12. Februar 2024
Immer mehr Krankenhäuser müssen schließen, Beschäftigte kämpfen seit Jahren gegen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Karl Lauterbach behauptet, seine Reform würde die Missstände beheben. Doch in Wahrheit verspricht sie nur noch mehr Kahlschlag.
Karl Lauterbach richtet über die Krankenhäuser.
Es steht schlecht um die Krankenhäuser in Deutschland. Der Pflegenotstand ist allgegenwärtig, eine Insolvenzwelle verschärft den seit Jahren andauernden Klinikkahlschlag. Meist treffen die Schließungen unterfinanzierte, kleine Allgemeinversorger in ländlichen Regionen – genau da, wo es sowieso an Ärztinnen und Ärzten mangelt. Seit den 1990er Jahren hat sich die Anzahl der Krankenhäuser um mehr als ein Fünftel auf rund 1.900 verringert, allein seit Beginn 2020 wurden fast siebzig Krankenhäuser geschlossen. Das schlägt empfindliche Lücken in die Grund- und Notfallversorgung.
Das Personal begehrt schon seit Jahren gegen katastrophale Arbeitsbedingungen auf, die auch die Patientinnen und Patienten gefährden. Die Beschäftigten des Jüdischen Krankenhauses in Berlin haben kürzlich nach neunzehn Tagen im unbefristeten Streik einen Entlastungstarifvertrag durchgesetzt. Sie sind Teil einer erstarkenden bundesweiten Streikbewegung, die bereits in Jena, Berlin und Nordrhein-Westfalen Verbesserungen erkämpft hat. Einer der Hauptangriffspunkte der Proteste sind die DRG-Fallpauschalen – das Finanzierungssystem, das seit seiner flächendeckenden Einführung im Jahr 2003 Arbeitsbedingungen verschlechtert, Medizin entmenschlicht und Krankenhausstrukturen zerrüttet hat.
Als Karl Lauterbach 2022 ankündigte, mit seiner Krankenhausreform die Fallpauschalenfinanzierung überwinden zu wollen, stieß dies entsprechend auf breite Zustimmung – zumal der Gesundheitsminister nicht weniger als eine »Revolution« versprach. Doch seine Verwendung des Begriffs grenzt an Hohn. Die Mechanismen, die in die bestehende Misere geführt haben, werden in der Reform fortgeschrieben oder verschärft: Wettbewerb um zu knappe Mittel, Aushungern all derjenigen Bereiche der Gesundheitsversorgung, die keine Profitmaximierung verheißen. Lauterbachs Reform trägt die klare Handschrift der Gesundheitsökonomie – der Wegbereiterin einer kapitalfreundlichen Umgestaltung des Krankenhauswesens.
Die systematische Unter- und Fehlfinanzierung durch das Fallpauschalensystem ist auch ursächlich für die grassierenden Krankenhausschließungen. Nachdem diese von den politisch Verantwortlichen lange heruntergespielt wurden, schlagen Bundesländer und Kommunen angesichts der aktuellen Insolvenzwelle mittlerweile Alarm. So forderte jüngst der Städte- und Gemeindebund Gelder vom Bund, um die gestiegenen Kosten der Kliniken abzufedern; auch die Landesregierungen verlangen Soforthilfen, um finanziell bedrohte Krankenhäuser zu retten. Gesundheitsminister Lauterbach wiederum schiebt die Schuld den CDU-geführten Ländern zu: Es sei nicht seine Untätigkeit oder sein Zahlungsunwille, sondern ihre Blockade seiner Krankenhausreform, die in die Schließungskatastrophe führe.
