18. Januar 2024
Man muss es kritisieren, wenn Menschen aus der Arbeiterklasse sozial und kulturell abgewertet werden. Doch wer mit diesem Unrecht aufräumen will, muss vor allem das System der Ausbeutung konfrontieren, das unserer Wirtschaftsweise eingeschrieben ist.
Straßenmarkierungsarbeiten in Frankfurt am Main.
Dem Begriff der Klasse haftet etwas Kämpferisches an: Fast zwei Jahrhunderte war »Klasse« das Schlagwort, mit dem die sozialistische Linke gegen soziale Ungleichheit und Ausbeutung, für demokratische Teilhabe, sozialstaatliche Absicherung und gegen den Kapitalismus kämpfte. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand der Begriff mehr und mehr aus dem politischen und wissenschaftlichen Diskurs.
Heute feiert »Klasse« ein Comeback, jedoch weitestgehend losgelöst von den Einsichten und Analysen der sozialistischen Bewegung. Deutlich wird dies im Diskurs rund um »Klassismus«. Klassismus bezeichnet Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft oder Position. Autorinnen und Autoren, die sich auf den Begriff beziehen, wollen Klassismus als eine Form der Diskriminierung analog zu Sexismus und Rassismus verstanden wissen.
Von Anfang an war der Begriff »Klassismus« umstritten. Der renommierte Armutsforscher Christoph Butterwegge bezeichnete im Spiegel »schon den Begriff als ›unglücklich‹« und den Ansatz als »kontraproduktive« Verharmlosung der sozialen Frage. Kritik kommt auch aus der marxistisch orientierten Linken, die den lebensweltlichen und individualisierten Zugang zu »Diskriminierung« aufgrund von Herkunft kritisiert. Auch der Vorwurf, es ginge nur um Anerkennung, ist verbreitet.
In einem Artikel bei JACOBIN vom Dezember 2023 will Houssam Hamade den Ansatz des Klassismus gegen diese Kritik verteidigen. Hamade schreibt, Klassismus bezeichne mehr als nur ein Vorurteil und »zumindest in Deutschland« würden »die wichtigsten antiklassistischen Akteure ökonomische Strukturen stets mit[denken]«. Er macht es sich jedoch zu leicht, wenn er die regelmäßige Versicherung von Vertreterinnen und Vertretern des Antiklassismus, es ginge ihnen auch um ökonomische Ungleichheit, bereits als Beleg für dieses Mitdenken nimmt.
Denn der Blick in die einschlägigen Veröffentlichungen zeigt: Der blinde Fleck des Antiklassismus in Theorie und Praxis ist trotz dieser verbalen Bekenntnisse das Wirtschaftssystem. Die Forderungen und praktischen Anliegen des Antiklassismus sind zwar im Prinzip richtig, drohen aber aufgrund theoretischer Mängel dabei stehenzubleiben, Chancengleichheit in der bestehenden Ungleichheit einzufordern. Denn es ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, das systematisch soziale Ungleichheit herstellt und erhält.
»Klassenausbeutung«, so Andreas Kemper und Heike Weinbach in ihrem vielfach als Standardwerk gelobten Buch Klassismus: Eine Einführung, sei »nur ein Aspekt des Klassismus«. Was genau Ausbeutung ist, wie sie funktioniert und letztlich die Grundlage von Ungleichheit überhaupt bildet, betrachten sie allerdings nicht. Stattdessen reihen sie die ökonomische Frage neben einer Vielzahl anderer »klassistischer« Mechanismen ein, sodass sie letztlich völlig untergeht.
Ein Beispiel ist der Text »Kultur der Respektlosigkeit« von Weinbach, den auch Hamade zitiert. Explizit spricht sie von »Diskriminierung, sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung« als »Ursache für Armut«. Später erwähnt sie dann zwar auch den »Status von Menschen im Produktionsprozess«. »Status« meint jedoch in der Regel das Prestige, die soziale Wertschätzung, die Autorität und Macht, Privilegien und Rechte, die eine Person in der Gesellschaft innehat. Für Weinbach ist dieser Status zudem explizit nicht die wesentliche Ursache von Armut und Ausgrenzung. Sie sieht darin eine Eigenschaft des Klassenindividuums, einen »Differenzmerkmal«, nicht eine (prinzipiell veränderbare) Stellung im Produktionsprozess.
