17. Februar 2025
Kevin Kühnert erntete mit seiner letzten Rede großen Beifall. Dabei offenbarte er, dass er sich vor allem als Staatsmann versteht, der im Zweifel auch gegen den Willen der Bevölkerung regiert.
Im Zweifel für die »Staatsräson«: Kevin Kühnert bei seiner Rede im Bundestag, 11. Februar 2025.
Am vergangenen Dienstag hielt Kevin Kühnert seine vorerst letzte Rede im Bundestag. Er verließ das Parlament als staatstragender Politiker, der so gut im Betrieb angekommen ist, dass er damit begann, die Opposition zu loben und sich zumindest für einen Moment auch ihre Zustimmung abzuholen: Nein, FDP und CDU/CSU seien keine Nazis oder Rassisten und man dürfe ihnen diesen Vorwurf nicht machen. Nachvollziehbar, schließlich will seine Partei nach der Wahl ja wieder in eine Regierung mit diesen Parteien, da wäre es eher schlecht, wenn es sich um Nazis handeln würde.
Inhaltlich warf Kühnert in seiner Rede Friedrich Merz vor, bei den Abstimmungen mit Stimmen der AfD einen »bundesrepublikanischen Konsens« verlassen zu haben. Dieser Konsens besteht für Kühnert darin, dass die staatstragenden Parteien »Integrität über Opportunität« zu stellen haben. Für diese Formel erhielt Kühnert Sonderapplaus.
Integer und nicht opportunistisch sei es, dass sich die bundesrepublikanischen Parteien in wichtigen Fragen für »das Richtige« entschieden hätten, auch wenn es für die entsprechenden Positionen zum jeweiligen Zeitpunkt keine Mehrheiten in der Bevölkerung gegeben habe. Kühnert nennt drei Beispiele: »Die Sicherheit Israels, die Westbindung und die Aufrüstung«. Integrität besteht für Kühnert also darin, sich in entscheidenden politischen Fragen nicht auf eine demokratische Willensbildung zu verlassen, sondern sie dem politischen Prozess zu entziehen. Die Rolle und Funktion der Parteien ist es dann nicht mehr, den in ihnen aggregierten Willen ihrer Mitglieder durch Abstimmung zum Ausdruck zu bringen, sondern ihren Wählerschichten die von den Parteien verkörperte »Staatsräson« zu vermitteln, nicht aber die Inhalte der »Staatsräson« zum Gegenstand einer politischen Debatte zu machen.
Kühnert verlässt das Parlament als ein im Zentrum angekommener Repräsentant des Staates. Er behauptet gar nicht, dass sein Mandat darin bestehe, einen Wählerauftrag zu erfüllen, sondern er sieht sich in der Rolle, den Staatsauftrag an die Wähler zu vermitteln. So zutreffend Kühnert seine tatsächliche Rolle beschreibt, so stark kontrastiert dieses Rollenverständnis mit den staatsorganisatorischen Vorgaben des Grundgesetzes. Denn das Grundgesetz hält die demokratische Steuerung der Politik in Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes als einer dem sogenannten Ewigkeitsgebot unterfallenden Bestimmung fest. Das heißt, dass jede Festsetzung von politischen Zwecken und Zielen dem demokratischen Prozess offenstehen muss und sich diejenigen, die vorübergehend die Staatsgewalt ausüben, dabei zwar an die höherrangigen Vorschriften des Grundgesetzes halten müssen, aber inhaltlich keiner weiteren Einschränkung unterliegen.
»Kühnert weiß überhaupt nicht, wie Politik als Interessenvertretung für realexistierende Menschen aussehen soll. Sein Erfolgsmodus war es, durch schlagzeilenfähige Aussagen Ganzseitenberichte in der Presse zu erhalten.«
Weder »die Sicherheit Israels« noch die »Westbindung« oder die »Aufrüstung« sind dem politischen Prozess prinzipiell entzogen. Indem sich Kühnert auf einen »bundesrepublikanischen Konsens« beruft, offenbart er schlicht, dass es einen »Konsens« der regierenden Parteien gibt, bestimmte Inhalte auch ohne Verfassungsauftrag im Zweifel gegen den Willen des souveränen Wahlvolks durchzusetzen. Er offenbart damit, dass die regierenden Parteien dem Demokratieprinzip ungeschriebene Grenzen gesetzt haben, dass sie sich die Letztentscheidungsgewalt über den politischen Prozess anmaßen. Das ist, was hinter dem Begriff »Staatsräson« steckt.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Kühnert sich als derart undemokratisch offenbart und die Staatsräson der deutschen Regierungsparteien über das Grundgesetz stellen will. Kühnert war, anders als es das Berliner Politboulevard lange dargestellt hat, nie in irgendeiner bedeutungsvollen Weise »links«. Er stammt aus einem Elternhaus von abgesicherten Staatsangestellten, hat Abitur in Berlin gemacht und danach an der FU Berlin studiert. Er war Schülersprecher und Vorsitzender der Jusos. Jede Funktion, die er innehatte, war Folge von rhetorischen Begabungen und einer guten Selbstdarstellung, keine einzige jedoch von seiner persönlichen Einbringung in sozialen Auseinandersetzungen abhängig oder davon, dass er das Interesse von Menschen organisiert hätte.
Kühnert weiß überhaupt nicht, wie Politik als Interessenvertretung für realexistierende Menschen aussehen soll. Sein Erfolgsmodus war es, durch schlagzeilenfähige Aussagen bebilderte Ganzseitenberichte im Tagesspiegel zu erhalten. Der substanzlose Unsinn, der dabei mitunter rauskam – etwa die legendäre Idee, innerhalb einer kapitalistischen Weltwirtschaft und internationaler Produktions- und Absatzketten BMW zu verstaatlichen –, wurde unzutreffend als »links« apostrophiert. Dabei waren diese Positionen nicht nur Ausdruck davon, dass der Politikwissenschaftler Kühnert das Seminar zur »Kritik der politischen Ökonomie« nicht besucht hat, sondern dass er auch die frühere Basis seiner Partei, die arbeitenden Menschen, nicht kennt und deren Wünsche nicht versteht.
Wenn ich keine soziale Basis habe, die mir Orientierung gibt und in meiner Funktion nicht der verlängerte Arm eines organisierten Interesses bin, dann fülle ich irgendwann schlicht das Amt aus, das ich innehabe. Anders gesagt: Wenn ich keine Basis habe, der gegenüber ich loyal sein kann, dann bin ich loyal gegenüber dem Verband, der mich bezahlt. Bei Kühnert war das zuerst die Partei und dann der Staat. Das hat Kühnert erst zum treuen Parteivertreter und nun zum paradetypischen Staatsmann gemacht. Der letzte Vorwurf, den Kühnert im Bundestag implizit an Friedrich Merz richtete, lautet: Die CDU möge nicht vergessen, dass sie zu gegebener Zeit wieder die Sozialdemokraten benötigen wird, um die bundesrepublikanische Staatsräson gegen die Mehrheit zu verteidigen. Merz möge sich deshalb nicht populistisch verrennen, es gelte Größeres zu bewahren. Der Applaus, den Kühnert für diesen rhetorischen Kniff erhielt, ist die Akklamation, mit der die Wählerinnen und Wähler ihre eigene Entmachtung bejubeln.
Andreas Engelmann ist Professor für Rechtswissenschaft an der University of Labour und Bundessekretär der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ).