02. März 2021
An diesem Tag im Jahr 1919 wurde die Kommunistische Internationale gegründet. Sie sollte die sozialistische Revolution von Russland aus in die Welt tragen – aber dazu kam es nie. Für die Wiederbelebung des Internationalismus lohnt sich ein Blick zurück.
Trotzki, Lenin und weitere führende Bolschewiki in Moskau am zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution,
Der vom 2. bis 6. März 1919 in Moskau abgehaltene Gründungskongress der Kommunistischen Internationale (»Komintern«), der vom 2. bis 6. März 1919 in Moskau stattfand, begann mit hehren Zielen. Das von Wladimir Lenin einberufene Treffen sollte die neugegründeten kommunistischen Parteien, die sich von ihren sozialdemokratischen Vorgängern losgesagt hatten, zu einer mächtigen, zentral geleiteten Organisation zusammenschweißen. Traumatisiert vom Unvermögen der Sozialdemokratie, den Ersten Weltkrieg aufzuhalten, und beflügelt von der Entschlossenheit der Bolschewiki, war die neu entstandene kommunistische Bewegung überzeugt, dass eine unmittelbar bevorstehende Weltrevolution zur kollektiven Befreiung der Menschheit führen könnte.
Die Kommunisten hofften auf einen Sieg innerhalb nur weniger Monate. Eine sozialistische Revolution in der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt – heute praktisch unvorstellbar – schien 1919 nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Tatsächlich standen die Komintern und die unter ihrem Dach vereinten Parteien damals für einen kurzen Moment an der vordersten Front eines Machtkampfs von beispielloser Größe. In den ersten vier Jahren des Bestehens der Komintern ereigneten sich zahlreiche Aufstände und Revolutionen, sozialistische und andere radikale Organisationen erlebten einen explosionsartigen Zulauf. Es schien, als stehe die Welt tatsächlich kurz vor einer sozialistischen Wende.
Den Kommunisten gelang es jedoch nicht, dies Wirklichkeit werden zu lassen. Die zunehmend autoritäre Sowjetunion blieb isoliert und verharrte im Stillstand. Mit ihrem Zusammenbruch im Jahr 1991 setzte die Epoche des neoliberalen Kapitalismus und der umfassenden Globalisierung ein. Als Oppositionskraft kam die internationale Linke zum Erliegen.
Die Welt von heute ist nicht mehr die von 1919. Die sozialistische Bewegung ist dabei, aus ihrem Winterschlaf zu erwachen und dennoch, scheinen die kollektive Stärke und internationale Vernetzung, die noch vor einem Jahrhundert als selbstverständlich erachtet wurden, entfernter denn je.
Im Grunde war die kommunistische Bewegung ein Ergebnis ihrer Umstände . Ihr ging kein ausgefeilter Plan voraus, sondern sie war vielmehr den konkreten Bedingungen geschuldet, mit denen die Sozialistinnen und Sozialisten vor Ort in Russland zu kämpfen hatten. Das Kräfteverhältnis zwischen verschiedenen Arbeiterparteien verschob sich ständig, und die Bolschewiki schlossen nie die Möglichkeit aus, zusammen mit verbündeten Organisationen an die Regierung zu kommen. Die Vorstellungen von der Revolution und von der nachrevolutionären Gesellschaftsordnung waren im Jahr 1917, wie Eric Blanc aufzeigte, alles andere als in Stein gemeißelt.
Das änderte sich im Laufe des Jahres 1918. Mit der bolschewistischen Revolution gewann der internationale Kampf für den Sozialismus an enormer Tragweite, sodass ein Strategiewechsel erforderlich wurde. Den Bolschewiki war bewusst, dass das wirtschaftlich rückständige Russland alleine kaum überlebensfähig wäre, gerade auch angesichts der Kriegsbedrohung durch imperialistische Staaten. Folglich setzten sie alles auf Revolutionen in entwickelteren westlichen Nachbarländern. Sollte sich die Frontlinie des Klassenkampfs in Richtung des Westens verschieben, könnte sich Russland mit der Unterstützung Deutschland und anderen Industriestaaten erholen. Um diese Vision zu realisieren, wurde gut ein Jahr nach der bolschewikischen Machtübernahme die Komintern gegründet.