Die zunächst grandios als »Jahrhundertprojekt« angekündigte Reform der Krankenhausstruktur und -finanzierung ist mächtig ins Stocken geraten. Nach harscher öffentlicher Kritik und politischen Rangeleien stagniert der Reformprozess bereits seit Monaten. Im Dezember legte eine knappe Mehrheit der Bundesländer im Bundesrat Einspruch gegen das erste von vier Reformgesetzen ein – das sogenannte Krankenhaustransparenzgesetz. Mit dem Gesetz, so monierten die Länder, würden die vielkritisierten Krankenhauslevel, mit denen hunderte Krankenhäuser zu besseren Pflegeeinrichtungen ohne Notfallversorgung herabgestuft werden sollten, durch die Hintertür eines »Transparenzregisters« doch wieder eingeführt. Dass laut Lauterbach mit dem Gesetz außerdem zusätzliche Gelder an die Krankenhäuser fließen sollten, haben die Länder als Trick entlarvt: Diese Mittel stehen den Krankenhäusern ohnehin zu und würden durch die Reform lediglich vorgezogen.
Der nächste Reformschritt mit einem ebenso euphemistischen Namen – das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz – ist noch nicht einmal im Bundestag diskutiert worden. Ein Arbeitsentwurf liegt allerdings schon vor. Wenn Lauterbach nun warnt, ohne seine Reform stünde ein »unkontrolliertes Kliniksterben« bevor, erweckt er den Anschein, diese beabsichtige den Erhalt von Krankenhäusern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die gemeinsam mit Gesundheitsökonomen aus dem Orbit der Bertelsmann-Stiftung entwickelten Reformvorschläge zielen darauf ab, die Krankenhauslandschaft zu dezimieren. Die Öffentlichkeit wird so, frei nach der Philosophin Isabelle Stengers, vor eine »infernale Alternative« gestellt: Entweder gehen Krankenhäuser massenweise pleite und müssen schließen – oder sie werden per Reform geschlossen.
»Was genau geplant ist, ist auch deshalb schwer nachzuvollziehen, weil Lauterbach seine Reform mit einem wahren Feuerwerk der rhetorischen Nebelkerzen vermarktet.«
Lauterbach selbst zieht es vor, dies nicht als eine Wahl zwischen Pest und Cholera darzustellen, sondern bemüht ein anderes, erfolgversprechenderes Narrativ. Ganz im Einklang mit der lauten Kritik am DRG-System verspricht er Entbürokratisierung, Entökonomisierung und eben die Überwindung der Fallpauschalen. Ob Wortwahl und Wirklichkeit zusammenpassen, ist dabei nebensächlich – den Leuten zu erzählen, was sie hören wollen, scheint oberstes Prinzip zu sein. Die geplanten massenhaften Schließungen verkauft Lauterbach als qualitätsfördernde Spezialisierung, die zudem noch den Personalmangel beheben soll.
In Wirklichkeit bleiben die Fallpauschalen laut Reformentwurf bestehen und werden bloß teilweise durch ein zweites, bürokratieintensives Pauschalensystem ergänzt. Und ein strikter Budgetdeckel sorgt dafür, dass der finanzielle Druck auf die Kliniken hoch bleibt oder sogar noch steigt. Unverdrossen behauptet der Gesundheitsminister trotzdem, Angst vor der Reform müssten nur diejenigen haben, die hohe Gewinne mit dem Krankenhausbetrieb machen – ohne dass in der Reform auch nur die leiseste Idee eines Renditeverbots zu erkennen ist.
Was genau mit der Reform geplant ist, ist also auch deshalb schwer nachzuvollziehen, weil Lauterbach seine Reform mit einem wahren Feuerwerk der rhetorischen Nebelkerzen vermarktet. Am wirksamsten hat sich dabei bisher erwiesen, die neue, zweite Finanzierungssäule als »Vorhaltefinanzierung« zu betiteln. Diese soll eines der Kernprobleme des DRG-Systems lösen, nämlich die mangelnde Finanzierung von Kosten, die unabhängig von der Anzahl der behandelten Fälle anfallen. Das würde besonders den kleinen Krankenhäusern zugutekommen, bei denen der Anteil dieser Kosten relativ hoch ist.
