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26.05.2022

Kommt Lula bald zurück?

Die Chancen, dass Brasiliens linker Ex-Präsident Lula da Silva wieder an die Macht kommt, stehen gut. Warum die brasilianische Rechte um Jair Bolsonaro dennoch gefährlich bleibt, erklären Sabrina Fernandes und Andre Pagliarini im Gespräch mit JACOBIN.

Luiz Inácio Lula da Silva, São Paulo, 21. April 2022.

Luiz Inácio Lula da Silva, São Paulo, 21. April 2022.

IMAGO / Fotoarena.

Interview mit Sabrina Fernandes und Andre Pagliarini geführt von Daniel Denvir

Übersetzung von Alexander Brentler

Brasiliens ehemaliger Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ist endlich frei. In Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober führt er vor Amtsinhaber Jair Bolsonaro. Doch viele der Umstände, die Bolsonaro an die Macht brachten, bleiben unverändert. Große Agrarunternehmen haben die Wirtschaft fest im Griff. In Brasilien sind so viele Menschen in Gefangenschaft wie in kaum einem anderen Land. Die arbeitenden Klasse assoziiert Politik immer noch in erster Linie mit Korruption.

In einem Interview für den Podcast The Dig von Jacobin Radio sprach Daniel Denvir mit der ökosozialistischen Organizerin und Soziologin Sabrina Fernandes und Andre Pagliarini, Professor für Geschichte am Hampden-Sydney College. Sie diskutieren, inwiefern die brasilianische Linke ihre eigenen Vergangenheit aufgearbeitet hat und ob sie bereit ist, die diesjährigen Wahlen zu gewinnen. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit zusammengefasst und gekürzt, sowie durch Anmerkungen zu aktuellen Entwicklungen ergänzt.

DD: Bolsonaro konnte durch den sogenannten »Lava Jato«-Skandal, ein politisch motiviertes Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Korruption, im Zuge dessen Lula inhaftiert wurde, überhaupt erst Präsident werden. Doch nun ist Lula wieder frei und führt die Umfragen zur Präsidentschaftswahl an, während Bolsonaros Zustimmungswerte im Keller sind. Was hat sich seit 2018 verändert?

SF: Die »Lava Jato«-Affäre ist schlicht und einfach in sich zusammengefallen. Sie ist nicht mehr glaubwürdig. Bolsonaro hat seine Versprechen auf Privatisierungen gegenüber den Finanzmärkten nicht eingehalten. Sein Umgang mit der Pandemie war katastrophal, auch für seine ehemaligen Anhängerinnen und Anhänger – über 600.000 Menschen sind gestorben. Anfangs gab es keine Impfstoffe, das Problem wurde geleugnet, und öffentliche Dienstleistungen wurden auf verheerende Art und Weise vernachlässigt. Viele Leute haben Bolsonaro vielleicht unterstützt, weil sie dachten: »Er stellt sich gegen das System und bekämpft die Korruption, probieren wir es also einmal mit ihm«. Aber es ist immer offensichtlicher geworden, dass seine ganze Familie korrupt ist.

AP: Bolsonaro ist einfach überhaupt nicht in sein Amt hineingewachsenen. Viele haben ihn im Wissen gewählt, dass er ein im Parlament ein Hinterbänkler war, der nie mit einer greifbaren eigenen Agenda aufgefallen ist. Er war einfach nur ein Reaktionärer. Aber sie dachten sich, dass er es vielleicht im Amt zu mehr bringen würde, da ihnen die Alternative, die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) nicht zusagte.

Hier gibt es gewissen Ähnlichkeiten zu den USA, wo ebenfalls viele Wählerinnen und Wähler sich die Nase zugehalten und für Trump gestimmt haben. Dort dachten sie sich: »Wir kennen diese Clintons und die Demokraten. Wir sollten es einmal mit Trump versuchen«. 2020 sind dann teilweise Wählerinnen und Wähler von Trump zu Biden zurückgekehrt.

