09. Oktober 2023
Auf dem Parteitag der britischen Labour Party bringen sich Konzernlobbyisten in Stellung, um die Politik einer künftigen Regierung mitzugestalten. Der Parteivorsitzende Keir Starmer präsentiert die Partei als kompetente Alternative für Kapitalinteressen.
Keir Starmer will die Labour Party kapitalfreundlicher machen.
Vor fünf Jahren wurden beim Parteitag der Labour Party unzählige Palästina-Flaggen geschwenkt. Die Teilnehmenden stimmten mit deutlicher Mehrheit für den Vorschlag, britische Waffenexporte nach Israel aus Solidarität mit dem palästinensischen Volk auszusetzen. Beim diesjährigen Treffen in Liverpool werden Waffenhersteller mit offenen Armen empfangen. Der Konzern Boeing – der in diesem Jahr die Lieferung von 25 Kampfflugzeugen an die israelische Luftwaffe zugesagt hat – sponsert die Nebenveranstaltungen des New Statesman. Dass die Partei (vor gar nicht allzu langer Zeit) von Antikriegs-Aktivistinnen geführt wurde, scheint unendlich lange her zu sein. Darüber hinaus sind beim diesjährigen Parteitag zahlreiche Lobbyisten von Ölkonzernen, Banken und anderen Unternehmen zugegen, die die »künftige Regierung« umwerben wollen.
Tatsächlich werden Wirtschaftsvertreter fast ein Drittel der Konferenzteilnehmenden ausmachen. Gewerkschaftsdelegierte hingegen stellen lediglich drei Prozent. Hinzu kommt, dass die Parteiführung den Einfluss der Mitglieder weiter einschränkt. Vor nicht einmal zwei Wochen beschloss die Führungsriege der Partei (das sogenannte National Executive Committee), dass im kommenden Jahr nur noch Anträge zugelassen werden, die als »zeitgemäß« gelten. Dies ist ein weiterer Schritt in Richtung einer totalen Inszenierung. So wird es für die Führungsriege noch einfacher, Ansichten, die nicht mit ihren eigenen übereinstimmen, zu beseitigen.
Nun könnte man sich fragen, welchen Sinn ein Parteitag überhaupt noch hat, wenn den Parteimitgliedern nahezu alle Entscheidungsmacht genommen wird. Ein erneuter Blick auf die Sponsorenliste des Rahmenprogramms bietet Antworten. Für Teilnehmer wie Ovo Energy und SSE wird das Ziel zweifellos darin bestehen, die Rolle der privatwirtschaftlichen Energiebranche und eines kompetitiven Marktes bei der Eindämmung des Klimawandels zu bewerben. Der private Gesundheitsdienstleister Bupa sieht eine Chance, Wes Streeting zu umgarnen, nachdem der Labour-Schattengesundheitsminister bereits eine weitere Privatisierung des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS angedeutet hat. Finanzkonzerne wie TheCityUK, Santander und TSB werden ihrerseits darauf aus sein, ihre Krallen in den von Labour versprochenen 28 Milliarden Pfund schweren »Green Investment Fund« zu schlagen – was für sie wohl ein Leichtes sein dürfte.
Der diesjährige Parteitag wird zeigen, dass Keir Starmers Rechtsruck weit mehr ist als Verrat am Vertrauen der Labour-Mitglieder oder an den Grundprinzipien der Partei. Tatsächlich ist das Thema Politik komplett aus der Labour Party verbannt worden.
In der Politik geht es letztlich um konkurrierende Interessen. Sie ist Ausdruck des Konflikts zwischen den vielen, die den Wohlstand produzieren und den wenigen, die davon profitieren; der Konfrontation zwischen Arbeit und Kapital. Genau diesen Gegensatz will Starmer konsequent ausblenden. Die Labour Party, die gerne den herrschenden politischen Verhältnissen hinterherrennt und sich diesen anpasst, erklärt den Arbeiterinnen und Arbeitern nun faktisch, es sei schlicht nicht ihre Sache oder Aufgabe, in Arbeitskämpfen »Partei zu ergreifen«. Klimaaktivisten werden angewiesen, »nach Hause zu gehen«. Kinder können kein kostenloses Schulessen bekommen, weil »zuerst die ökonomische Glaubwürdigkeit des Landes wiederhergestellt werden« müsse.