Lauterbachs Story verbreiteten sowohl Presse als auch diverse Funktionsträger, ohne näher nachzurechnen. In Wirklichkeit orientiert sich die Höhe der Vorhaltepauschalen gar nicht an den Kosten, die tatsächlich anfallen, um Kapazitäten bereitzuhalten, sondern hängt von den DRG-Erträgen (und damit Fallzahlen) der vergangenen Jahre ab. Die ganze Reform steht zudem unter dem Zeichen eines strikten Budgetdeckels – es gibt also keinen Cent mehr für die Krankenhäuser. Von einer fallmengenunabhängigen oder kostendeckenden Finanzierung kann nicht die Rede sein.
Die »Vorhaltefinanzierung« ist also ein Etikettenschwindel. Schlimmer noch: Ihre geplante Koppelung an die neu einzuführenden Leistungsgruppen macht sie zu Bürokratiemonster und Schließungsmaßnahme zugleich. Um eine Leistungsgruppe zugeteilt zu bekommen, muss ein Krankenhaus vorab bestimmte Mindestmengen- und Ausstattungskriterien erfüllen. Tut es dies nicht, wird ihm die Leistungsgruppe entzogen und damit auch die Finanzierung. Angeblich soll dies der Qualitätsverbesserung dienen. Aber statt Krankenhäuser durch eine bessere Personalausstattung und Finanzierung zu ertüchtigen, wird ihr Behandlungsspektrum auf Basis von Strukturvorgaben eingeschränkt.
Tatsächlich wird so die bestehende Wettbewerbslogik verschärft, denn die Krankenhäuser müssen nicht mehr nur um Fallpauschalenerlöse, sondern auch um Anteile an den Vorhaltebudgets konkurrieren und dafür einen aufwändigen bürokratischen Apparat installieren. Wie bei der »Revolution« versucht Lauterbach wohl auch mit »Entökonomisierung« und »Entbürokratisierung« kühn die Umwertung aller Werte: Er eignet sich die Begriffe einer progressiven politischen Bewegung an, um sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Dabei ächzt das Krankenhauspersonal bereits jetzt unter einer überbordenden DRG-Bürokratie, die bis zu 30 Prozent der Arbeitszeit des klinischen Personals in Anspruch nimmt. Kurz gesagt: Der bestehende Finanzierungsmangel wird nur anders – und komplizierter – verwaltet. Das ist ein Vorteil für große Krankenhäuser und private Klinikketten mit den entsprechenden Verwaltungsapparaten, während kleine Krankenhäuser und die Grundversorgung das Nachsehen haben.
Um die derzeitige Lage der Krankenhäuser in Deutschland zu verstehen, hilft ein Blick auf die Geschichte. Das »unkontrollierte Krankenhaussterben« ist nämlich nicht die bedauerliche Folge eines Naturgesetzes, wie es auch die oft bemühte Rede vom »kalten Strukturwandel« suggeriert. Vielmehr ist es das Ergebnis eines gut geplanten Privatisierungsprozesses, dessen Voraussetzung 1985 gelegt wurde, als ein Gesetz erlaubte, mit dem Betrieb von Krankenhäusern Gewinne zu erwirtschaften.
Während es heute über 500 Krankenhäuser weniger gibt als noch vor dreißig Jahren, ist die Anzahl der privaten Krankenhäuser stetig gestiegen. Die öffentliche Hand war einst der maßgebliche Akteur der Krankenhauslandschaft. 1991 befanden sich bloß 15 Prozent der Allgemeinkrankenhäuser in privater Trägerschaft, 39 Prozent in freigemeinnütziger Hand und ganze 46 Prozent der Allgemeinkrankenhäuser waren öffentlich. Heute sieht die Verteilung anders aus: 39 Prozent der Allgemeinkrankenhäuser in Deutschland gehören privaten Trägern und 32 Prozent gemeinnützigen Trägern – die öffentliche Hand bildet mit bloß 29 Prozent der Allgemeinkrankenhäuser das Schlusslicht.
