09. September 2024
Kenia ist ein wichtiger afrikanischer Verbündeter der USA und der NATO. Damit das so bleibt, präsentiert die Regierung das Land als stabile Demokratie. Doch die Massenproteste der Bevölkerung gegen Armut und Ungleichheit haben gezeigt, wie inhaltsleer dieses demokratische Bekenntnis ist.
Demonstrierende in Nairobi protestieren gegen eine Steuerreform, die explodierende Lebenshaltungskosten zur Folge hätte, 25. Juni 2024.
Mitte Juni sind in ganz Kenia Zehntausende, überwiegend junge Menschen auf die Straßen gegangen. Beobachter sprachen von einer »Gen-Z-Revolte«, die sich auf mindestens 23 der 47 Bezirke Kenias ausbreitete, einschließlich der Hauptstadt Nairobi sowie der Großstädte Kisumu, Nakuru und Mombasa. Anlass war ein umstrittenes Gesetz, mit dem die Steuern auf zahlreiche Güter des täglichen Bedarfs erhöht worden wären. Dies hätte die gravierende Lebenshaltungskostenkrise im Lande weiter verschärft.
Es war die größte direkte Kampfansage an den kenianischen Staat seit Jahrzehnten. Die Demonstrierenden stürmten das Parlament, was wiederum mit brutaler Polizeirepression mit mehr als fünfzig Toten und hunderten Verletzten beantwortet wurde. Präsident William Ruto lenkte letztlich ein und zog den umstrittenen Gesetzentwurf zurück. Dieser war ursprünglich auf Druck des Internationalen Währungsfonds eingebracht worden: Das Land müsse umgehend zweihundert Milliarden Kenia-Schilling (umgerechnet rund 1,4 Milliarden Euro) aufbringen, um seine Schulden zu begleichen. Laut Ruto werden aktuell 61 Prozent der Steuereinnahmen für ausstehende Schuldenrückzahlungen aufgewendet.
Erst im vergangenen Jahr waren die Kenianerinnen und Kenianer massenhaft auf die Straße gegangen, als die Kosten für Lebensmittel und Benzin in die Höhe schossen. Während der Amtszeit des früheren Präsidenten Uhuru Kenyatta (2013–2022) hatte sich die Staatsverschuldung mehr als vervierfacht; sie liegt inzwischen bei 68 Prozent des BIP. Die Einführung neuer Steuern auf Waren des täglichen Bedarfs wurde der Bevölkerung ursprünglich mit dem Versprechen schmackhaft gemacht, damit würden Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Einrichtungen finanziert. In Wirklichkeit wurde das Geld benötigt, um die internationalen Gläubiger zu bezahlen.
»Die Demonstrierenden setzen ausdrücklich auf Einigkeit und lehnen traditionelle Spaltungen entlang von Stämmen oder politischen Parteien ab. Sie sind von der herrschenden Klasse insgesamt frustriert.«
Als die globalen Zinssätze stiegen, schossen auch die Rückzahlungskosten in die Höhe. Darunter leiden vor allem die Armen in Kenia, die mindestens 60 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben (deren Preise sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt haben). Zwar ist Kenias Wirtschaft im 21. Jahrhundert sowohl brutto als auch pro Kopf deutlich schneller gewachsen als die seiner Nachbarländer, doch angesichts des hohen Drucks, die Schulden zu bedienen, sahen sich mehrere Regierungen gezwungen, die staatlichen Ausgaben zu kürzen. Das verschärft die Ungleichheit im Land seit Jahren.
