13. April 2024
Deutschland beruft sich auf Staatsräson, weil sich die bedingungslose Unterstützung Israels mit Recht und Moral nicht legitimieren lässt. Der Historiker Enzo Traverso warnt: Die Instrumentalisierung der Geschichte bedroht Demokratie und Holocaustgedenken.
Die Flaggen Deutschlands, der EU und Israels wehen vor dem Reichstag in Berlin, 11. Oktober 2023.
Wer dachte, der Orientalismus sei in der Welt des 21. Jahrhunderts tot, hat sich geirrt: Die Grundannahmen, die Edward Said vor mehr als vierzig Jahren analysierte, sind auch heute noch überall sichtbar.
Praktisch alle unsere Staatschefs sind nach Tel Aviv gepilgert, um Benjamin Netanjahu ihre bedingungslose Unterstützung für Israel zu versichern. Es kann keine Diskussion geben, sagen sie uns, wenn Moral und Zivilisation auf dem Spiel stehen. Selbst jetzt, da diese althergebrachten Überzeugungen in der westlichen Öffentlichkeit durch den tagtäglichen Anblick von Hunger und Massakern an Kindern zutiefst erschüttert werden, verbinden sie ihre Aufrufe zur Mäßigung und zur Humanität mit der erneuten Bekräftigung von Israels Status als Opfer, das sich nun einmal verteidigen müsse.
Niemand erwähnt dabei das Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser, sich gegen eine jahrzehntelang andauernde Aggression zu verteidigen. Während Israel die Lieferung von humanitärer und medizinischer Hilfe auf dem Landweg behindert, unterstützen die westlichen Regierungen (mit wenigen Ausnahmen) unerschütterlich weiterhin eine genozidale Macht – sowohl finanziell als auch militärisch.
Nach dem 7. Oktober 2023 hat sich die Toleranzschwelle gegenüber Israel nochmals deutlich erhöht – die durch Bomben getöteten Kinder werden nicht mehr länger beziffert. Die Hamas hat am 7. Oktober rund 1.200 Israelis getötet, darunter 800 Zivilistinnen und Zivilisten. Das israelische Militär hat, Stand jetzt, etwa 33.000 Palästinenserinnen und Palästinenser umgebracht, darunter nicht mehr als 5.000 Hamas-Kämpfer.
»Diese westlichen Mächte könnten den Krieg in wenigen Tagen beenden, aber sie sind nicht in der Lage, einer korrupten, rechtsradikalen Regierung von Kriegsverbrechern ihre Unterstützung zu verweigern, weil diese Regierung ›eine von ihnen‹ ist.«
Alles ist geplant: die Zerstörung von Straßen, Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Museen, Denkmälern und sogar Friedhöfen, die von Bulldozern planiert werden; die Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Strom, Gas, Treibstoff und Internet; die Verweigerung des Zugangs der Vertriebenen zu Nahrungsmitteln und Medikamenten; die Evakuierung von mehr als 1,5 Millionen der 2,3 Millionen Menschen, die in Gaza leben, in den Süden des Streifens, wo sie erneut bombardiert werden; Krankheiten und Epidemien. Da die israelischen Streitkräfte nicht in der Lage sind, die Hamas komplett auszuschalten, sind sie dazu übergegangen, die palästinensische Intelligenz auszulöschen: Gelehrte und Forschende, Ärztinnen, Techniker, Journalistinnen, Intellektuelle und Schriftstellerinnen.
Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen – immerhin ein Produkt der westlichen Weltordnung – hat eine Warnung herausgegeben, dass die palästinensische Bevölkerung in Gaza einem organisierten und unerbittlichen Gemetzel ausgesetzt ist, dabei komplett vertrieben und der grundlegendsten Überlebensbedingungen beraubt wird. Der israelische Krieg in Gaza nimmt die Züge eines Völkermordes an. Der Orientalismus scheint aber immer noch stärker zu sein als das Erbe der Aufklärung und des Rechts.