Der massive Ökonomisierungs- und Privatisierungsschub wurde durch die Einführung des DRG-Systems losgetreten, an der Gesundheitsökonom Lauterbach übrigens als »Einflüsterer« der damaligen SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt beteiligt war. Die Vergütung pro Fall – mit mehr oder weniger lukrativen Fällen – vermarktlicht die medizinische Behandlung. Dabei ist dieser Privatisierungsmechanismus deswegen so wirksam, weil er auch Einrichtungen in öffentlichem Eigentum nach Marktlogiken umformt, ähnlich wie die Rechtsformprivatisierung durch deren Umwandlung in GmbHs.
»Heute bieten nur noch ein Drittel der Krankenhäuser Geburtshilfe an, 1991 konnten Schwangere in fast der Hälfte der Krankenhäuser gebären.«
Gleichzeitig haben die Bundesländer jahrelang die Investitionen in Krankenhäuser vernachlässigt, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind. Wie in vielen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge verfällt so die Substanz – oder muss durch Einnahmen aus dem Betrieb querfinanziert werden. Das alles hat die Arbeitsdichte gefährlich erhöht und Fehlanreize geschaffen, beispielsweise für medizinisch unnötige Mengensteigerung oder blutige Entlassungen. Rosinenpickerei einträglicher Fälle durch private Fachkliniken lohnt sich, während viele Krankenhäuser der Grundversorgung in eine existenzbedrohende finanzielle Schieflage gebracht wurden, die sich jüngst durch Inflation und Energiekostensteigerungen noch verschlimmert hat.
Die daraus resultierenden Defizite werden dann häufig herangezogen, um Schließungen von Abteilungen oder ganzen Häusern zu begründen. Sie sind auch der Grund für die hohe Zahl an Insolvenzverfahren, die Kündigungen und Schließungen den Weg bereiten. Besonders eindrücklich zeigt sich der Abbau der Grundversorgung an der Situation der Geburtshilfe. Heute bieten nur noch ein Drittel der Krankenhäuser Geburtshilfe an, 1991 konnten Schwangere in fast der Hälfte der Krankenhäuser gebären. Die absolute Anzahl der Kreißsäle hat sich seit damals halbiert. Verdoppelt hat sich dagegen der Anteil von – leichter planbaren – Kaiserschnitten, die mittlerweile bei 30 Prozent aller Geburten durchgeführt werden.
Private Krankenhauskonzerne entstanden und wuchsen, indem sie öffentliche Krankenhäuser aufkauften. So ging beispielsweise Eugen Münch, Gründer der Rhön-Kliniken AG, bereits in den 2000er Jahren auf Schnäppchenjagd bei kommunalen Krankenhäusern in finanziellen Notlagen, die er nach seiner Übernahme harschen Sparmaßnahmen unterwarf. Auch der Krankenhauskonzern Asklepios bezog seinen Grundstock an »Krankenhaus-Kapital« aus der Übernahme kommunaler Kliniken in Hamburg. Die Gewinne aus dem Krankenhausbetrieb investiert der Eigentümer Bernard große Broermann, der sich als bodenständiger Familienunternehmer inszeniert, in Schweizer Luxushotels.
Damals wie heute gilt: Wird die öffentliche Daseinsvorsorge systematisch unterfinanziert und durch Preissysteme umgeformt, dann bildet das ein Einfallstor für Privatisierung und Lohndrückerei. Privates Kapital kann sich als Retter in der Not inszenieren, der dringende Investitionen in öffentliche Infrastrukturen ermöglicht. Diese werden privatisiert, auf Gewinn getrimmt, ausgequetscht und am Ende gerne auch wieder an den Staat abgestoßen. So wurde beispielsweise das Universitätsklinikum Marburg/Gießen 2006 zum Spottpreis von 112 Millionen Euro an den Rhön-Konzern verscherbelt – nur um diesem dann 2022 öffentliche Investitionszuschüsse von 500 Millionen Euro zu gewähren.