DD: Bolsonaro hat im September 2021 zu Massenproteste gegen das Justizsystem aufgerufen, als Ermittlungen gegen ihn eingeleitet wurden. Vor ihrem Beginn gab es Bedenken, hierbei könne es sich um einen Probelauf für einen Putschversuch handeln. Welchen Zweck hatten diese Proteste und was ist tatsächlich vorgefallen?

SF: Die Proteste waren nicht besonders eindrucksvoll, wenn man bedenkt, wie viel Kapital Bolsonaros Verbündete in sie investiert haben. Sein gesamtes Netzwerk war Teil davon und online sind die Bolsonaristas sehr gut vernetzt. Sie sind in Fake-News-Kanäle eingebunden und versuchen sicherzustellen, dass die Leute Bolsonaros Narrative vorgesetzt bekommen.

Es haben sich genug Menschen versammelt, um zu beweisen, dass Bolsonaro nicht gänzlich irrelevant ist. Ich hatte das Gefühl, dass bestimmte Teile der Linken dachten, »das Problem Bolsonaro hat sich erledigt«. Ich kann dieser Einschätzung nur vehement widersprechen. Es kann gut sein, dass die Demonstrationen, wie erwähnt, eine Art Generalprobe und Machtdemonstration gegenüber dem Justizsystem waren. Bolsonaro ist mit bestimmten Richterinnen und Richtern am Obersten Gericht aneinander geraten, die es gewagt haben, seine Machenschaften unter die Lupe zu nehmen. Letztes Jahr hat er versucht, die Luftwaffe dazu zu bringen, mit Kampfflugzeugen so tief über das Gericht zu fliegen, dass dort die Fensterscheiben zerbrochen wären.

AP: Bolsonaro steht mit dem Obersten Gerichtshof offensichtlich auf Kriegsfuß, seit einer der Richter sich weigerte, Bolsonaros Sohn vor Strafverfolgung abzuschirmen. Eine sehr konsistente Botschaft, die Bolsonaro seine ganze Karriere lang verbreitet hat, lautet: Finger weg von meiner Familie. Sein Ärger wird noch weitere Gründe haben, aber letztlich geht es hier um persönliche, materielle Angelegenheiten. Die Demonstrationen vom 7. September 2021 zielten also auch darauf ab, das Oberste Gericht einzuschüchtern.

Sie waren auch deshalb ein solcher Reinfall, weil es als Bolsonaro-Anhängerin inzwischen schwierig geworden ist, nachzuvollziehen, worüber man sich gerade eigentlich genau aufregen soll. Warum hat er ein Problem mit dem Obersten Gericht? Welches seiner Anliegen blockiert es? Worum geht es bei dem ganzen Drama um seinen Sohn? Vielleicht sieht man seine persönlichen Streitereien mit bestimmten Richterinnen und Richtern nicht als besonders dringendes Anliegen an, für das man unbedingt auf die Straße gehen müsste. Der 7. September war also entweder der Beginn eines Probelaufs oder der erste Hinweis darauf, dass sich Bolsonaro von seiner Anhängerschaft entfremdet und nicht mehr in der Lage ist, sie für seine persönlichen Interessen einzuspannen.

DD: Glaubt Ihr, dass Bolsonaro keine Bedrohung, eine ernstzunehmende Bedrohung oder gerade aufgrund seiner Schwächen eine Bedrohung ist?

SF: Er ist eine Bedrohung, weil er der Präsident von Brasilien ist. Dieser Mann hätte es niemals an die Macht schaffen dürfen. Solange er im Amt bleibt ist er ein lebensgefährliches Risiko für das Land. Bolsonaro muss aufgehalten werden, koste es, was es wolle.

Er hat es unter anderem deswegen an die Macht geschafft, weil wir ihn unterschätzt haben. Wir haben uns damals gesagt: »Die traditionelle Rechte wird sich auf einem Typen wie ihn niemals einlassen.« Aber die Rechte hat verstanden, dass jemand wie Bolsonaro die beste Option darstellte, die institutionelle Linke auszuschalten. Die traditionelle Rechte hat heute Schwierigkeiten, Bolsonaros Platz wieder einzunehmen, denn er hat sich als stärker erwiesen, als sie dachten.