Als der Orientalismus entstand, galten Jüdinnen und Juden im Westen als undankbare Gäste: Sie wurden ausgegrenzt, gedemütigt, verachtet, an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Selbst die prominentesten und mächtigsten Juden waren stigmatisiert und galten als aufgestiegene Sonderlinge. Sie verkörperten das kritische Gewissen in Europa.
Heute haben sie die frühere »Grenze« überschritten und sind inzwischen Teil einer sogenannten jüdisch-christlichen Zivilisation geworden – geliebt und bewundert von denen, die sie einst verachteten und verfolgten. In Europa ist der Kampf gegen den Antisemitismus zu dem Banner geworden, hinter dem sich alle postfaschistischen bis hin zu radikal rechten Bewegungen versammeln können. Sie sind gewillt, zusammen gegen die »islamische Barbarei« zu kämpfen – manchmal noch bevor sie ihre alten antisemitischen Vorurteile ganz abgelegt haben.
1896 veröffentlichte Theodor Herzl den Grundlagentext des Zionismus: Der Judenstaat. In diesem Werk bezeichnet er den zukünftigen jüdischen Staat wie folgt: »Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.« Im Jahr 2024 bleiben die Bedingungen im Wesentlichen unverändert, aber Netanjahu wird heute viel mehr respektiert und gehört als Herzl vor mehr als einem Jahrhundert. Herzl bettelte regelrecht um die Hilfe gewisser europäischer Mächte; Netanjahu hat kein Problem damit, ihnen gegenüber arrogant und undankbar aufzutreten.
Israel verstößt seit Jahrzehnten gegen das Völkerrecht und begeht aktuell in Gaza einen Völkermord mit Waffen, die von den USA sowie mehreren europäischen Ländern zur Verfügung gestellt werden. Diese westlichen Mächte könnten den Krieg in wenigen Tagen beenden, aber sie sind nicht in der Lage, einer korrupten, rechtsradikalen Regierung von Kriegsverbrechern ihre Unterstützung zu verweigern, weil diese Regierung »eine von ihnen« ist. Daher beschränken sie sich auf Empfehlungen und Appelle zur Mäßigung.
»Die Staatsräson spielt auf einen ›Ausnahmezustand‹ an, auf die unmoralische Seite eines Staates, der gegen seine eigenen Gesetze verstößt.«
Alle großen westlichen Medien haben sich vorbehaltlos einem zionistischen Narrativ angeschlossen, das schamlos die Geschichte der einen Seite zelebriert und die der anderen ignoriert oder leugnet. In Europa und den USA wird Israel, wie Said einmal bemerkte, nicht als Staat behandelt, sondern eher als »eine Idee oder eine Art Talisman«. Diese Vorstellung habe man verinnerlicht, um auch die schlimmsten Übergriffe im Namen hoher moralischer Prinzipien zu legitimieren.
Jahrzehntelange militärische Besetzung, Schikane und Gewalt erscheinen so als Akte der Selbstverteidigung eines bedrohten Staates – und der palästinensische Widerstand dagegen als Ausdruck antisemitischen Hasses. Aus einer orientalistischen Perspektive neu interpretiert, entfaltet sich die jüdische Geschichte als ein einziges langes Martyrium, auf das irgendwann die wohlverdiente Erlösung wartet. Im Gegensatz dazu werden die Palästinenserinnen und Palästinenser zu einem Volk ohne Geschichte.
Pro-palästinensische Studierende werden in einem Großteil der Mainstream-Medien als fanatische Antisemiten dargestellt. In einer Reihe von Universitäten wurden sie wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen auf schwarze Listen gesetzt oder mit Strafen bedroht. In Deutschland und Italien wurden Kundgebungen brutal aufgelöst; der französische Premierminister Gabriel Attal kündigte harte Maßnahmen gegen Pro-Palästina-Aktivisten an.