Aktuell kämpfen die Beschäftigten eben dieser Uniklinik aufgrund von katastrophalen Arbeitsbedingungen als Teil einer bundesweiten Krankenhausbewegung für bessere Löhne und Entlastung. Solche Arbeitskämpfe gehören zusammen mit den vielen lokalen Aufständen gegen die Schließungen von Geburtshilfen, Notaufnahmen oder auch ganze Kliniken. Denn beide stellen sich gegen die gesundheitsgefährdenden Nebenwirkungen von Jahrzehnten der Privatisierung. Ihre Forderungen nach einer vollständigen Abschaffung der Fallpauschalen, bedarfsgerechter Krankenhausplanung und kostendeckender Finanzierung stellen ein solidarisches Gegenmodell zu Lauterbachs in progressive Schlagworte eingewickelte Mogelpackung dar.
Derweil sorgen die Nutznießer der Privatisierung dafür, dass im Gesundheitsbereich weiterhin »unternehmerfreundliche« Bedingungen herrschen – also Profitmaximierung erleichtert wird. Rhön-Kliniken-Gründer Münch beispielsweise konzentriert sich mittlerweile darauf, mit seiner gleichnamigen Rhön-Stiftung (bis vor Kurzem: Münch-Stiftung) gesundheitspolitische Debatten zu beeinflussen.
Die Rhön-Stiftung wirbt unter anderem dafür, die elektronische Patientenakte einzuführen, oder auch unrentable Allgemeinkrankenhäuser »umzuwandeln«, das heißt zugunsten ambulanter Einrichtungen zu schließen. Dabei stellt sie sogar einen Leitfaden für »lokale Entscheidungsträger« zur Verfügung, wie die »sachlich vernünftigen« Schließungen auch gegen den mit technokratischem Paternalismus als »emotional« abgewerteten Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt werden können. Diese soll stattdessen mit Telemedizin und anderen halbseidenen Digitalisierungsversprechen abgespeist werden.
Auch Lauterbach möchte digitalisieren und ambulantisieren und wird dafür vom Krankenhauskonzern Helios gelobt. Dessen Geschäftsführer Robert Möller brüstet sich, Lauterbach hätte sich diese Reformidee wohl bei ihnen abgeschaut. Denn die Ambulantisierung ermöglicht Einsparungen und Effizienzsteigerungen, die ein teuer rund um die Uhr zu besetzendes Krankenhaus schlicht nicht bieten kann: »In einem ambulanten OP-Saal können Sie 50 Eingriffe am Tag machen. Da kommt der Patient morgens rein, nachmittags ist er wieder zu Hause. Das ist sehr effizient: Eine Stunde nachdem der letzte Patient entlassen worden ist, haben alle Angestellten Feierabend«, erklärt Möller. Wenn der Notfall nach Feierabend eintritt, dann ist das eben Pech.
Genau auf diese Art werden Krankenhausschließungen bereits seit Jahren durchgeführt: Gestützt auf betriebswirtschaftlich verengte Argumente aus Beratergutachten werden kleine Krankenhäuser dichtgemacht, in der Regel gegen massiven Widerspruch von Belegschaft und Bevölkerung. Die häufig als Ersatz versprochenen ambulanten medizinischen Versorgungszentren können die entstandene Lücke in der Versorgung nicht füllen – meist kommen sie sowieso nicht zustande. Die Notfallversorgung verschlechtert sich schlagartig, weil kleine Orte häufig nur spärlich mit Krankenwägen versorgt werden.
»Während es durchaus sinnvoll wäre, ambulante und stationäre Versorgung stärker zu verzahnen, kann erstere die letztere schlicht nicht ersetzen.«
Die Kommunalpolitikerinnen oder Landespolitiker, die die Schließungen auf Anraten von Klinikgeschäftsführungen durchboxen, bedienen dabei die altbekannte Leier »wir wollen nicht, wir müssen nur leider«. Dabei ist dieses Vorgehen in Wahrheit schon lange politisch gewollt. Der Krankenhausstrukturfonds fördert Schließungen mit Bundesgeldern in Milliardenhöhe, und auch die Bundesländer stellen häufig hohe Geldsummen für teure Zentralklinikprojekte zur Verfügung, anstatt unterfinanzierte kleinere Häuser zu retten.