AP: Wirkliche Sorgen bereitet mir, dass die Dynamiken, die Bolsonaro 2018 an die Macht halfen wieder greifen könnten, wenn der Wahltag einmal näher rückt. Bolsonaros Hauptanliegen wird sein, den Antipetismo [Ablehnung der Arbeiterpartei] wieder aufflammen zu lassen. Ein erneuter Ausbruch von Antipetismo könnte seine Position stärken. Aber im Moment erscheint er schwach. 2018 war er für ihn leichter, Öl ins Feuer zu gießen, alles brennen zu lassen, und den Leuten dann zu sagen: »Ihr lebt in der Hölle«. 2022 kann er das nicht mehr so leicht. Ich mache mir Hoffnungen, dass er verlieren könnte.

SF: Der Antipetismo stellt ein Problem dar, denn die Linke hat noch keinen Umgang damit gefunden. Manchmal verwechseln die Anhängerinnen und Anhänger der Arbeiterpartei jegliche Kritik, auch konstruktive, mit Antipetismo.

Gleichzeitig fühlen sich bestimmte Teile der Linken am wohlsten damit, die PT als rechts darzustellen oder Geschichtsklitterung über die Partei oder Lula zu betreiben. Sie sprechen der PT ihre Erfolge ab und ordnen alles in die gleichen Erzählungen ein, die die Rechte seit Jahrzehnten verbreitet. Oder sie behaupten, die Arbeiterpartei sei korrupt, ohne das Korruptionsproblem in der brasilianischen Gesellschaft wirklich zu analysieren. Innerhalb der PT gibt es viel Streit über die Fragen des Klassenkompromisses und Lulaismus, über Strategien des Regierens und den Umgang mit dem Rest der Linken.

DD: In Brasilien prallt die Autorität der Institutionen und Gerichtsbarkeit auf Bolsonaros Autoritarismus. Allerdings ist eben diese institutionelle, juristische Autorität keine glaubhafte Verteidigerin der Demokratie, da sie Bolsonaro den Weg zur Macht geebnet hat. Hat die PT eine linke Kritik am Bolsonarismo formuliert, die über die Verteidigung der Institutionen gegen seinen Illiberalismus hinausgeht?

AP: Lula versucht, eine substanziellere, linke Kritik am Bolsonarismo vorzubringen – und sie verfängt auch. Versteht mich nicht falsch; ich halte das für sehr wichtig. Aber die Frage, inwiefern sie die institutionelle Normalität für sich beanspruchen sollte, wo dieser Normalzustand für die meisten Brasilianerinnen und Brasilianer doch alles andere als vorteilhaft war, ist ein Dilemma, dem sich Lula und die PT in diesem Wahlkampf stellen müssen. Reicht es aus, die Rückkehr zur Normalität zu versprechen? Oder kann ein zukünftiger Bolsonaro nur durch eine tiefgreifende Umgestaltung dieser Institutionen verhindert werden?

SF: Über viele Jahre dachten die Leute, der Oberste Gerichtshof sei eine neutrale, technokratische Institution, die nur auf das Gesetz blickt. Den Richterinnen und Richtern wurde vertraut. Die Ermittlungen zu Lava Jato haben selbst von links eine Menge Unterstützung erfahren, da das Oberste Gericht Untersuchungen durchgeführt hat, die schon lange fällig waren.

Die Ansicht, dass alle Politikerinnen und Parteien Diebe seien, war schon zuvor ein Problem, aber 2013 hatten manche dann den Impuls, dem Justizsystem zu vertrauen, weil die Parteien vollständig diskreditiert waren. Es gibt Linke, die diese Meinung teilen, aber diese Position birgt ihre eigenen Gefahren, denn das Strafverfolgungswesen ist schließlich bürgerlich und repressiv. Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir glauben, diese Institutionen wären auf unserer Seite, wenn Figuren wie Bolsonaro sich nicht an die Regeln halten. Der Oberste Gerichtshof könnte Bolsonaro näher stehen als einer linken Alternative, vor allem wenn diese eine radikalere Politik verfolgt.