Ergebnisse ökonomische Prozesse sind im Antiklassismus-Diskurs oft nur als Benachteiligung, bewusstes Vorenthalten von Ressourcen oder Diskriminierung theoretisiert und werden kaum auf ihre Ursachen zurückgeführt. So schreibt Francis Seeck, ebenfalls von Hamade als Positivbeispiel genannt, in dem 2022 erschienenen Heft Zugang verwehrt zwar, Kapitalismus und Klassismus seien »eng verknüpft«. Doch was Kapitalismus ist oder was genau an diesem zu kritisieren sei, fehlt auch hier. »Kapitalismuskritik« so Seeck, müsse sich »gegen Klassismus als Unterdrückungssystem richten.« Kapitalismuskritik löst sich also in Antiklassismus auf. Die erhobene Forderung, dass sich Klassismus mit »ökonomischer Verteilung und Ausbeutung« befassen müsse, löst Seeck an keiner Stelle ein.
»Das Lohnsystem und das Bildungssystem werden zu reinen Instrumenten ›klassistischer‹ Hierarchisierung und Bewertung. Welche Funktion diese Institutionen für die Ökonomie übernehmen, spielt keine Rolle.«
Ist in den Texten über Klassismus von materieller Ungleichheit die Rede, geht es in der Regel nur um Umverteilung von Einkommen. So meint auch Seeck, die ökonomische Frage damit erledigt zu haben, dass ja der Antiklassismus Umverteilung fordern würde. Umverteilung jedoch stellt die Klassengesellschaft nicht infrage. Erst recht nicht, wenn die Umverteilungsforderung noch nicht einmal gesamtgesellschaftlich, sondern nur innerhalb der eigenen Gruppe als »solidarische Praxis« gefordert wird: In dem Sammelband Solidarisch gegen Klassismus, den Seeck mit Brigitte Theißl 2020 veröffentlichte, gilt das Ausgleichen von Einkommensunterschieden in der Kommune oder Aktivistinnengruppe durch gemeinsame Kontoführung oder Umverteilungskonten als Beispiel für antiklassistische Praxis.
Selbst bei dem von Hamade gelobten Buch Klassismus von Markus Gamper und Annett Kupfer, in dem fast die Hälfte der Seiten dem Anliegen gewidmet sind, Antiklassismus an theoretische Diskussionen zurückzubinden, kommt Ökonomie praktisch nicht vor. Die Auseinandersetzung mit der Klassentheorie von Marx und Engels geht zielsicher an der Frage der kapitalistischen Wirtschaftsweise vorbei. Kein einziges ökonomisches Werk von Marx und Engels, in dem die Werttheorie oder Ausbeutung diskutiert werden, wird als Quelle herangezogen.
Gamper und Kupfer stützen sich nahezu ausschließlich auf Sekundärliteratur und geben Marx’ und Engels’ Theorien zum Teil schlicht falsch wieder. Bei ihnen taugt Marx dann nur noch dazu, zu kritisieren, dass Menschen aus der Arbeiterklasse »keinen Mehrwert akkumulieren können und sie dadurch strukturell diskriminiert« sind. So wird dem revolutionären Denker das Programm eines Antiklassismus untergeschoben, dem jede antikapitalistische Spitze abgebrochen wurde.
Marx ging es darum, aufzuzeigen, dass es das Wirtschaftssystem ist, das die Klassen hervorbringt, und dass es unmöglich ist, die Klassengesellschaft zu überwinden, ohne die kapitalistische Wirtschaftsweise zu überwinden. Sicherlich wäre es für das Konzept des Antiklassismus verkraftbar, sich nicht auf Marx zu stützen, wenn dafür irgendeine andere kritische Wirtschaftstheorie herangezogen würde. Jedoch befassen sich Gamper und Kupfer ebenso wie ihre Kolleginnen und Kollegen überhaupt nicht mit Ökonomie. So werden dann auch das Lohnsystem und das Bildungssystem bei Gamper und Kupfer zu reinen Instrumenten »klassistischer« Hierarchisierung und Bewertung. Welche Funktion diese Institutionen für die Ökonomie übernehmen – dass das kapitalistische Wirtschaftssystem sowohl qualifizierte als auch unqualifizierte Arbeit braucht und betriebliche Hierarchien dem Profitinteresse des Kapitals nutzen –, spielt keine Rolle.
Hamade lobt den Versuch von Gamper und Kupfer, die Definition von Klassismus »präziser« zu fassen, nämlich als »Prozess, der Klassenstrukturen produziert und reproduziert«. Das kann jedoch alles und nichts bedeuten. Historisch war die Herausbildung der kapitalistischen Klassengesellschaft ein gewaltvoll umkämpfter Prozess, der die ökonomischen ebenso wie politischen und rechtlichen Strukturen der europäischen Gesellschaften fundamental veränderte.