»Die Parteiführung versucht überaus erfolgreich, Klassenpolitik aus der Labour Party herauszuhalten.«
Starmer verspricht, »broken Britain« wieder aufzupäppeln, dämpft aber gleichzeitig das Drängen eines Großteils der Bevölkerung nach Veränderung, indem er den Handlungsspielraum der Partei immer weiter einengt. Dabei verweisen führende Labour-Politiker gerne auf »haushaltspolitische Regeln«, ohne zu erläutern, was diese genau beinhalten. Damit tun sie nichts anderes als die amtierende Tory-Regierung unter Rishi Sunak, die sich ihrerseits zu strikter Austerität verpflichtet hat. Labours Wahlversprechen lautet somit: die Lage auf dem Schiff stabilisieren, aber auf keinen Fall den Kurs ändern.
Darüber hinaus geht es um einen grundsätzlichen Wandel in der Art, wie bei Labour Politik gemacht wird: Das traditionelle Modell der Massenpartei wird zerschlagen, Klassenpolitik wird durch einen schnell veränderbaren Klientelismus ersetzt, die Identität der Labour Party wird buchstäblich verscherbelt. Denn die aktuelle Führung ist gewillt, die Abkehr von der Klassenpolitik zu beschleunigen und die Labour Party noch weiter von ihrer früheren Basis in der Arbeiterklasse wegzuführen. Hinter dem Angebot von Labour, »besser zu wirtschaften«, klafft eine ideologische Lücke. Dieser leere Raum kann dann von den Höchstbietenden (also vermutlich denjenigen Konzernen, die die großzügigsten Wahlspenden beisteuern) übernommen und entsprechend der eigenen Interessen gefüllt werden.
In diesem Sommer erfüllte sich Starmers Team einen Traum und traf sich mit Abgeordneten der US-Demokraten. Statt sich also mit Progressiven in den USA auszutauschen, sollte mit dem Treffen deutlich gemacht werden, dass Labour »pro-atlantisch« denkt, und wie die Partei wirtschaftspolitisch ausgerichtet werden soll. Es ist dabei klar, dass die Führung diverse Grundprinzipien der britischen Sozialdemokratie aufgeben will.
Dieser Prozess begann bereits vor Starmers Wahl und wurde insbesondere in der New Labour-Ära der 1990er und 2000er Jahre forciert. Statt »Friss oder stirb« hieß es bei Tony Blair damals »Modernize or die«. Blairs zentralisierter Parteiapparat kappte das, was von der Verbindung zur Arbeiterklasse noch übrig geblieben war, und nahm es dabei als selbstverständlich hin, dass Partei-Aktive ebenso wie die Wählerschaft dies mitmachten und der Partei die Treue hielten. Innerhalb von sieben Jahren nach Beginn seiner Labour-Regierung hatten sich die Mitgliederzahlen bis 2004 jedoch halbiert.
Diesem Trend wurde mit dem später folgenden Aufbruch unter Jeremy Corbyn ein Riegel vorgeschoben: Labours Mitgliederzahl stieg wieder auf deutlich über 500.000 an. Seit diesem jüngsten Höhepunkt haben aber erneut mehr als 170.000 Menschen ihre Parteiausweise abgegeben. Aktuell gibt es rund 385.000 Mitglieder. Starmer macht nun dort weiter, wo Blair aufgehört hat, und tut seit seiner Wahl zum Parteivorsitzenden im Jahr 2020 offenbar alles ihm Mögliche, um die Partei weiter zu schrumpfen. So hat die aktuelle Führungsriege von Labour schrittweise versucht, den Einfluss der Mitglieder möglichst effektiv einzuschränken. Ihr jüngster Vorschlag zur Verkleinerung der Vorstände der Ortsgruppen in den einzelnen Wahlkreisen zeigt, dass diese für die Führung kaum mehr als eine Randnotiz sind. Die Führung will möglichst passive Beitragszahler, die im Wahlkampf ihr Bestes tun, um Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren, aber möglichst wenig Einfluss auf die Parteispitze haben.
