26. Mai 2022
Die Chancen, dass Brasiliens linker Ex-Präsident Lula da Silva wieder an die Macht kommt, stehen gut. Warum die brasilianische Rechte um Jair Bolsonaro dennoch gefährlich bleibt, erklären Sabrina Fernandes und Andre Pagliarini im Gespräch mit JACOBIN.
Luiz Inácio Lula da Silva, São Paulo, 21. April 2022.
Brasiliens ehemaliger Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ist endlich frei. In Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober führt er vor Amtsinhaber Jair Bolsonaro. Doch viele der Umstände, die Bolsonaro an die Macht brachten, bleiben unverändert. Große Agrarunternehmen haben die Wirtschaft fest im Griff. In Brasilien sind so viele Menschen in Gefangenschaft wie in kaum einem anderen Land. Die arbeitenden Klasse assoziiert Politik immer noch in erster Linie mit Korruption.
In einem Interview für den Podcast The Dig von Jacobin Radio sprach Daniel Denvir mit der ökosozialistischen Organizerin und Soziologin Sabrina Fernandes und Andre Pagliarini, Professor für Geschichte am Hampden-Sydney College. Sie diskutieren, inwiefern die brasilianische Linke ihre eigenen Vergangenheit aufgearbeitet hat und ob sie bereit ist, die diesjährigen Wahlen zu gewinnen. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit zusammengefasst und gekürzt, sowie durch Anmerkungen zu aktuellen Entwicklungen ergänzt.
DD: Bolsonaro konnte durch den sogenannten »Lava Jato«-Skandal, ein politisch motiviertes Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Korruption, im Zuge dessen Lula inhaftiert wurde, überhaupt erst Präsident werden. Doch nun ist Lula wieder frei und führt die Umfragen zur Präsidentschaftswahl an, während Bolsonaros Zustimmungswerte im Keller sind. Was hat sich seit 2018 verändert?
SF: Die »Lava Jato«-Affäre ist schlicht und einfach in sich zusammengefallen. Sie ist nicht mehr glaubwürdig. Bolsonaro hat seine Versprechen auf Privatisierungen gegenüber den Finanzmärkten nicht eingehalten. Sein Umgang mit der Pandemie war katastrophal, auch für seine ehemaligen Anhängerinnen und Anhänger – über 600.000 Menschen sind gestorben. Anfangs gab es keine Impfstoffe, das Problem wurde geleugnet, und öffentliche Dienstleistungen wurden auf verheerende Art und Weise vernachlässigt. Viele Leute haben Bolsonaro vielleicht unterstützt, weil sie dachten: »Er stellt sich gegen das System und bekämpft die Korruption, probieren wir es also einmal mit ihm«. Aber es ist immer offensichtlicher geworden, dass seine ganze Familie korrupt ist.
AP: Bolsonaro ist einfach überhaupt nicht in sein Amt hineingewachsenen. Viele haben ihn im Wissen gewählt, dass er ein im Parlament ein Hinterbänkler war, der nie mit einer greifbaren eigenen Agenda aufgefallen ist. Er war einfach nur ein Reaktionärer. Aber sie dachten sich, dass er es vielleicht im Amt zu mehr bringen würde, da ihnen die Alternative, die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) nicht zusagte.
Hier gibt es gewissen Ähnlichkeiten zu den USA, wo ebenfalls viele Wählerinnen und Wähler sich die Nase zugehalten und für Trump gestimmt haben. Dort dachten sie sich: »Wir kennen diese Clintons und die Demokraten. Wir sollten es einmal mit Trump versuchen«. 2020 sind dann teilweise Wählerinnen und Wähler von Trump zu Biden zurückgekehrt.
DD: Bolsonaro hat im September 2021 zu Massenproteste gegen das Justizsystem aufgerufen, als Ermittlungen gegen ihn eingeleitet wurden. Vor ihrem Beginn gab es Bedenken, hierbei könne es sich um einen Probelauf für einen Putschversuch handeln. Welchen Zweck hatten diese Proteste und was ist tatsächlich vorgefallen?
SF: Die Proteste waren nicht besonders eindrucksvoll, wenn man bedenkt, wie viel Kapital Bolsonaros Verbündete in sie investiert haben. Sein gesamtes Netzwerk war Teil davon und online sind die Bolsonaristas sehr gut vernetzt. Sie sind in Fake-News-Kanäle eingebunden und versuchen sicherzustellen, dass die Leute Bolsonaros Narrative vorgesetzt bekommen.