Die Erinnerung an den Holocaust wird in der EU geradezu rituell, wie eine Zivilreligion, zelebriert. Die Verteidigung Israels ist, wie Angela Merkel und Olaf Scholz wiederholt bekräftigt haben, »Staatsräson« der Bundesrepublik Deutschland. Heute beruft man sich in Deutschland auch auf die Erinnerung an den Holocaust, um das Massaker in Gaza zu rechtfertigen. Seit dem 7. Oktober herrscht im Land eine regelrechte Hexenjagd-Atmosphäre gegen jede Form der Solidarität mit Palästina.
Allerdings ist Deutschland nur ein Beispiel für eine umfassendere Tendenz. Daher haben in westlichen Staaten, vor allem in den USA, viele Jüdinnen und Juden ihre Stimme erhoben, um zu sagen: »Nicht in meinem Namen«.
»Wenn die Bundesrepublik Israel unter Berufung auf die eigene Staatsräson unterstützt, gesteht sie damit implizit die Unmoral ihrer Politik ein.«
Die Verweise auf die Staatsräson sind ebenso sonderbar wie aufschlussreich, da sie ein implizites Eingeständnis moralischer und politischer Ambiguität darstellen. Wer sich mit politischer Theorie befasst, den erinnert dieses Konzept an die dunklen und verborgenen Seiten der politischen Macht. Gewöhnlich wird »Staatsräson« mit dem Denken von Niccolo Machiavelli in Verbindung gebracht (auch wenn der Begriff selbst nicht in seinen Schriften auftaucht). Raison d'état bedeutet letztlich die Übertretung des Rechts im Namen übergeordneter Gebote der eigenen staatlichen Sicherheit.
Unter Berufung auf die Staatsräson planen beispielsweise Geheimdienste von Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben, die Hinrichtung von Terroristen und anderen Personen, die die eigene soziale und politische Ordnung bedrohen. Von Machiavelli bis Friedrich Meinecke und Paul Wolfowitz spielt die Staatsräson auf einen »Ausnahmezustand« an, auf die unmoralische Seite eines Staates, der gegen seine eigenen Gesetze verstößt. Hinter der Staatsräson steht am Ende nicht die Demokratie, sondern Guantanamo.
Wenn die Bundesrepublik Israel unter Berufung auf die eigene Staatsräson unterstützt, gesteht sie damit implizit die Unmoral ihrer Politik ein. Deutschlands bedingungslose Unterstützung Israels gefährdet heute die demokratische Kultur, die Bildung und die Erinnerung, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte – und insbesondere nach dem Historikerstreit Mitte der 1980er Jahre – aufgebaut wurden.
Diese Art von Politik wirft einen dunklen Schatten auf Gedenkstätten wie das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins, das nun nicht mehr als Ausdruck eines von Qual und Schuld geprägten Geschichtsbewusstseins und eines tugendhaften Erinnerns erscheint, sondern als eindrucksvolles Symbol der Heuchelei.
1921 schrieb der französische Historiker Marc Bloch einen interessanten Essay über die Verbreitung von Falschnachrichten in Kriegszeiten. Er beobachtete, wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs, kurz nach der Invasion des neutralen Belgiens, die deutschen Zeitungen unzählige Berichte über angebliche Gräueltaten der Gegner veröffentlichten. »Die Falschmeldung entsteht immer aus kollektiven Vorstellungen, die bereits vor ihrer Entstehung existieren«, so Bloch. Er zieht daraus die Schlussfolgerung: »Die Falschnachrichten sind der Spiegel, in dem das ›kollektive Gewissen‹ seine eigenen Eigenschaften betrachtet.«
Die Lektüre westlicher Zeitungen nach dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober mag daher für Historiker ein seltsames Déjà-vu-Gefühl mit sich gebracht haben. Diesmal wurden die ältesten antisemitischen Legenden aber plötzlich gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser mobilisiert. Bloch betonte, dass Falschnachrichten und Legenden schon immer das Leben der Menschheit erfüllt haben. Viele Historiker der Inquisition und des Antisemitismus haben sorgfältig beschrieben, welche Rolle beispielsweise der Mythos vom »Ritualmord« vom Mittelalter bis zum späten zaristischen Russland spielte. Das Gerücht, dass Juden christliche Kinder töteten, um deren Blut für rituelle Zwecke zu verwenden, war meist weit verbreitet, bevor es zu Pogromen kam.