Die Schließungsförderung wird mit Lauterbachs Reform auf ein neues Level gehoben. Kein Wunder, denn der Geschäftsführer der Rhön-Stiftung, der Gesundheitsökonom Boris Augurzky, saß auch in der Regierungskommission für die Krankenhausreform und prägte deren Vorschläge in besonderem Maße. Das eigentliche Ziel der Reform ist, die Schließungen zu systematisieren und zu vervielfältigen. Indem die Reform eine neue Kategorie von Gesundheitseinrichtungen einführt – die sogenannten sektorenübergreifenden Versorger (vormals: Level 1i-Einrichtungen) –, wird die Herabstufung von kleinen Krankenhäusern der Grundversorgung zu hauptsächlich ambulanten medizinischen und Pflegezentren ohne Notfallversorgung zum Gesetz.
Während es durchaus sinnvoll wäre, ambulante und stationäre Versorgung stärker zu verzahnen, kann erstere die letztere schlicht nicht ersetzen. Weder sind sie rund um die Uhr an allen Wochentagen erreichbar, noch bieten sie ein vergleichbares Behandlungsspektrum. Zudem werden sie zunehmend zu Investitionsobjekten für private Klinikketten und Private-Equity-Kapital, die natürlich kein Interesse daran haben, die Grundversorgung zu gewährleisten. Helios beispielsweise betreibt bereits 240 Medizinische Versorgungszentren.
Die gravierenden Folgen einer Krankenhausschließung werden im Lobrausch der Ambulantisierung meist verharmlost oder missachtet. Bei vielen ganz alltäglichen Unfällen und Krankheiten kann eine innerhalb von dreißig Minuten erreichbare Erstversorgung über Leben und Tod entscheiden. Auch die lokale Arbeits- und Wirtschaftsstruktur wird nachhaltig geschädigt: mit dem Verlust von Arbeitsplätzen im Krankenhaus gehen der Kommune auch Steuereinnahmen verloren – die Einsparungen im Kommunalhaushalt, die sich die Verantwortlichen häufig von einer Schließung erhoffen, sind in Wirklichkeit ein volkswirtschaftlicher Bumerang. Das Argument, der flächendeckende Personalmangel könnte behoben werden, indem man die Krankenhauslandschaft ausdünnt, wird dadurch Lügen gestraft, dass das Pflegepersonal bei einer Schließung in ländlichen Gebieten häufig ganz den Krankenhaussektor verlässt, und auch die ambulante Ärzteschaft abwandert.
Die konzernfreundliche Erzählung, dass Krankenhausschließungen, Ambulantisierung und Telemedizin unumgängliche Modernisierungsmaßnahmen seien, predigt seit Jahren die Gesundheitsökonomie, deren Perspektiven die gesundheitspolitischen Debatten dominieren. Dabei ist es ein erstaunlich kleiner Personenkreis, der von öffentlichen Gremien, Journalistinnen und Politikern zurate gezogen wird. Neben Boris Augurzky tritt immer wieder Reinhard Busse auf, Professor für Gesundheitsökonomie an der TU Berlin und ebenfalls einflussreiches Mitglied der Reformkommission. Busse gehörte zum Kernteam des Projekts »Neuordnung der Krankenhauslandschaft« der Bertelsmann-Stiftung, das 2019 eine Studie veröffentlichte, die auch die radikale Reduktion der deutschen Krankenhäuser vorschlug. Das Fazit der Studie, jedes dritte oder gar jedes zweite Krankenhaus müsse schließen, befürwortete Lauterbach – damals noch einfacher Abgeordneter – auf Twitter.