Es haben sich genug Menschen versammelt, um zu beweisen, dass Bolsonaro nicht gänzlich irrelevant ist. Ich hatte das Gefühl, dass bestimmte Teile der Linken dachten, »das Problem Bolsonaro hat sich erledigt«. Ich kann dieser Einschätzung nur vehement widersprechen. Es kann gut sein, dass die Demonstrationen, wie erwähnt, eine Art Generalprobe und Machtdemonstration gegenüber dem Justizsystem waren. Bolsonaro ist mit bestimmten Richterinnen und Richtern am Obersten Gericht aneinander geraten, die es gewagt haben, seine Machenschaften unter die Lupe zu nehmen. Letztes Jahr hat er versucht, die Luftwaffe dazu zu bringen, mit Kampfflugzeugen so tief über das Gericht zu fliegen, dass dort die Fensterscheiben zerbrochen wären.
AP: Bolsonaro steht mit dem Obersten Gerichtshof offensichtlich auf Kriegsfuß, seit einer der Richter sich weigerte, Bolsonaros Sohn vor Strafverfolgung abzuschirmen. Eine sehr konsistente Botschaft, die Bolsonaro seine ganze Karriere lang verbreitet hat, lautet: Finger weg von meiner Familie. Sein Ärger wird noch weitere Gründe haben, aber letztlich geht es hier um persönliche, materielle Angelegenheiten. Die Demonstrationen vom 7. September 2021 zielten also auch darauf ab, das Oberste Gericht einzuschüchtern.
Sie waren auch deshalb ein solcher Reinfall, weil es als Bolsonaro-Anhängerin inzwischen schwierig geworden ist, nachzuvollziehen, worüber man sich gerade eigentlich genau aufregen soll. Warum hat er ein Problem mit dem Obersten Gericht? Welches seiner Anliegen blockiert es? Worum geht es bei dem ganzen Drama um seinen Sohn? Vielleicht sieht man seine persönlichen Streitereien mit bestimmten Richterinnen und Richtern nicht als besonders dringendes Anliegen an, für das man unbedingt auf die Straße gehen müsste. Der 7. September war also entweder der Beginn eines Probelaufs oder der erste Hinweis darauf, dass sich Bolsonaro von seiner Anhängerschaft entfremdet und nicht mehr in der Lage ist, sie für seine persönlichen Interessen einzuspannen.
DD: Glaubt Ihr, dass Bolsonaro keine Bedrohung, eine ernstzunehmende Bedrohung oder gerade aufgrund seiner Schwächen eine Bedrohung ist?
SF: Er ist eine Bedrohung, weil er der Präsident von Brasilien ist. Dieser Mann hätte es niemals an die Macht schaffen dürfen. Solange er im Amt bleibt ist er ein lebensgefährliches Risiko für das Land. Bolsonaro muss aufgehalten werden, koste es, was es wolle.
Er hat es unter anderem deswegen an die Macht geschafft, weil wir ihn unterschätzt haben. Wir haben uns damals gesagt: »Die traditionelle Rechte wird sich auf einem Typen wie ihn niemals einlassen.« Aber die Rechte hat verstanden, dass jemand wie Bolsonaro die beste Option darstellte, die institutionelle Linke auszuschalten. Die traditionelle Rechte hat heute Schwierigkeiten, Bolsonaros Platz wieder einzunehmen, denn er hat sich als stärker erwiesen, als sie dachten.
AP: Wirkliche Sorgen bereitet mir, dass die Dynamiken, die Bolsonaro 2018 an die Macht halfen wieder greifen könnten, wenn der Wahltag einmal näher rückt. Bolsonaros Hauptanliegen wird sein, den Antipetismo [Ablehnung der Arbeiterpartei] wieder aufflammen zu lassen. Ein erneuter Ausbruch von Antipetismo könnte seine Position stärken. Aber im Moment erscheint er schwach. 2018 war er für ihn leichter, Öl ins Feuer zu gießen, alles brennen zu lassen, und den Leuten dann zu sagen: »Ihr lebt in der Hölle«. 2022 kann er das nicht mehr so leicht. Ich mache mir Hoffnungen, dass er verlieren könnte.
SF: Der Antipetismo stellt ein Problem dar, denn die Linke hat noch keinen Umgang damit gefunden. Manchmal verwechseln die Anhängerinnen und Anhänger der Arbeiterpartei jegliche Kritik, auch konstruktive, mit Antipetismo.