Während der Proteste 2023 hatte sich der prominente Oppositionspolitiker Raila Odinga auf die Seite der Demonstrierenden gestellt. Offenbar wollte er politisch profitieren, indem er sich als Sprachrohr der wütenden Bevölkerung präsentierte. Bei den Protesten in diesem Jahr verhielt er sich aus zwei Gründen anders: Erstens braucht Odinga aktuell Präsident Ruto und dessen Unterstützung für Odingas Kandidatur für den Vorsitz der Afrikanischen Union. Der zweite, gewichtigere Grund ist, dass die Demonstrierenden ausdrücklich auf Einigkeit setzen und traditionelle Spaltungen entlang von Stämmen – ein Markenzeichen Odingas – oder politischen Parteien ablehnen. Stattdessen setzen die protestierenden Massen in Kenia nun auf einen dezentralen Ansatz von unten. Leitmotiv ist dabei die Eigendefinition als »führerlos, stammeslos, furchtlos«. Die Menschen sind von der herrschenden Klasse insgesamt frustriert, wollen die Insider-Deals der Eliten überwinden und die Politik des Landes von Grund auf neu denken.
Diese Veränderung ist eine ernsthafte Bedrohung für die herrschende Elite, die politische und wirtschaftliche Missstände seit jeher mit Bezug auf Stammes- statt auf Klassendenken formuliert und dann ausgesessen hat. Bisher galt mit Blick auf die einzelnen Stämme der altbekannte Ansatz »Spalte und herrsche«.
In krassem Gegensatz zu dieser Politik, die lange Zeit von Dissens und klaren Hierarchien geprägt war, steht die heutige Jugend Kenias nun für solidarische und gegenseitige Fürsorge. Der Journalist Patrick Gathara stellt fest: »Die Bewegung konnte sich auf Freiwillige verlassen, die sich selbst organisieren, um die Proteste zu unterstützen – sei es mit Lebensmitteln, medizinischer Versorgung, Blutspenden, rechtlicher Unterstützung oder dem Sammeln von Geld, um Familien von Opfern zu helfen und Arztrechnungen zu bezahlen. Dabei gibt es keinerlei zentrale Führung, die [vom Staatsapparat] ins Visier genommen oder beeinflusst werden könnte.«
»Der Präsident versucht, diejenigen zu diskreditieren, die ihr Leben riskieren, um eine echte Demokratie zu erreichen, die sich Gleichheit und materiellen Wohlstand für alle auf die Fahnen geschrieben hat.«
Ruto zeigte einen gewissen Willen, auf die Forderungen der Demonstrierenden einzugehen – namentlich zog er das umstrittene Gesetz zurück, entließ fast sein gesamtes Kabinett (wobei allerdings sechs Minister bald erneut berufen wurden) und rief zu einem nationalen Dialog auf. Gleichzeitig setzte er aber auch das kenianische Militär mit gepanzerten Fahrzeugen ein, um auf den Straßen zu patrouillieren, und versuchte, die Proteste zumindest in Nairobi zu verbieten. Maryanne Nduati schreibt in der kenianischen Zeitschrift The Elephant daher, sie erwarte nicht, dass sich große Änderungen vollziehen werden. Ruto und seine Partei Kenya Kwanza seien weiterhin blind gegenüber den Forderungen von unten und dürften »einen von oben nach unten gerichteten, stammesorientierten, patriarchalen, egozentrischen und zerstörerischen Führungsstil fortsetzen und festigen«.
Und tatsächlich spricht der Mann, der einst bei der kenianischen Jugend mit Verweisen auf sein eigenes bescheidenes Aufwachsen in der Provinz punkten konnte, inzwischen herablassend über die vermeintliche Unwissenheit, Ignoranz und Unerfahrenheit der jungen Leute. Ruto nimmt darüber hinaus an, dass »kriminelle Elemente« die Proteste infiltriert hätten und vermutet, es gebe Einmischung aus dem Ausland (insbesondere durch die US-amerikanische Ford Foundation).