Die Bertelsmann-Stiftung widmet dem Gesundheitsbereich besondere Aufmerksamkeit und spielt eine wichtige Rolle als Stichwortgeberin. Das Interesse der Stiftung für das Thema hat zweifellos mit ihrer Nähe zu Gesundheitskonzernen zu tun: Die Bertelsmann-Tochter Arvato Systems beispielsweise ist mit der Installation der technischen Infrastruktur für die elektronische Patientenakte beauftragt und verdient so kräftig an der Digitalisierung des Gesundheitswesens mit. Brigitte Mohn, Aufsichtsrätin und Gesellschafterin des Bertelsmann-Konzerns und Vorständin der Bertelsmann-Stiftung, saß auch bis 2020 im Aufsichtsrat ausgerechnet der Rhön-Kliniken. Im Rhön-Aufsichtsrat saß einst auch Lauterbach, in Beirat und Stiftung der Rhön-Kliniken sitzt Boris Augurzky noch immer – so schließt sich der Kreis.
Mit seinem Unternehmen HCB bietet Augurzky Auftragsforschung für Investoren und Gesundheitsunternehmen an – wobei die Nähe zu politischen Entscheidungsträgerinnen, zum Beispiel im Rahmen der Regierungskommission, sicherlich nützlich ist. Als Wissenschaftler arbeitet er am Rheinländischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), das unter anderem für den Bundestag Studien verfasst hat. Das muntere Wechseln zwischen privater Beratertätigkeit, Sitzen in Konzern-Aufsichtsräten und Einflussnahme in öffentlichen Gremien, das auch Lauterbachs Karriere prägt, hat der Autorität der gesundheitsökonomischen Experten in der politischen Debatte bisher bemerkenswerterweise keinen Abbruch getan.
»Die gesundheitsökonomische Technokratieverzauberung macht sich auch in den Krankenhäusern selbst bemerkbar, wo statt des medizinischen Personals zunehmend Managerinnen und Controller das Sagen haben.«
Ganz im Gegenteil: Gesundheitsökonominnen und Berater profitieren ausgiebig vom »demokratischen Prozess«. Während Lauterbach noch eine Skandal-Schlagzeile der Bild dementierte, dass seine Reform zur Schließung der Hälfte aller Krankenhäuser führen würde, ließ sich Augurzky von der Deutschen Krankenhausgesellschaft 80.000 Euro für eine »Auswirkungsanalyse« der von ihm mitverantworteten Reformvorschläge bezahlen, die feststellte, dass nach der Reform nur etwas über 60 Prozent der Krankenhäuser noch eine Notfallversorgung anbieten würden.
Das Unternehmen Bindoc wiederum erstellte im Auftrag des Gesundheitsministeriums eine Simulation über die Einstufung von Klinikstandorten, deren Ergebnisse es nur vereinzelt in die »demokratische Debatte« schafften. Das Datenanalyseunternehmen schien einen privilegierten Zugang zum Stand im Gesundheitsministerium zu erhalten. Für Bindoc war das eine Win-win-Situation: Das Ministerium zahlte für die Reformauswertung und die gewonnenen Informationen verkaufte das Unternehmen gleich als exklusive Beratungsleistung an Klinikbetreiber. Auch dass die Krankenhausgesellschaften und Bundesländer die Unzulänglichkeit der geplanten Vorhaltepauschalen erst kürzlich nach einer weiteren »Simulationsstudie« entdeckten, ist ein Symptom derselben gesundheitsökonomischen Technokratieverzauberung, von der die Beraterfirmen massiv profitieren. Diese macht sich auch in den Krankenhäusern selbst bemerkbar, wo statt des medizinischen Personals zunehmend Managerinnen und Controller das Sagen haben.
Busse, Augurzky und Co. stehen beispielhaft für den konzertierten Einfluss der Gesundheitsökonomie auf öffentliche Debatten um die Gesundheitsversorgung. In ihrer Einschätzung dessen, was die Krankenhauslandschaft braucht, legen sie auch gerne mal härtere Bandagen an, die den sozial-darwinistischen Grundgedanken klar hervortreten lassen. »Ein Großteil der Krankenhäuser in Deutschland ist überflüssig«, formulierte es beispielsweise Reinhard Busse, und attestierte den Krankenhäusern »zu viele Patientinnen und Patienten«. Sein Kollege Augurzky wünschte sich gar eine »schöpferische Zerstörung« im Krankenhausbereich oder bemerkte markig, »wir müssen nicht jedes Krankenhaus durchfüttern«.