Nach dem 7. Oktober veröffentlichten die meisten westlichen Medien, darunter auch viele angesehene und vermeintlich seriöse Zeitungen, Nachrichten über schwangere Frauen, die von Hamas-Kämpfern ausgeweidet, oder Kindern, die geköpft oder in Öfen gesteckt worden seien. Diese von der israelischen Armee verbreiteten Erfindungen wurden sofort als Tatsachen akzeptiert (so haben sowohl Joe Biden als auch Antony Blinken sie in Reden wiederholt). Die Widerlegung dieser Geschichten wurde einige Wochen später hingegen nur am Rande eingeräumt. Mythen sind performativ, wie Bloch bemerkte: Sobald ein Fehler oder eine Falschmeldung zur Ursache von Blutvergießen wird, wird diese Falschmeldung als »unwiderrufliche« Wahrheit etabliert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg leugneten viele kommunistische Widerstandskämpfer, die in Nazi-KZs deportiert worden waren, die Existenz sowjetischer Gulags. Sie hatten einen mächtigen Glaubenssatz tief verinnerlicht: Die UdSSR ist ein sozialistisches Land; Sozialismus bedeutet Freiheit; daher kann es dort keine Konzentrationslager geben; diese müssen ein Produkt der US-Propaganda sein.
»Der Kampf gegen den Antisemitismus dürfte immer schwieriger werden, wenn er so ostentativ missverstanden, verfremdet, als Waffe eingesetzt und trivialisiert wird.«
Eine ähnliche Leugnung ist heute unter Menschen weit verbreitet, die überzeugt sind, dass Israel als Land, das aus der Asche des Holocaust hervorgegangen ist, keinen Völkermord begehen kann. In ihren Augen ist Israel eine echte Demokratie und die Besetzung der palästinensischen Gebiete eine notwendige Schutzmaßnahme gegen eine lebensbedrohliche Gefahr. Gläubige schaffen sich ihre eigenen Wahrheiten – Wahrheiten, die den Glauben nicht erschüttern. Insofern unterscheiden sich die »wahren« zionistischen Gläubigen nicht sonderlich von den früheren »stalinistischen Gläubigen«.
Westliche Medien unterfüttern Vorurteile, indem sie Lügen weiterverbreiten. Der Orientalismus ist der Nährboden für Mythen, Leugnungen und Falschnachrichten. So wurde ein paradoxes Narrativ entwickelt, das die Realität umkehrt und Israel vom Unterdrücker in ein Opfer verwandelt. Diesem Narrativ zufolge will die Hamas Israel zerstören, ist Antizionismus gleichbedeutend mit Antisemitismus und leugnet das Existenzrecht Israels, und hat der Antikolonialismus endlich sein antiwestliches, fundamentalistisches und antisemitisches wahres Gesicht gezeigt.
Der Kampf gegen den Antisemitismus dürfte immer schwieriger werden, wenn er so ostentativ missverstanden, verfremdet, als Waffe eingesetzt und trivialisiert wird. Ja, es besteht sogar die Gefahr, dass der Holocaust selbst trivialisiert wird: Ein völkermörderischer Krieg, der im Zeichen des Gedenkens an den Holocaust geführt wird, kann diese Erinnerung selbst nur beleidigen und diskreditieren. Die Erinnerung an die Shoah als eine Art »Zivilreligion« – die ritualisierte Sakralisierung von Menschenrechten, Antirassismus und Demokratie – droht dann, ihren pädagogisch-erzieherischen Wert zu verlieren.
In der Vergangenheit hat diese Zivilreligion als Paradigma für den Aufbau von Erinnerung an andere Verbrechen und Völkermorde gedient, von den Militärdiktaturen in Lateinamerika über den Holodomor in der Ukraine bis hin zum Völkermord an den Tutsi in Ruanda. Wenn diese Erinnerung in Zukunft mit dem Davidstern, den eine völkermörderische Armee trägt, gleichgesetzt würde, hätte das verheerende Folgen.