Gleichzeitig fühlen sich bestimmte Teile der Linken am wohlsten damit, die PT als rechts darzustellen oder Geschichtsklitterung über die Partei oder Lula zu betreiben. Sie sprechen der PT ihre Erfolge ab und ordnen alles in die gleichen Erzählungen ein, die die Rechte seit Jahrzehnten verbreitet. Oder sie behaupten, die Arbeiterpartei sei korrupt, ohne das Korruptionsproblem in der brasilianischen Gesellschaft wirklich zu analysieren. Innerhalb der PT gibt es viel Streit über die Fragen des Klassenkompromisses und Lulaismus, über Strategien des Regierens und den Umgang mit dem Rest der Linken.
DD: In Brasilien prallt die Autorität der Institutionen und Gerichtsbarkeit auf Bolsonaros Autoritarismus. Allerdings ist eben diese institutionelle, juristische Autorität keine glaubhafte Verteidigerin der Demokratie, da sie Bolsonaro den Weg zur Macht geebnet hat. Hat die PT eine linke Kritik am Bolsonarismo formuliert, die über die Verteidigung der Institutionen gegen seinen Illiberalismus hinausgeht?
AP: Lula versucht, eine substanziellere, linke Kritik am Bolsonarismo vorzubringen – und sie verfängt auch. Versteht mich nicht falsch; ich halte das für sehr wichtig. Aber die Frage, inwiefern sie die institutionelle Normalität für sich beanspruchen sollte, wo dieser Normalzustand für die meisten Brasilianerinnen und Brasilianer doch alles andere als vorteilhaft war, ist ein Dilemma, dem sich Lula und die PT in diesem Wahlkampf stellen müssen. Reicht es aus, die Rückkehr zur Normalität zu versprechen? Oder kann ein zukünftiger Bolsonaro nur durch eine tiefgreifende Umgestaltung dieser Institutionen verhindert werden?
SF: Über viele Jahre dachten die Leute, der Oberste Gerichtshof sei eine neutrale, technokratische Institution, die nur auf das Gesetz blickt. Den Richterinnen und Richtern wurde vertraut. Die Ermittlungen zu Lava Jato haben selbst von links eine Menge Unterstützung erfahren, da das Oberste Gericht Untersuchungen durchgeführt hat, die schon lange fällig waren.
Die Ansicht, dass alle Politikerinnen und Parteien Diebe seien, war schon zuvor ein Problem, aber 2013 hatten manche dann den Impuls, dem Justizsystem zu vertrauen, weil die Parteien vollständig diskreditiert waren. Es gibt Linke, die diese Meinung teilen, aber diese Position birgt ihre eigenen Gefahren, denn das Strafverfolgungswesen ist schließlich bürgerlich und repressiv. Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir glauben, diese Institutionen wären auf unserer Seite, wenn Figuren wie Bolsonaro sich nicht an die Regeln halten. Der Oberste Gerichtshof könnte Bolsonaro näher stehen als einer linken Alternative, vor allem wenn diese eine radikalere Politik verfolgt.
AP: Die Ermittlungen von [Sergio] Moro haben auf der Linken das Bewusstsein dafür geschärft, dass wir es mit einer politisierten Justiz aufnehmen müssen. Ich hoffe, dass diese Kritik weiterentwickelt wird – denn im Moment ist nur von Lulas Fall der Rede. Tausende Menschen in Brasilien sind inhaftiert. Sie erhalten nicht die gleiche öffentliche Unterstützung wie Lula, aber auch sie sind Opfer eines grausamen Justizsystems, das mit Gleichgültigkeit auf die Mehrheit der Brasilianerinnen und Brasilianer blickt.
DD: 2013 gab eine große linke Massenbewegung gegen die Unzulänglichkeiten der linken Regierung. Die Menschen haben kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und andere Dienstleistungen verlangt. Aber 2015 war der Diskurs bereits durch das Thema Korruption bestimmt. In der allgemeinen Vorstellung wird Korruption mit der Linken und mit der Regierung der PT verbunden. Wie konnte sich zwischen 2013 und 2015 so viel ändern?
AP: Was sich zwischen 2013 und 2018 abgespielt hat ist, wenn man die Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachtet, nicht außergewöhnlich. Es gab Momente, an denen man sehr deutlich und beispielhaft ablesen konnte, wie Inkompetenz, Korruption und politisch ungebundene Unzufriedenheit missbraucht werden können, vor allem innerhalb der Generation, die den Putsch von 1964 nicht miterlebt hat. Sowohl 1964 als auch 2013 lautete die Frage: »Wer profitiert politisch von diesem Moment und diesen Umständen«?
Sabrina Fernandes ist eine brasilianische öko-sozialistische Organizerin und Referentin. Sie hat in Soziologie an der Carleton University, Kanada, promoviert und ist Postdoktorandin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Außerdem betreibt sie den marxistischen Youtube-Kanal Tese Onze.