In diesen Jahren waren die kommunistischen Parteien noch sehr heterogen aufgestellt. Unterschiedliche Strömungen konkurrierten um die Führungsposition und verhandelten verschiedene Strategien, von gemeinsamen Aktionsfronten mit sozialdemokratischen Parteien bis hin zum sofortigen bewaffneten Aufstand. Beim Moskauer Treffen wurde die Komintern zum Forum hitziger Debatten zwischen führenden internationalen Aktivistinnen und Aktivisten. Die Protokolle der frühen Kongresse bieten Einblick in eine politische Welt, die es so nicht mehr gibt: humorvolle Beschimpfungen, beißende Kritik, leidenschaftliche Streitgespräche über das Schicksal der Menschheit und eine politische Ernsthaftigkeit, der ironisierende Facebook-Memes niemals gerecht werden könnten.
Obwohl nicht alle Zusammentreffen so eindrucksvoll waren, wie man meinen könnte (so fand etwa die »Erste Internationale Konferenz der Negerarbeiter« im Jahr 1930 in einer Matrosenkneipe in Hamburg statt), waren sie dennoch mit Organisationen vernetzt, die Tausende und manchmal sogar Millionen von Mitgliedern aufweisen konnten. Die dort gefällten Entscheidungen hatten weltpolitische Auswirkungen und versetzten die politische Gegenseite aus gutem Grund in Unruhe.
Die Aussicht darauf, dass eine Arbeiterrevolution in Westeuropa gelingen könnte, befeuerte und einte die Kommunisten, ungeachtet ihrer internen Unstimmigkeiten. Dieses historische Ereignis, davon war man überzeugt, würde entweder den Triumph oder das vernichtende Ende der Bewegung darstellen – kurzum, es ging um das Weltschicksal. Es war dieser Gedanke, der das Handeln der Kommunisten befeuerte, und der sowohl ihren Mut als auch einige ihrer fragwürdigeren Entscheidungen erklärt.
Es ist schwer zu sagen, wie stark sich die Oktoberrevolution auf die politische Gefühlslage der Kommunisten auswirkte. Da die Partei der Bolschewiki die einzige war, die erfolgreich die Staatsmacht übernommen hatte, galten ihr Errungenschaften als legitime Vorlage. Doch das russische »Modell« ließ sich nicht ohne weiteres auf Deutschland oder Frankreich übertragen. In beiden Ländern hatten sich ausgeprägte Zivilgesellschaften entwickelt; die herrschenden Klassen waren dort fester verankert; und viele Arbeiterinnen und Arbeiter respektierten die vorhandene bürgerlich-demokratische Tradition. Die Machtübernahme würde sich dort sehr viel komplizierter und langwieriger gestalten als im Zarenreich. Angesichts der bedrohlichen Lage, in der sich der junge Sowjetstaat befand, wurden weitere Revolutionen nur noch dringlicher.