Die Folgen von Starmers Ansatz lassen sich in den Finanzen von Labour ablesen. Als er 2020 zum Vorsitzenden gewählt wurde, machten Beiträge der Gewerkschaften 80 Prozent der Parteispenden aus. Im 2. Quartal 2023 waren es hingegen nur noch elf Prozent. Im Gegensatz dazu kommt der Großteil der Unterstützung nun von privaten Spendern. Am Finanzplatz City of London ist man inzwischen mehrheitlich der Ansicht, nach den nächsten Wahlen wäre eine Labour-Regierung das »marktfreundlichste« Ergebnis.
Die Parteiführung versucht überaus erfolgreich, (Klassen-)Politik aus der Labour Party herauszuhalten. Der derzeitige Parteitag verdeutlicht dies. Man fühlt sich an Mark Fisher erinnert, der einst gesagt hatte, in unserer »postpolitischen« Zeit werde der Klassenkampf zwar »weiterhin geführt, aber nur von einer Seite: den Reichen«.
Am Tag seines Einzugs als jüngster Abgeordneter in das Parlament in Westminster wurde Keir Mather zu den Plänen der Labour Party befragt, die vom ehemaligen Tory-Schatzkanzler George Osborne eingeführte Obergrenze für Sozialleistungen beizubehalten. Mit dieser Regelung werden Unterstützungsleistungen auf zwei Kinder pro Familie begrenzt. »Wir werden extrem schwierige Entscheidungen treffen müssen«, erklärte der 25-Jährige dazu.
Tony Benn sagte einst, es gebe zwei Kategorien von Politikern: Wegweiser, die einen klaren, prinzipiengeleiteten Weg aufzeigen, und Wendehälse, die sich opportunistisch am aktuell wehenden Wind orientieren. Mather entschied sich also bereits wenige Stunden nach seiner Wahl für Letzteres. Anfang des Monats hatte sein Namensvetter und Parteivorsitzender Starmer bereits deutlich gemacht, dass die Abschaffung der Zwei-Kind-Grenze zwar dafür sorgen würde, dass rund 250.000 Kinder nicht mehr in Armut leben müssten, die »schwierige« Entscheidung, die Regelung dennoch beizubehalten, aber die richtige sei.
»Der Gedanke, dass man gemeinsam mit seiner Klasse aufsteigt, ist bei Labour verschwunden. Vielmehr soll man als Individuum aus seiner Klasse heraus aufsteigen.«
Leider ist Mather keine Ausnahme. Die Labour-Kandidatinnen und -Kandidaten für die nächsten Wahlen sind offensichtlich bereit, unhinterfragt die Linie der Führung zu übernehmen. Das mag in gewisser Weise professionell sein, aber es zeigt einen Mangel an politischem Bewusstsein und Neugierde. Während Starmer verspricht, seine Regierung werde die bestehende »gläserne Klassendecke« in der Politik durchbrechen, zeigt die Zusammensetzung des Labour-Spitzenpersonals etwas anderes: Viele von ihnen saßen vielleicht nicht als Abgeordnete im Parlament, waren aber bereits als politische Berater in den Korridoren von Westminster unterwegs und haben dort ihr Handwerk gelernt.
Vielmehr hat der rechte Flügel der Partei die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, die sich durch die Änderung der Regelungen zu Mandatszeiten ergibt, um Abgeordnete aus der Arbeiterklasse wie Beth Winter und Mick Whitley abzusetzen. Mit diesen beiden Fällen ist es bereits gelungen, die Socialist Campaign Group, also die drei Dutzend Abgeordneten vom linken Parteiflügel, zu verkleinern.
Starmers Vorstellung von Klasse ist ohnehin in mehrfacher Hinsicht falsch. Denn selbst wenn einzelne Personen die angesprochene »gläserne Decke« innerhalb der Partei durchbrechen sollten, kompensiert dies nicht das Versagen, einen transformativen Wandel zugunsten der gesamten Klasse herbeizuführen. Der Gedanke, dass man gemeinsam mit seiner Klasse aufsteigt, ist bei Labour verschwunden. Vielmehr soll man als Individuum aus seiner Klasse heraus aufsteigen.