AP: Die Ermittlungen von [Sergio] Moro haben auf der Linken das Bewusstsein dafür geschärft, dass wir es mit einer politisierten Justiz aufnehmen müssen. Ich hoffe, dass diese Kritik weiterentwickelt wird – denn im Moment ist nur von Lulas Fall der Rede. Tausende Menschen in Brasilien sind inhaftiert. Sie erhalten nicht die gleiche öffentliche Unterstützung wie Lula, aber auch sie sind Opfer eines grausamen Justizsystems, das mit Gleichgültigkeit auf die Mehrheit der Brasilianerinnen und Brasilianer blickt.

DD: 2013 gab eine große linke Massenbewegung gegen die Unzulänglichkeiten der linken Regierung. Die Menschen haben kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und andere Dienstleistungen verlangt. Aber 2015 war der Diskurs bereits durch das Thema Korruption bestimmt. In der allgemeinen Vorstellung wird Korruption mit der Linken und mit der Regierung der PT verbunden. Wie konnte sich zwischen 2013 und 2015 so viel ändern?

AP: Was sich zwischen 2013 und 2018 abgespielt hat ist, wenn man die Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachtet, nicht außergewöhnlich. Es gab Momente, an denen man sehr deutlich und beispielhaft ablesen konnte, wie Inkompetenz, Korruption und politisch ungebundene Unzufriedenheit missbraucht werden können, vor allem innerhalb der Generation, die den Putsch von 1964 nicht miterlebt hat. Sowohl 1964 als auch 2013 lautete die Frage: »Wer profitiert politisch von diesem Moment und diesen Umständen«?

Dilma Rousseff wurde 2014 knapp wiedergewählt, denn die Linke hatte damals ein Erfolgsrezept, dass sie fast unschlagbar machte. In ihrem Frust über den Wahlausgang sahen die Konservativen und der Rechten dann eine Gelegenheit, die sie opportunistisch ergriffen. 1930 gab es einen ähnlichen Moment der Brüchigkeit, in dem Getúlio Vargas und seine geschäftsführende Regierung an die Macht kamen.

SF: Das Klassenbewusstsein der Proteste von 2013 war sehr ausgeprägt. Doch mit ihrem Anwachsen wurde ihre Botschaft verwässert. Die Mittelschicht, die sehr an den Erzählungen über eine korrupte Linke hing, schloss sich ihnen an. Das Schlagwort Korruption formte ein Bindeglied und wurde zum Hauptfeind. Die Rechte konnte sich dieses Feindbild zunutze machen, da die Linke es versäumt hatte, eine solide Basis zu etablieren und ihr zu vermitteln, wie der Kampf gegen die Korruption nach ihren Vorstellungen aussehen könnte. Die Aussage der Rechten, »Korruption ist das Grundübel, das Brasilien zerstört«, konnte die Menschen eher mobilisieren und überzeugen.

In kleinerem Rahmen hat sich während der Proteste zur Fußballweltmeisterschaft 2014 das gleiche abgespielt, als kleinere linke Parteien und Bewegungen versuchten, die Machenschaften rund um das von der FIFA organisierte Mega-Event angemessen zu kritisieren. Aber es bestand das Risiko, dass eine Kritik am Turnier als Angriff auf die PT-Regierung aufgefasst werden würde. Die Wahlen haben im Oktober [vier Monate nach der Weltmeisterschaft] stattgefunden und die Rechte hat ihre Niederlage nicht akzeptiert.

AP: Die Linke hat eine Gelegenheit verpasst, ihren Antikorruptions- und Anti-Privilegien-Diskurs zu einer Kritik des brasilianischen Kapitalismus auszubauen. Aber, wie immer, wurde der Staat durch Kräfte unterwandert, die organisch mit dem Kapital verbunden sind. Die Rechte hat das Potenzial der Antikorruptionspolitik erkannt, und die Aussage »[Politik ] ist nichts weiter als Korruption und Privilegien« wurde zum Gemeinplatz.