Die wichtigste Bühne der Revolution war Deutschland, das nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg in Chaos versank. Nachdem das revolutionäre Aufbegehren von 1919 blutig niedergeschlagen wurde, änderte die Komintern ihre Strategie und begann, sich vermehrt auf Gewerkschafts- und politische Basisarbeit zu konzentrieren, um auf diese Weise eine sozialistische Mehrheit aufzubauen. Doch auch die Revolution schien weiterhin in greifbarer Nähe. Im Anschluss an den Dritten Kongress im Jahr 1921 erklärte der Vorsitzende Grigori Sinowjew:
»Da wir keine Propheten sind, können wir nicht genau voraussagen, wie viele Monate oder Jahre bis zum ersten neuen Sieg der proletarischen Revolution in dem ersten jener großen Länder, die die Schicksale der Weltrevolution wirklich bestimmen, vergehen werden. Aber eines wissen wir bestimmt, und eines hat uns die neue Einschätzung der wirklichen Lage Europas auf dem III. Kongreß wieder und wieder gezeigt: Die Revolution ist nicht noch nicht vorbei; die Zeit ist nicht fern, wo neue Kämpfe entbrennen werden, die Europa und die ganze Welt viel schwerer erschüttern werden, als es alle früheren Kämpfe zusammengenommen getan haben.«
Als die kommunistische Bewegung in mehreren deutschen Arbeiterhochburgen 1923 schlagartig erstarkte, befeuerte das die Hoffnungen darauf, dass der Moment der Revolution gekommen war. Moskau entsandte Karl Radek nach Deutschland, um den entscheidenden Aufstand im Herbst vorzubereiten. Nach seiner Ankunft schrieb der weithin angesehene polnisch-deutsche Bolschewik in der kommunistischen Tageszeitung Die Rote Fahne: »Die deutsche Bourgeoisie ist so organisiert, wie keine der Welt. Die Kommunistische Partei Deutschlands muss so organisiert sein, wie keine Kommunistische Partei der Welt.«
Die deutschen Genossinnen und Genossen stimmte die Führungsriege der Bolschewiki zuversichtlich. Die deutsche Revolution erschien ihnen als Rettungsanker nach Jahren des quälenden Bürgerkriegs und der geopolitischen Rückschläge. Nicht nur die Parteiführung zeigte sich begeistert. Gleb Albert schildert etwa in seinem 2017 erschienenen Buch über den Internationalismus in der frühen Sowjetunion russische Alltagsszenen, in denen Menschen Brotlaibe an Ortsvereine der Kommunistischen Partei spendeten, um damit deutsche Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterstützen. Auch der KP-Generalsekretär Joseph Stalin bekundete am 10. Oktober 1923 seine Begeisterung in einem offenen Brief an den deutschen Parteiführer August Thalheimer:
»Die bevorstehende Revolution in Deutschland ist das wichtigste Weltereignis unserer Tage. Die siegreiche deutsche Revolution wird für das Proletariat in Europa und Amerika sogar noch bedeutender sein als die russische Revolution vor sechs Jahren. Mit dem Erfolg der deutschen Revolution wird sich das Zentrum der Weltrevolution von Moskau nach Berlin verschieben.«
Der Geschichtswissenschaft zufolge verlagerte die Partei ihren Schwerpunkt in dieser Phase von der politischen Basisarbeit auf die Vorbereitungen zum Aufstand. Gemeinsam mit linksorientierten Sozialdemokraten gründeten die Kommunisten in einigen Regionen, in denen die Bewegung besonders starken Rückhalt hatte, sogenannte »Arbeiterräte« und planten, mithilfe von parteiübergreifenden Milizen einen deutschlandweiten Aufstand loszutreten. Wenn alles nach Plan verliefe, so die Hoffnung, dann würde das Land bis zum Jahresende von einem mit Russland verbündeten Arbeiterrat regiert werden.
Doch trotz der fieberhaften Vorbereitungen und der scharfen politischen Rhetorik der Parteiführung geriet die deutsche Oktoberrevolution von Beginn an ins Stolpern. Auf einer im Oktober 1923 eilig einberufenen Tagung von Fabrikkomitees in Chemnitz gelang es der Partei nicht, einen Antrag zur Durchführung des Aufstands durchzubringen. Für die Kommunisten war eine breite Unterstützung allerdings entscheidend, denn aus früheren Fehlern hatten sie gelernt, dass ein Aufstand, der nur von einer Minderheit getragen wurde, isoliert bleiben würde.
Der weitere Verlauf der Dinge lässt sich wohl als typisch deutsch beschreiben. Die Gegner des Aufstands veranlassten, die Angelegenheit einem Unterkomitee zu übergeben, und diskutieren so ausgiebig, dass sich der gesamte Prozess ungemein in die Länge zog. Ohne große Aussicht auf eine Mehrheit sahen sich die Kommunisten ins Abseits gedrängt und nahmen ihren Antrag zurück. Eine kleine Gruppe Militanter in Hamburg versuchte dennoch, einen bewaffneten Aufstand zu starten, weil sie die Nachricht entweder nicht rechtzeitig erhielten oder sie bewusst ignorierten. Das Ergebnis war desaströs.