Seit Jahrzehnten ist die Erinnerung an den Holocaust eine treibende Kraft für Antirassismus und Antikolonialismus, die gegen alle Formen von Ungleichheit, Ausgrenzung und Diskriminierung ankämpfen. Würde diese Gedenkkultur entwertet, kämen wir in eine Welt, in der alles gleich ist und Worte ihren Wert verloren haben. Unsere Vorstellung von Demokratie, die nicht nur ein System mit Gesetzen, sondern auch eine Kultur, eine Erinnerung und ein historisches Erbe ist, würde geschwächt werden. Und der Antisemitismus, der im historischen Vergleich rückläufig ist, dürfte dramatisch wiedererstarken.
Die Hamas-Anschläge vom 7. Oktober waren grausam und traumatisierend. Genau darauf waren sie ausgelegt. Die Angriffe sind durch nichts zu rechtfertigen. Doch sie sollten interpretiert und verstanden, nicht nur verurteilt und schon gar nicht mythisiert und mit einer Aura teuflischster Gräueltaten umgeben werden.
Es gibt eine alte Debatte über die Dialektik zwischen Ziel und Mitteln. Wenn das Ziel die Befreiung eines unterdrückten Volkes ist, gibt es Mittel, die mit einem solchen Ziel unvereinbar sind: Freiheit verträgt sich nicht mit dem Töten von Zivilisten. Diese unangemessenen und verabscheuungswürdigen Mittel wurden allerdings im Zuge eines legitimen Kampfes gegen eine illegale, unmenschliche und nicht hinnehmbare Besatzung eingesetzt.
Der 7. Oktober war das extreme Resultat von jahrzehntelanger Besatzung, Kolonialisierung, Unterdrückung, Demütigung und täglichen Schikanen. Alle friedlichen Proteste wurden blutig niedergeschlagen, die Osloer Abkommen wurden von Israel stets sabotiert, und die völlig machtlose Palästinensische Autonomiebehörde agiert im Westjordanland lediglich als die Hilfspolizei des israelischen Militärs. Israel wollte mit den arabischen Staaten auf dem Rücken der Palästinenser einen »Frieden aushandeln«. Die israelische Führung bekannte sich dabei offen zu dem Ziel, die Siedlungen im Westjordanland weiter ausbauen zu wollen.
Dann kam die Hamas-Attacke. Sie offenbarten die Verwundbarkeit Israels, das offenbar innerhalb seiner eigenen Grenzen angegriffen werden kann. Durch die Hamas erschienen die Palästinenser plötzlich fähig, anzugreifen und nicht nur zu leiden. Die palästinensische Gewalt hat eine gewisse Kraft der Verzweiflung. Man muss diese Verzweiflung nicht teilen, aber man sollte ihre Ursachen und ihre Wurzeln verstehen.
Bisher stand jedoch jeder Versuch, dies zu verstehen, im Schatten einer absoluten und unerschütterlichen Verurteilung der Hamas-Angriffe, die ihrerseits schnell zum Vorwand wurde, einen Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung zu legitimieren, der weitaus tödlicher ist als die Attacke der Hamas. Ebenso erklärt diese Art von Reaktion auch die anhaltende Popularität und die Unterstützung für die Hamas (die sicherlich nicht nur auf ihre Gewalttätigkeit reduziert werden kann), insbesondere unter jungen Palästinensern im Westjordanland.