Dabei geht man offenbar erneut davon aus, dass die Basis schon mitspielen wird. »Sie können nirgendwo anders hin,« sagte einst Peter Mandelson über diejenigen, die während der Blair-Jahre von New Labour im Stich gelassen wurden. Diese Selbstgefälligkeit findet sich auch in der heutigen Führung. Eine andere denkbare Möglichkeit ist jedoch, dass sich die Teile der traditionellen Labour-Wählerschaft, denen man im Gegenzug für ihre Stimmen wenig bis gar nichts bieten möchte, komplett von der parlamentarischen Politik abwenden.
Mit dieser Abkehr von der Klassenpolitik nährt die Labour-Führung die Entfremdung unter den einzigen gesellschaftlichen Kräften, die nach 13 Jahren Tory-Herrschaft in der Lage wären, die politische Landschaft in Großbritannien zu verändern. Entpolitisierung ist genau das, was die Technokraten bei Labour anstreben. Wenn es ihnen gelingt, den Eindruck in der Öffentlichkeit zu festigen, dass die Wirtschaft nicht von der Politik kontrolliert oder verändert werden kann (oder muss), dann ist ihr Ziel erreicht: Politik im Sinne des Ausfechtens von Konflikten wird vollständig aufgegeben und der Klassenkampf wird zugunsten einer »Neutralität«, die dem Kapital möglichst freie Hand gibt, eingestellt.
Angesichts einer Führung, die die historischen Ziele der Labour Party aufgeben will, ist der linke Parteiflügel nun aufgerufen, eben das zu verteidigen, was Starmer und sein Team abschaffen wollen: die Politik in- und außerhalb der Partei. Eine Labour-Regierung, die nicht kämpft, sondern sich darauf einstellt, den Abbau öffentlicher Leistungen lediglich etwas besser zu verwalten als die konservative Konkurrenz, wird in unserer Ära mit ihren zahlreichen und sich verschärfenden Krisen nicht ausreichen. Andererseits hilft es auch nicht, sich von der Politik und den Möglichkeiten der Regierungsgewalt abwendet – vor allem und gerade deswegen nicht, weil die staatlichen Einrichtungen in den vergangenen zehn Jahren bereits so sehr geschröpft worden sind.
Wie es aktuell aussieht, wird Starmer nach der nächsten Wahl in die Downing Street einziehen – mit Hilfe der Stimmen einer desinteressierten und desillusionierten Bevölkerung, die inzwischen davon überzeugt scheint, dass ein radikaler Bruch mit der geltenden ökonomischen Praxis nicht möglich ist. Diejenigen, die sich innerhalb und außerhalb der Partei gegen dieses Narrativ wehren, müssen sich bemühen, die Fantasie der Menschen zu beflügeln. Die Geschichte lehrt, dass sich mit der Verschärfung der Krisen die Möglichkeiten verbessern können. Unsere Aufgabe ist es, Grundlagen für einen starken Widerstand derjenigen zahlreichen Menschen zu schaffen, die die Labour-Führung ignoriert.
Zu guter Letzt: Bei allem Zynismus und all ihrer Antipolitik ist die Einschätzung der Labour-Spitze, dass Krisen lediglich verwaltet statt gelöst werden sollten, von einer gewissen Plumpheit. Kann man die nicht erfüllten materiellen Interessen, denen Starmer kaum Bedeutung zumessen will, tatsächlich einfach ins Abseits drängen und ignorieren? Diejenigen, die laut Mandelson »nirgendwo anders hingehen können«, suchen sich inzwischen Alternativen, beispielsweise bei Veranstaltungen wie The World Transformed, wo Klimaaktivistinnen neue Allianzen mit Gewerkschaften suchen und über das Potenzial der Klassenpolitik im 21. Jahrhundert debattieren.
Um parteiintern Druck auf die neue Labour-Regierung auszuüben, ist der Aufbau von Allianzen mit denjenigen, die außerhalb der Partei agieren, von entscheidender Bedeutung. Der oben schon zitierte Benn wusste bereits, dass die Linke dann am stärksten ist, wenn sie sowohl in der Partei als auch auf der Straße präsent ist. Dafür braucht es aber mehr »Wegweiser« und weniger »Wendehälse«.
Coll McCail ist eins schottischer Aktivist. Er schreibt für Progressive International und Skotia.