Die Führung der Komintern war über diese niederschmetternde Enttäuschung entsprechend bestürzt und warf der deutschen Parteiführung vor, den entscheidenden Zug nicht gemacht und die Chance verschenkt zu haben. Angesichts der angespannten innerparteilichen Grabenkämpfe in Moskau wollte niemand für eine solch schwerwiegende Fehleinschätzung niemand den Kopf hinhalten. Die Auffassung, das Scheitern der Revolution sei es der Feigheit der Parteiführung anzulasten, zog sich daraufhin quer durch das trotzkistische und das stalinistische Lager. Dieser Mythos verstärkte die Tendenz zu zentralisierten Strukturen und dem, was man später als »Bolschewisierung« der kommunistischen Parteien bezeichnete.
Die gescheiterte deutsche Revolution sollte langfristig verheerende Folgen haben. Da sie den Bruch zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten besiegelte, führte sie zu einer enormen Schwächung des Widerstands gegen Hitler und zum Zerfall der deutschen Arbeiterbewegung – einer der schwersten Tragödien des 20. Jahrhunderts. Das Scheitern der Revolution strahlte bis in die Sowjetunion aus, und heizte einen erbitterten Machtkampf in den oberen Rängen der bolschewistischen Partei an. Mehrere Parteigruppen, nicht nur die stalinistische, plädierten für einen strategischen Rückzug und die Konsolidierung des sowjetischen Staatsgefüges. Als Stalin im Laufe der Zeit sämtliche seiner realen und imaginierten Feinde beseitigt hatte, schrumpfte die Komintern zu einem Instrument sowjetischer Außenpolitik, das fortan direkt der zentralistischen Moskauer Befehlsgewalt unterstellt war.
Die Auflösung der Komintern im Jahr 1943 (als Zugeständnis an die westlichen Alliierten der Sowjetunion) markierte in institutioneller Hinsicht das Ende des revolutionären Internationalismus. Letzterer hatte dem frühen Kommunismus Antrieb gegeben, konnte jedoch auf der politischen Weltbühne längst keine wirkliche Kraft mehr entfalten. In den 1990er Jahren ist die Sozialistische Internationale zu einer dysfunktionalen neoliberalen Vereinigung verkommen und seither hat sich keinerlei nennenswerter sozialistischer Internationalismus mehr entwickelt. Vielleicht ist die Komintern auch deshalb weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt für viele Sozialistinnen und Sozialisten.
Da die Komintern eine politische Bewegung war, die ihre Ideen vornehmlich durch das geschriebene Wort verbreitete, verwundert es nicht, dass die ersten Geschichtswerke über sie von Kommunisten selbst verfasst wurden. Bereits 1924 – als die Komintern noch im Aufbau war – hatte Leo Trotzki Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationale veröffentlicht. Seine im selben Jahr erschienene Schrift 1917 – Die Lehren des Oktobers entfachte eine öffentliche Kontroverse zwischen führenden Bolschewiki und etablierte die Strategie, unterschiedliche Auffassungen über den Erfolg und Misserfolg der Komintern als parteipolitische Waffe einzusetzen, um das gegnerische Lager zu schwächen.
Die politische Ausdifferenzierung, aus der ein dezidiert »kommunistischer« Flügel der Arbeiterbewegung hervorging, wird in der offiziellen Geschichtsschreibung allein Lenin beigemessen, dessen Aprilthesen »der Partei und dem Proletariat die klare revolutionäre Linie […] gaben«. Demzufolge verkörperten Lenins Lehren, später weitergetragen von Stalin, die Essenz kommunistischen Denkens und Handelns. Historische Ambivalenzen und konkurrierende Perspektiven wurden dadurch ausgeblendet, weshalb diese Darstellung wenig hilfreich ist, um die Komintern aus heutiger Perspektive zu verstehen.
Als sich die kommunistische Bewegung in unterschiedliche Lager aufspaltete, entstanden rivalisierende Darstellungen ihrer Geschichte, was einen nuancierteren Blick auf die Bewegung offenlegte. Die in einer aufgeheizten politischen Atmosphäre verfassten Werke gleichen sich jedoch insofern, als dass die Machtkämpfe auf oberster Ebene in der Regel als Erklärung für den Aufstieg und Fall der Komintern herangezogen werden und die Auflösung der Komintern als Folge interner Streitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen gegnerischen Lagern erscheint.
