Bedrohung geht, teilen viele Amerikanerinnen und Amerikaner Ansichten, die dem sehr ähnlich sind, was Bernie Sanders schon seit langem sagt, und was er auch erst vor wenigen Monaten wiederholte, als er Kamala Harris aufforderte, darüber zu sprechen, »die USA sich zunehmend in Richtung einer oligarchischen Gesellschaftsform bewegen«.
Es gibt noch eine weitere Komponente, nämlich das korrupte politische System der USA, das nicht in der Lage ist, den Menschen die Art von anständigem, steigendem Lebensstandard zu bieten, die einst die Grundidee des amerikanischen Traums war. Laut Gallup sind nur 28 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner mit dem Funktionieren der US-Demokratie zufrieden. Das ist der niedrigste Wert seit Beginn der Erhebung dieser Frage im Jahr 1984. Aber es gab noch einen anderen Zeitpunkt, an dem diese Zufriedenheit einbrach: 1992, nach einer Rezession, die zum Teil durch den Savings-and-Loan-Crash verursacht wurde, der von einer Reihe von öffentlichkeitswirksamen Korruptionsskandalen im Kongress begleitet wurde. (Dieser Zusammenbruch und die staatlichen Rettungsaktionen für die Finanzinstitute, die ihn verursacht hatten, katapultierten zwei Jahre zuvor Bernie Sanders in den Kongress, und zwar zu einer Zeit, in der sich die öffentliche Stimmung gegen amtierende Politikerinnen und Politiker wandte.)
Obwohl Gallup die Frage zwischen 1998 und 2021 nicht stellte, verwies das Meinungsforschungsinstitut auf zwei Umfragen von CNN aus den Jahren 2010 – zwei Jahre nach der Immobilienkrise, als Barack Obama es versäumte, Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer zu retten oder die Verantwortlichen des Crashs zu bestrafen – und 2016. In beiden Jahren lag die Zufriedenheit mit der Demokratie bei 40 Prozent, wobei das zweite Jahr das Jahr war, in dem Trump einen überraschenden Wahlsieg errang, indem er in Hunderte von Bezirken gewann, die sich technisch gesehen noch in einer Rezession befanden. Auch andere Umfragen zeigen, dass das Vertrauen in staatliche Institutionen bis 2010 stark gesunken ist, wobei insbesondere das Vertrauen in die Präsidentschaft zwischen 2009, dem Jahr von Obamas Amtsantritt, und 2010 stark abgenommen hat.
»Es ist keine Überraschung, dass das Vertrauen in die Regierung in wirtschaftlich schwierigen Zeiten sinkt«, erklärte Pew damals. »Historisch gesehen korrespondiert das Vertrauen in die Regierung mit allgemeineren Maßstäben der Zufriedenheit mit dem Zustand der Nation und wirtschaftlicher Belastung.«
All dies bedeutet nicht, dass progressive Politikerinnen und Politiker davor zurückschrecken sollten, die Versuche von Trump oder anderen, Wahlen zu stehlen, demokratische Rechte oder demokratische Institutionen mit Füßen zu treten, anzuprangern. Aber es deutet darauf hin, dass die Rettung der Demokratie mit einer Botschaft verbunden werden muss, die die wirtschaftlichen Sorgen der Wählerinnen und Wähler und ihre Enttäuschung über ein korruptes politisches System artikuliert.
Die Frage für die Demokraten lautet: Ist jemand in der Partei in der Lage, eine solche Botschaft zu vermitteln? Die Frage lohnt sich nicht nur deshalb, weil die Demokraten tief in dieses korrupte System verstrickt sind und sich, wie Harris es tat, auf die massive finanzielle Unterstützung durch genau die Spender verlassen, die nach Ansicht der Wählerinnen und Wähler die Demokratie aushöhlen. Die Frage muss auch aus einem anderen Grund gestellt werden. Denn wenn Sanders aus dem Rennen ist - jemand, der immer wieder unerbittlich gegen diese Kräfte gewettert hat und der seinen politischen Aufstieg auf der lautstarken Ablehnung von Spenden von Milliardären und Konzernen aufgebaut hat -, wer hat dann noch die Glaubwürdigkeit, dies zu tun?
Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.