Die schöpferische Zerstörung ist wohl der zutreffendste Begriff für das aktuelle Reformvorhaben. Durch diese Aussagen scheint deutlich die Verachtung für Beschäftigte, Patientinnen und Patienten und das Ziel einer flächendeckend zugänglichen öffentlichen Gesundheitsversorgung hindurch. Zudem lenken sie davon ab, dass durchaus jemand von öffentlichen Geldern und Krankenkassenbeiträgen durchgefüttert wird: nämlich die Eigentümer und Aktionärinnen und Aktionäre privater Krankenhauskonzerne, die jährlich Gewinne in Milliardenhöhe aus dem Krankenhausbetrieb ziehen. Derweil betont Lauterbach bei jeder Gelegenheit, seine Reform sei frei von Lobbyinteressen: eine weitere Kostprobe seiner Umwertung aller Werte.
Die Kämpfe der letzten Jahre für ein solidarisches Gesundheitswesen sorgen auch für laute Kritik an der geplanten Reform. Lauterbachs im Gespann mit prominenten Gesundheitsökonomen forcierte Umstrukturierung der Krankenhauslandschaft kommt schlechter an als geplant. Doch echte Alternativen liegen bisher parlamentarisch nicht auf dem Tisch. Der Widerstand der Länder gegen die Reform ist vor allem ein parteipolitischer Machtkampf zwischen CDU-geführten Ländern und dem SPD-geführten Gesundheitsministerium. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft weist auf die Probleme der Reform hin, bleibt aber fantasielos in Bezug auf Alternativen – wohl auch deswegen, weil sie neben den öffentlichen auch private Krankenhausträger vertritt, denen an einem grundlegenden Paradigmenwechsel nicht gelegen ist. Das politische Establishment ignoriert weitgehend, wofür Beschäftigte und gesundheitspolitische Initiativen seit Langem kämpfen: eine Abkehr von der Profitlogik im Gesundheitswesen.
Dabei wäre eine echte Reform gar nicht so kompliziert. Sie würde beinhalten, dass Krankenhäuser die Gelder bekommen, die sie benötigen, um eine bedarfsgerechte Versorgung zu gewährleisten und ihr Personal angemessen zu bezahlen. Dieses Finanzierungsmodell heißt Selbstkostendeckung, und linke gesundheitspolitische Initiativen wie das Bündnis Klinikrettung oder Krankenhaus statt Fabrik fordern sie bereits. Auch bei der Gewerkschaft Verdi stößt sie zunehmend auf Interesse – denn wenn die öffentliche Hand garantiert, die Personalkosten vollständig zu decken, entfällt der Anreiz, auf dem Rücken der Beschäftigten die Gewinne zu maximieren. Durch das Renditeverbot, das diesem Finanzierungsmodell innewohnt, verliert der Krankenhausbetrieb zudem an Reiz für private Investoren.
Auch die Kommunalisierung beziehungsweise Vergesellschaftung von Krankenhäusern ist sinnvoll. Dazu muss die Privatisierung – sowohl auf Ebene der Eigentumsverhältnisse, als auch auf der Ebene der Finanzierungslogik und Organisationsstruktur – beendet werden. Die Kämpfe der letzten Jahre zeigen deutlich, dass eine Vermarktlichung durch Finanzierungssysteme und Rechtsformen auch öffentliche Betriebe (wie zum Beispiel Vivantes in Berlin) wie private agieren lässt. Tiefgreifende Änderungen stehen an – die Zeit ist reif für eine echte Revolution im Gesundheitswesen.
Jorinde Schulz ist Mitglied im Vorstand der Linken Berlin und arbeitet bei Gemeingut in BürgerInnenhand, Träger des Bündnis Klinikrettung, zum Thema Privatisierung. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbands Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird (Edition Nautilus, 2023) und Autorin von Die Clubmaschine (Textem, 2018).