In Anbetracht aller Umstände stellt sich aber die Frage, ob die Dinge wirklich einen viel besseren Ausgang hätten nehmen können. Ein Jahrhundert später können wir mit Abstand auf die parteipolitisch geprägten Versionen der Geschichte zurückblicken, um eine ausgewogenere Perspektive zu entwickeln. Die Komintern hat fraglos eine gemischte Bilanz hinterlassen. Auf der einen Seite stellte die russische Revolution 1917 für die sozialistische Bewegung insofern einen neuen Höhepunkt dar, als dass eine ausdrücklich sozialistische Regierung nach einem bewaffneten und von den Massen unterstützten Aufstand an die Macht gekommen war.
Andererseits scheiterte die Bewegung wieder daran, das russische Vorbild auf andere Kontexte zu übertragen. Die russische Revolution hat keine Welle von Aufständen in ganz Europa ausgelöst, sondern blieb isoliert, und die zunehmend autoritäre Sowjetunion zog sich immer mehr in die Defensive zurück. Unterdessen führte die Spaltung der Arbeiterbewegung – die durch die Fehler der Sozialdemokratie verursacht worden war, aber durch das Bestehen der Komintern noch verfestigt wurde – zu einem strukturellen Hindernis für die Neuformierung vereinigter sozialistischer Parteien.
Wenn man bedenkt, dass dem Anspruch der Komintern seither kein sozialistisches Projekt auch nur halbwegs nahegekommen ist, verwundert es nicht, dass sie weiterhin eine wichtige Rolle für die politische Vorstellungswelt vieler Sozialisten spielt. Da wir heute keine eigenen Erfahrungen in der Massenpolitik haben, aus der wir schöpfen können, haben sich Generationen von Aktivistinnen und Aktivisten stattdessen darauf fixiert, die Irrungen und Wirrungen vergangener Revolutionen zu analysieren, in der Hoffnung, dabei auf historische Wahrheiten und Gesetzmäßigkeiten zu stoßen.
Für viele, die sich radikalisierten, bevor der Begriff des Sozialismus mit dem überraschenden Aufstieg von Bernie Sanders wieder salonfähig wurde, bedeutete der Beitritt zu einer sozialistischen Organisation oft auch, eine bestimmte Haltung zur Komintern zu übernehmen. Für Trotzkisten wie Duncan Hallas hieß das, sich gemäß Trotzki »auf die Grundlage der ersten vier Kongresse der Komintern« zu stellen und ihre strategischen Lehren zu beherzigen. Doch worin bestanden diese Lehren genau?
Die politische Landschaft von heute und die von 1919 sind grundverschieden. Die Arbeiterbewegung stellt in keiner Weise mehr eine unmittelbare Gefahr für den Kapitalismus dar. Es sind nicht die Nachfahren der Komintern, die den Sozialismus wiederbeleben, sondern leidenschaftliche Aktivisten aus den etablierten Parteien des sozialdemokratischen Reformismus.
Wir stehen am Anfang einer möglichen sozialistischen Massenbewegung – und wir können es uns nicht leisten, diese Chance verstreichen zu lassen. Natürlich ist unsere Lage heute mit der Situation in Russland 1917 und Chemnitz 1923 nicht zu vergleichen. Anstatt die Komintern als direktes Vorbild zu nehmen, sollten wir versuchen, ihre Rolle innerhalb des historischen Entwicklungsgefüges der sozialistischen Bewegung zu begreifen. Als die Komintern gegründet wurde, existierten Massenarbeiterparteien bereits seit Jahrzehnten und hatten in den kapitalistischen Kernländern eine Reihe wichtiger Zugeständnisse erkämpft. Um sie herum hatte sich eine ganze Lebenswelt entwickelt, die Millionen von Menschen nicht nur dazu bewog, sich symbolisch in den Wahlprozess einzubringen, sondern auch in eine Gemeinschaft, die dem Entstehen einer sozialistischen Gesellschaft zuversichtlich entgegen blickte und in ihrem Glauben durch unmittelbare Erfolge gestärkt wurde.