»Heute steht nicht die Existenz Israels auf dem Spiel, sondern das Überleben des palästinensischen Volkes.«
Keine Frage: Zivilistinnen und Zivilisten zu ermorden und zu verletzen, hat der palästinensischen Sache geschadet. Die Verwerflichkeit dieser Mittel stellt jedoch nicht die grundsätzliche Legitimität des palästinensischen Widerstands gegen die israelische Besatzung infrage – eines Widerstands, der auch den Rückgriff auf Waffen impliziert. Terrorismus ist in asymmetrischen Kriegen häufig die Waffe der Armen gewesen. Die Hamas entspricht durchaus der klassischen Definition von »Partisanen«: irreguläre Kämpfer mit einer starken ideologischen Motivation, verwurzelt in einem Gebiet und einer Bevölkerung, die diese Kämpfer schützt.
Die israelische Armee nimmt »Gefangene«, darunter Teenager und Familienangehörige von Kämpfern, deren Untersuchungshaft Monate oder Jahre dauern kann, während die Hamas »Geiseln« nimmt. Die Hamas »feuert Raketen ab«, Israel verursacht bei seinen Militäroperationen »Kollateralschäden«. Der Hamas-Terrorismus ist lediglich ein Gegenpol zum israelischen Staatsterrorismus. Terrorismus ist immer inakzeptabel. Doch der Terrorismus der Unterdrückten wird in der Regel durch den Terrorismus ihres Unterdrückers (der meist weitaus schlimmer ist) hervorgerufen.
Der Résistance-Kämpfer Jean Améry schrieb einst, als er von den Nazis in der Festung Breendonck gefoltert wurde, habe er seiner Würde eine »konkrete soziale Form« geben wollen, indem er »in ein menschliches Gesicht« schlägt – natürlich das Gesicht der Folterer. Eine der schwierigsten Aufgaben, so stellte er 1969 fest, bestehe darin, eine sterile, rachsüchtige Gewalt in wirklich befreiende, revolutionäre Gewalt umzuwandeln. Seine Argumente, die sich auf das Werk von Frantz Fanon beziehen, verdienen es, ausführlich zitiert zu werden:
»Freiheit und Würde müssen mit Gewalt errungen werden, um Freiheit und Würde zu sein. Warum? Ich habe keine Angst, hier das unantastbare und abscheuliche Konzept der Rache anzuführen, das Fanon vermeidet. Die rachsüchtige Gewalt schafft im Gegensatz zur unterdrückerischen Gewalt Gleichheit in der Negativität: im Leiden. Repressive Gewalt ist eine Leugnung dieser Gleichheit und damit des Menschen. Revolutionäre Gewalt ist eminent menschlich. Ich weiß, dass es schwierig ist, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, aber es ist wichtig, ihn zumindest im unverbindlichen Raum der Spekulation zu betrachten. Um Fanons Metapher zu erweitern: Der Unterdrückte, der Kolonisierte, der KZ-Häftling, vielleicht auch der lateinamerikanische Lohnsklave, muss die Füße des Unterdrückers sehen können, um ein Mensch zu werden, und umgekehrt, damit der Unterdrücker, der in dieser Rolle kein Mensch ist, auch einer werden kann.«
Der 7. Oktober und der anschließende Krieg in Gaza haben endgültig das Scheitern der Osloer Abkommen besiegelt. Weit davon entfernt, den Grundstein für einen dauerhaften Frieden zu legen, der auf der Koexistenz zweier souveräner Staaten beruht, wurden diese Abkommen von Israel sabotiert. Sie wurden zur Voraussetzung für die Kolonisierung des Westjordanlandes, die Annexion Ost-Jerusalems und die Isolierung einer korrupten und diskreditierten Palästinensischen Autonomiebehörde.
Das Scheitern von Oslo markiert auch den Untergang des Zweistaatenprojekts: Was von Europäern und Amerikanern – freilich ohne Rücksprache mit palästinensischen Vertretern – für eine Neuordnung der Region in der Nachkriegszeit zunächst noch vage in Erwägung gezogen wurde, würde nach aktuellem Stand im Wesentlichen ein oder zwei palästinensische Mini-Staaten unter israelischer Militärkontrolle bedeuten. Die Zweistaatenlösung ist unmöglich geworden, und im Licht des völkermörderischen Krieges in Gaza ist auch ein einziger binationaler Staat derzeit kaum vorstellbar.