Der Präsident versucht verzweifelt, von seiner eigenen Verantwortung abzulenken. Im Großen und Ganzen will er die weiterhin bestehenden Grundprobleme des Landes und der Menschen übergehen und diejenigen diskreditieren, die ihr Leben riskieren, um das zu erreichen, was der malawische Wissenschaftler Thandika Mkandawire als »substanzielle Demokratie« bezeichnet hätte: eine echte Demokratie, die sich Gleichheit und materiellen Wohlstand für alle auf die Fahnen geschrieben hat und die eine aktive Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger in einem bewusst gestalteten und immer wieder ausdiskutierten System erfordert.
Der Großteil der Berichte zu den Protesten hat sich bisher darauf konzentriert, was die jüngsten Entwicklungen für Präsident Ruto und seine Zukunft im Amt bedeuten könnten. Dabei dürfte dies gar nicht so wichtig sein: Selbst wenn er tatsächlich abgesetzt würde, stünde die nächste Regierung unter dem gleichen Druck der Gläubiger.
Neben den internen Thematiken haben die Proteste in Kenia aber auch Auswirkungen weit über die Grenzen des Landes (und Afrika im Allgemeinen) hinaus. Kenia spielt für gewisse westliche Staaten eine wichtige Rolle: Im Land befindet sich derzeit die größte US-Botschaft in Afrika und es gehört zu den größten Empfängern von US-Militärunterstützung auf dem Kontinent. Zwischen 2010 und 2020 stellte das US-Verteidigungsministerium 400 Millionen Dollar für die Terrorismusbekämpfung zur Verfügung. Das US-Militär operiert von mehreren Stützpunkten im Land aus, darunter der Marinestützpunkt in Manda Bay, der bereits als Startpunkt für Drohnenangriffe in Somalia und im Jemen gedient hat. Verteidigungsminister Lloyd Austin besuchte Kenia im September 2023, wo er ein fünfjähriges Abkommen über weitere Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich mit der kenianischen Regierung unterzeichnete. Dabei geht es vor allem um den Kampf gegen die militant-islamistische Gruppe al-Shabaab im benachbarten Somalia.
»US-Präsident Joe Biden betonte, Kenia sei ein überaus wichtiger Nicht-NATO-Verbündeter. Damit sollte sicherlich auch die kenianische Bereitschaft honoriert werden, eine von den USA unterstützte Polizeiintervention in Haiti zu leiten.«
Bei einem Staatsbesuch von Ruto im Weißen Haus Ende Mai 2024 betonte US-Präsident Joe Biden, Kenia sei ein überaus wichtiger Nicht-NATO-Verbündeter. Damit sollte sicherlich auch die kenianische Bereitschaft honoriert werden, eine von den USA unterstützte Polizeiintervention in Haiti zu leiten. Einige Beobachterinnen und Beobachter wiesen außerdem auf die ebenso wichtige Entscheidung der kenianischen Regierung hin, sich der Operation Prosperity Guardian anzuschließen. Dabei handelt es sich um eine von den USA geführte multinationale Koalition, die die Handelsströme im Roten Meer gegen die Blockadeaktionen der Houthis im Jemen schützen soll. Kenias Beteiligung daran wird umso wichtiger, da andere Staaten der Region – darunter Ägypten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Dschibuti – nichts mit der Militärkooperation zu tun haben wollen.
Die wachsende Bedeutung Kenias für die USA und die NATO hat zur Folge, dass die westlichen Mächte keine allzu unsichere politische Situation im Land riskieren möchten. Es ist womöglich das einzige Druckmittel, das die afrikanische Nation, die lange Zeit als Musterbeispiel für Stabilität in der Region galt, gegenüber ihren Gläubigern hat. So haben US-Beamte zwar die Polizeigewalt gegen Demonstranten in Kenia kritisiert, gingen aber aus strategischen Gründen nicht so weit, das Land als »Failed State« zu bezeichnen.
Dabei ist man sich in der US-Führung seit langem der polizeilichen Repression und der Menschenrechtsverletzungen in Kenia bewusst. Die Sicherheitspartnerschaft mit der Regierung in Nairobi ist aber offensichtlich wichtiger. Tatsächlich kündigte die Regierung Biden während der Reise von Präsident Ruto nach Washington an, die kenianischen Polizeikräfte würden zusätzliche Unterstützung in Höhe von sieben Millionen Dollar erhalten.