Aus von Subsistenzwirtschaft geprägten Agrargesellschaften, bei denen höchstens Überschüsse auf den Märkten der Städte gehandelt wurden, entwickelte sich über die Manufaktur die moderne Industrie, die gezielt zum Zweck des Verkaufs ihre Waren produzierte. Die politische Herrschaft des Adels und Privilegien der christlichen Kirche, Leibeigenschaft und Hörigkeit wichen den bürgerlichen Grundrechten und der parlamentarischen Demokratie. Die Rechtsprechung durch den Adel oder den Klerus wich der zivilen Rechtsprechung und Gewaltenteilung, das Lehenswesen der hierarchischen Verwaltung. Das alles verschwindet hinter der ahistorischen und wenig aussagekräftigen Definition von Gamper und Kupfer, die auch im Klassismus-Diskurs selbst keine Neuerung darstellt.
»Lediglich als Ideologie der Ungleichwertigkeit hat das, was als Klassismus diskutiert wird, Anteil an der Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft, indem es hilft, die Klasse der Lohnabhängigen zu spalten und zu beherrschen.«
Klasse wird im Antiklassismus anhand von Alltagserfahrungen, dem gesellschaftlichen Status, vielleicht noch der Höhe des Einkommens, Bildungsabschlüssen und sonstigen Differenzmerkmalen konstruiert. Mit einem sozio-ökonomischen Begriff von Klasse, wie man ihn im Marxismus findet, hat das nichts zu tun. Klasse ist nach Marx ein soziales Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Die Bourgeoisie besitzt die Produktionsmittel, während das Proletariat nur seine »Arbeitskraft selbst, die nur in seiner lebendigen Leiblichkeit existiert« besitzt und so darauf angewiesen ist, diese zu verkaufen, um zu überleben.
Dieses Klassenverhältnis ist grundlegend für die soziale Ungleichheit im Kapitalismus. Die Lohnabhängigen schaffen durch ihre Arbeit Wert und die Besitzenden eignen sich diesen Wert kraft der bestehenden Eigentumsverhältnisse an. Sie bezahlen nur so viel Lohn, wie die Arbeiterinnen zum Überleben und damit zum Erhalt ihrer Arbeitskraft brauchen. Aller darüber hinaus produzierte Wert bildet den Gewinn des Kapitals. Diese Aneignung des durch die Lohnabhängigen erzeugten »Mehrwerts« ist das, was bei Marx »Ausbeutung« heißt – und diese Ausbeutung ist der einzige Zweck, den die Besitzerinnen und Besitzer von Kapital verfolgen, wenn sie Lohnabhängige anstellen.
Dementsprechend sind auch nur solche Lohnabhängigen für das Kapital von Nutzen, die sie für ihr Geschäft gebrauchen können. Hier liegt die ökonomische Wurzel der Abwertung von Arbeitslosen und die Wurzel schlechter Bezahlung und Abwertung von Arbeitskräften, die sich einfach ersetzen lassen. Wenn Gamper und Kupfer schreiben, Ziel der Erwerbsarbeit sei es, »Menschen in die Gesellschaft zu integrieren« und sich »selbst zu entfalten und eine positive Identität« aufzubauen, verkennen sie die kapitalistische Realität. Die Lohnabhängigen müssen arbeiten gehen, um sich Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Einen anderen Zweck, als sich an den Lohnarbeitenden zu bereichern, kennt das Kapital nicht. Jede Verbesserung der individuellen oder kollektiven Arbeitssituation muss deshalb gegen das Kapital erkämpft werden und jede Infragestellung der Klassengesellschaft muss daher eine Infragestellung der Macht des Kapitals sein.
Nicht das, was als Klassismus theoretisiert wird – die Abwertung von Gruppen anhand ihrer sozialen Herkunft, Vorurteile und Diskriminierung – ist Ursache von Ungleichheit, sondern das Wirtschaftssystem. Der Antiklassismus befasst sich letztlich mit dem, was in der marxistischen Theorietradition als »Überbau« bezeichnet wird – die Vorstellungen, die sich die Menschen von der Welt machen – und schon deutlich weniger mit der Ausgestaltung gesellschaftlicher Institutionen wie der Schule oder dem Steuersystem.