Vor zwanzig Jahren war Edward Said der Meinung, dass ein binationaler, säkularer Staat, der seinen jüdischen und palästinensischen Bürgerinnen und Bürgern vollständige Gleichberechtigung garantiert, der einzig mögliche Weg zum Frieden sei. Dafür steht auch der Slogan, den heute Millionen Demonstrierende auf der ganzen Welt, darunter viele Jüdinnen und Juden, ausrufen: »From the river to the sea, Palestine will be free« (auch wenn die meisten Mainstream-Medien diesen Slogan nach wie vor als antisemitisch einschätzen).
»Die palästinensische Sache ist zu einem Symbol im Globalen Süden und in weiten Teilen der Öffentlichkeit in Europa und den USA geworden, insbesondere unter jungen Menschen.«
Natürlich muss die Zukunft Israels und Palästinas von den Menschen entschieden werden, die dort leben. Das Selbstbestimmungsrecht sollte jedoch einige historische Lektionen nicht übergehen. Heute könnte eine Zweistaatenlösung nur durch eine ethnienübergreifende, territoriale »Säuberung« funktionieren. Das wäre eine irrationale Lösung in einem Land, das von in etwa gleich vielen jüdischen und palästinensischen Menschen bewohnt wird.
Selbst wenn die höchst unwahrscheinliche Schaffung eines wirklich souveränen Staates Palästina gelingen würde, wäre dies auf lange Sicht nicht zufriedenstellend. Denn ein zionistischer Staat neben einem islamischen Staat wäre ein historischer Rückschritt, der keinerlei Grundlage für Dialog oder Austausch zwischen Kulturen, Sprachen und Religionen mehr bieten würde. Wie uns die Geschichte Mitteleuropas und des Balkans im 20. Jahrhundert lehrt, dürfte eine solche Konstellation in einer Tragödie enden.
Viele sehen daher in einem binationalen Staat, in dem jüdische und palästinensische Menschen gleichberechtigt nebeneinander leben würden, die einzige Lösung. Aktuell scheint diese Option undurchführbar zu sein. Wenn wir jedoch langfristig denken, kann sie durchaus logisch und kohärent sein. Im Jahr 1945 erschien die Idee, eine Europäische Union aus Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien und den Niederlanden zu gründen, ebenfalls absolut abwegig und naiv. Die Geschichte ist gespickt von Vorurteilen, die dann aufgegeben werden und im Nachhinein überaus dumm erscheinen. Manchmal können Tragödien dazu dienen, neue Perspektiven zu eröffnen.
Vor zwanzig Jahren fragte Said besorgt: »Wo sind die israelischen Äquivalente von Nadine Gordimer, Andre Brink, Athol Fugard, von den weißen Schriftstellern in Südafrika, die sich unmissverständlich und unzweideutig gegen die Übel der Apartheid aussprachen?« Dieses Schweigen ist heute ebenso ohrenbetäubend und wird nur von einigen wenigen Stimmen durchbrochen. Die Situation hat sich aber grundlegend geändert: Israel hat sich als verwundbar und vor allem durch seine Zerstörungswut in Gaza als bar jeder moralischen Legitimität erwiesen.
Die palästinensische Sache ist zu einem Symbol im Globalen Süden und in weiten Teilen der Öffentlichkeit in Europa und den USA geworden, insbesondere unter jungen Menschen. Heute steht nicht die Existenz Israels auf dem Spiel, sondern das Überleben des palästinensischen Volkes. Sollte der Gaza-Krieg in einer zweiten Nakba enden, wird die Legitimität Israels dauerhaft untergraben. Dann werden weder US-amerikanische Waffen, noch westliche Medien, noch die deutsche Staatsräson, noch eine falsch verstandene und deswegen geschändete Erinnerung an den Holocaust in der Lage sein, Israel reinzuwaschen.
Enzo Traverso lehrt in Geschichtswissenschaften an der Cornell University. Sein neuestes Buch trägt den Titel Revolution: An Intellectual History.