Auf dem Papier ist Kenia eine bürgerliche Demokratie. Allerdings waren die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Staatsgewalt seit der Unabhängigkeit des Landes stets unscharf – ein Nachklang der Kolonialzeit. Durch die Beteiligung am sogenannten »Krieg gegen den Terror« wurden diese Grenzen weiter verwischt. In den vergangenen Monaten und Jahren wurden immer wieder Menschen entführt oder außergerichtlich getötet. Die Führung in beiden Machtzentren könnte den »Krieg gegen den Terror« womöglich auf die oppositionelle Öffentlichkeit ausweiten.
»Angesichts der sicherheitspolitischen Rolle, die Kenia inzwischen in Somalia, Haiti und am Roten Meer spielt, wird das politische Establishment in den USA wahrscheinlich gewillt sein, mit Präsident Ruto zusammenzuarbeiten, um die Proteste zu unterdrücken.«
Mit Unterstützung einiger in Washington ansässiger PR-Firmen ist der kenianische Staat inzwischen geschickt darin geworden, sich vor allzu viel internationaler Kontrolle und Kritik zu schützen. Kenia hat sich recht erfolgreich als stabile Demokratie und zuverlässiger Partner präsentiert, der sich vom stereotypen, von Gewalt, Instabilität und Armut geplagten afrikanischen Land abhebt. Die PR-Investitionen (die bereits seit über einem Jahrzehnt laufen) scheinen sich ausgezahlt zu haben. Insbesondere nach der letzten großen politischen Krise – der Gewaltwelle nach den Wahlen 2007/2008, bei der 1.100 Menschen ums Lebens kamen und mehr als eine halbe Million vertrieben wurden – konzentrierte sich die kenianische Regierung auf das Aufbauen einer »Marke Kenia« und beauftragte US-Lobbyfirmen mit der informationstechnischen Schadensbegrenzung.
Angesichts der sicherheitspolitischen Rolle, die Kenia inzwischen in Somalia, Haiti und am Roten Meer spielt, wird das politische Establishment in den USA wahrscheinlich gewillt sein, mit Präsident Ruto zusammenzuarbeiten, um die Proteste zu unterdrücken und das Image des Landes als friedlich und stabil zu erhalten. Vor dem Hintergrund der Angst des Westens vor neuer Konkurrenz durch China und Russland, schlechter werdenden Beziehungen zwischen den USA und Äthiopien sowie dem kürzlichen Wegfall des Niger als Sicherheitspartner in der Sahelzone, werden die USA umso mehr bemüht sein, ihre bestehenden Partnerschaften auf dem afrikanischen Kontinent zu sichern.
Die Hauptthemen für Kenia selbst dürften weiterhin ein Schuldenerlass sowie Souveränität in den Bereichen Nahrungsmittel, Finanzwesen und erneuerbare Energien sein. Die Situation vor Ort wird aber auch durch die beschriebenen internationalen Dynamiken geprägt werden. Für Kenias junge Generation sind die Herausforderungen somit multidimensional; sie umfassen sowohl interne als auch externe Einflussfaktoren.
Eines ist dabei aber klar: Die kenianische Jugend hat einen neuen Geist der Revolte auf dem ganzen Kontinent entfacht. Sie schafft es, der bisher inhaltsleeren Rhetorik der Eliten über »Demokratie« Substanz und Bedeutung einzuhauchen. Solange die zu Ungleichheit führenden Bedingungen fortbestehen, werden auch die Proteste anhalten oder sich erneut entzünden.
Samar Al-Bulushi arbeitet an der University of California, Irvine und ist Autor des demnächst erscheinenden Buchs War-Making as Worldmaking: Kenya, the United States, and the War on Terror.