Die Unterscheidung zwischen Revolution und Reform ist heute weniger maßgebend. Angesichts der Tatsache, dass das Engagement für den organisierten Klassenkampf weiter an einem historischem Tiefpunkt ist und dass unnachgiebige Politikerinnen und Politiker wie Alexandria Ocasio-Cortez dem Sozialismus zu neuer Popularität verhelfen, wird deutlich, wo es langgeht. Dennoch mahnen einige Sozialistinnen und Sozialisten, wir sollten diesen Entwicklungen fernbleiben, »das Ruder nach links drehen« und für die »wirklichen Kämpfe« außerhalb der institutionellen Sphäre mobilisieren.
Dieser Einwand mag reizvoll und fraglos radikaler klingen, bleibt im Grunde aber in den alten Tagen der Komintern verhaftet – einer Zeit als sowohl der reformistische als auch der revolutionäre Sozialismus tatsächlich Massenbewegungen waren und die Entscheidung zwischen Reform oder Revolution eine wirkliche Bedeutung hatte. Das Problem liegt darin, dass es heutzutage keine revolutionäre Linke gibt, die überhaupt relevant ist. Wer sich dazu entscheidet, lieber auf Distanz zur parlamentarischen Politik zu gehen, stellt lediglich sicher, dass niemand auch nur mitbekommt, dass es überhaupt Sozialistinnen und Sozialisten gibt, die darum bemüht sind, das Ruder weiter nach links zu drehen.
Kommunistische Argumente hatten vor einem Jahrhundert reale Auswirkungen, weil sozialistische Politik in der konkreten Lebenswelt verankert war. Unsere Priorität muss es nun sein, dahin zu kommen, dass der Sozialismus wieder eine solche Rolle spielen kann. Was wir brauchen, sind konkrete Erfolge, die unsere Bewegung voranbringen und unserem zukünftigen Massenzuwachs den Boden bereiten. Daher wäre es auch unklug – vorerst zumindest –, den Komintern-Strategien zur Verwirklichung der Arbeiterklassenherrschaft nachzueifern.
Trotz all ihrer Fehler und ihres späteren Zerfalls bleibt die kommunistische Bewegung ein wesentlicher Teil der Geschichte des Sozialismus. Ihr Scheitern verdeutlicht letztlich, wie dringend unser gemeinsames politisches Projekt ist und was dabei auf dem Spiel steht. Wir sollten die Ernsthaftigkeit und Hingabe der früheren Sozialisten würdigen und sie uns – mit Bedacht – zum Vorbild nehmen.
Ebenso sollten wir beherzigen, dass der Internationalismus ein unverzichtbarer Bestandteil des sozialistischen Projekts ist. Wie Clara Zetkin schrieb, hatte sich die Zweite Internationale »darauf beschränkt, Arbeitstreffen zur Zurechtlegung wohlklingender Beschlüsse abzuhalten«, und vermochte es im entscheidenden Moment nicht, den Krieg aufzuhalten. Die Komintern versuchte das wiedergutzumachen, indem sie sich zur zentral geführten Partei der Weltrevolution entwickelte, die mit der Zeit aber immer weniger strategische Flexibilität oder Meinungsvielfalt zuließ.
Der sozialistische Internationalismus muss also einen schmalen Grat beschreiten: Einerseits brauchen wir ein diszipliniertes und engagiertes globales Netzwerk von Sozialistinnen und Sozialisten, die sich darüber im Klaren sind, dass unser Kampf nur Erfolg haben kann, wenn er weltweit ausgetragen wird; andererseits braucht es aber auch Geduld, Offenheit und Bescheidenheit, damit potenzielle Chancen nicht der Orthodoxie zum Opfer fallen. Solange der Kapitalismus die Welt beherrscht, bleibt der Aufruf der Komintern aktuell: »Proletarier aller Länder! Im Kampfe gegen die imperialistische Barbarei, gegen die Monarchien, gegen die privilegierten Stände, gegen das bürgerliche Eigentum, gegen alle Arten und Formen der sozialen oder nationalen Bedrückung – vereinigt Euch!« Hoffen wir, dass es uns diesmal tatsächlich gelingt.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.