Doch das Kapitalverhältnis produziert und reproduziert die kapitalistische Klassengesellschaft so lange weiter, wie wir weiter kapitalistisch wirtschaften. Lediglich als Ideologie der Ungleichwertigkeit hat das, was als Klassismus diskutiert wird, Anteil an der Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft, indem es hilft, die Klasse der Lohnabhängigen zu spalten und zu beherrschen. Die Ideologien der Ungleichwertigkeit prägen dabei auch gesellschaftliche Institutionen. Im deutschen Schulsystem zum Beispiel ist der Einfluss der sozialen Herkunft der Kinder auf ihre Bildungschancen enorm.
Der von Hamade zitierte Sebastian Friedrich ist einer der wenigen, die den Klassismus-Begriff nutzen und ihn mit einer marxistischen Analyse der Wirtschaft verbinden. Zu erwähnen wären auch die Autorinnen Katrin Reimer-Gordinskaya und Selana Tzschiesche, die bei ihrer 2023 erschienen aktivierenden Befragung im Rahmen des Berlin-Monitors von einem marxistischen Verständnis von Klasse ausgehen. Dabei verstehen sie Klassismus als »Modus der Veränderung und Stabilisierung von Klassenverhältnissen«, der auf die Entsolidarisierung innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen abzielt, indem er Teile der Klasse auf- und abwertet. Doch das sind Ausnahmeerscheinungen im Klassismus-Diskurs.
»Andreas Kemper hat recht, wenn er sagt, dass sich Klassismus nicht durch Diversity-Management auflösen lässt, sondern dass ›gewerkschaftliche Kämpfe einfach wichtiger sind‹. Dem wäre noch hinzuzufügen, dass auch Gewerkschaftsarbeit allein nicht reicht, um die Klassengesellschaft zu überwinden.«
Mit der Grundlage sozialer Ungleichheit – der kapitalistischen Wirtschaftsweise – setzt sich die Mehrheit im Antiklassismus trotz anderslautender Behauptungen nicht auseinander. Wenn Hamade fordert, dass »beide Dimensionen von Klasse mitgedacht werden: die ökonomische und die kulturelle«, dann besteht Nachholbedarf bei der Ökonomie. Befasst sich der Antiklassismus nicht mit der Ökonomie, ist er auf die kulturellen Phänomene der Klassengesellschaft zurückgeworfen und entwickelt konsequenterweise auch nur eine Praxis gegen diese Oberflächenphänomene, so wie es bereits bei JACOBIN oder durch andere kritisiert wurde.
Andreas Kemper hat recht, wenn er sagt, dass sich Klassismus nicht durch Diversity-Management auflösen lässt, sondern dass »gewerkschaftliche Kämpfe einfach wichtiger sind«. Dem wäre noch hinzuzufügen, dass auch Gewerkschaftsarbeit allein nicht reicht, um die Klassengesellschaft zu überwinden. Die kapitalistische Produktionsweise und auch ihre ideologischen Reflexe, wie der Klassismus, werden erst verschwinden, wenn die Produktionsmittel nicht mehr das Privateigentum einiger weniger sind, sondern der gemeinschaftliche Besitz aller.
Wer die Ökonomie nicht auch tatsächlich mitdenkt, stellt die Klassengesellschaft nicht infrage, sondern beschränkt sich selbst auf den Kampf um Chancengleichheit in der bestehenden Ungleichheit. Der Antiklassismus fokussiert sich, wie Hamade selbst eingesteht, »eher auf Diskriminierung«. Materielle Ungleichheit und Ökonomie sind für diese Theorie eine Nebensache.
Der Antiklassismus kämpft für Chancengleichheit. Doch auch bei Chancengleichheit produziert die kapitalistische Klassengesellschaft notwendig Verlierer. Dass die Wichtigkeit des Wirtschaftssystems, der ökonomischen Basis, vor allen Dingen Marxistinnen in ihrer Kritik am Konzept des Klassismus betonen, liegt daran, dass keine Theorie die grundlegende Bedeutung der Wirtschaft so deutlich herausgearbeitet hat wie die in Tradition von Marx und Engels. Der Marxismus analysiert, wie die Ökonomie die Gesellschaft und ihre Institutionen bis hin zu den Individuen prägt. Wenn man die Klassengesellschaft wirklich infrage stellen will, führt kein Weg an der Ökonomie, kein Weg an Marx vorbei.
Fabian Nehring ist Politikwissenschaftler und aktives Mitglied bei der LINKEN in Berlin.