Das hat schließlich dazu geführt, dass sich Kandidatinnen und Kandidaten im Wahlkampf als Außenseiter präsentierten, ganz so, als würden sie nicht für die gleichen alten Interessen einstehen. Dieser Diskurs hätte sich vielleicht in eine produktive Richtung entwickeln können, aber die PT als Partei war damals erstarrt. Sie war nicht in der Lage, die Frustration der Menschen zu kanalisieren und wurde von der Bewegung kalt erwischt.

SF: Dilma hat sich über diese Bedrohungen Sorgen gemacht. Doch statt eine kohärente Strategie gegen einen möglichen Putsch zu entwickeln, hat sie ein wenig nachgegeben. Und sie hat im Rückblick zugegeben, dass das ein Fehler war. Die Arbeiterpartei hat mit ihrer Kampagne gegen den Putsch erst so richtig angefangen, als das Amtsenthebungsverfahren [gegen Dilma] durch die Unterstützung des Vizepräsidenten, Michel Temer, auf einmal sehr viel näher rückte. Aber sie hätten die Menschen schon 2014 mobilisieren müssen. Die PT ist damals sehr selbstbewusst aufgetreten, da es ihr immer gelungen war, Allianzen zwischen Links und Rechts zu schmieden, doch nach 2013 hat sich das geändert.

DD: Hat sich das politische Bewusstsein in Brasilien radikal gewandelt, seit die PT zum ersten Mal an die Macht kam?

AP: Am unteren Ende der Gesellschaftspyramide gab es einen echten Wandel, der nun bedroht ist. Der Lebensstandard die ärmsten Brasilianerinnen und Brasilianer hat sich unter der PT-Regierung merklich verbessert. Dadurch hat die reaktionäre Mittelschicht zu einem gewissen Grad ihren Status bedroht gesehen. Die breite, urbane Mittelklasse hat sich den Favelados – den Leuten, die sie auf der Straße betteln sahen – immer überlegen gefühlt. Sie haben darauf gehofft, eines Tages so reich zu werden wie die Wirtschaftsmagnaten, vor allem diejenigen, die während der PT-Regierung zu den Gewinnern gehörten.

Heute geht es den unteren Schichten deutlich schlechter. Bolsonaro hat die Bolsa Família [Kindergeld] abgeschafft. Er hat ein neues Sozialprogramm vorgeschlagen, um sie zu ersetzten, aber man bekommt das Gefühl, dass viele Menschen durchs Raster fallen könnten. Ich glaube, Lula wird mit dem Versprechen antreten, die Fortschritte, die unter der PT für die unteren Schichten erzielt wurden, wiederherzustellen. Aber ich mache mir Sorgen, dass die PT noch keine Antwort auf die reaktionäre Welle gefunden hat, die auf uns zu rollt. Die Welt ist heute eine andere als 2003 oder 2006. Die politischen Kräfteverhältnisse haben sich verschoben.

SF: Wir leben in einer anderen Welt, denn die Milliardäre haben begriffen, dass sie unter Bolsonaro noch reicher werden können. Sie müssen Lulas Spiel nicht mehr mitspielen und ihm etwas bieten, damit er ihnen im Gegenzug einen Gefallen tut. Das ist der Fluch einer abhängigen kapitalistischen Klasse in einem Land wie Brasilien – es kann ihnen eigentlich egal sein, ob die arbeitenden Klasse in der Lage ist, Waren und Dienstleistungen im Inland zu konsumieren. Der brasilianische Real hat sehr stark an Wert verloren. Für alle, die einfach nur Rohstoffe exportieren wollen, ist das sehr vorteilhaft. Fleisch wird in Kühlcontainern gelagert, statt damit die Menschen zu ernähren, weil Unternehmen mit dem Export, etwa nach China, höhere Gewinnen erzielen wollen.

DD: Es wird oft behauptet, Bolsonaros Anhängerschaft setze sich aus drei Gruppen zusammen: »Beef, bible, and bullet«, also der agroindustriellen Fleischwirtschaft, den evangelikalen Kirchen und den Sicherheitskräften. Fangen wir einmal mit dem landwirtschaftlichen Großkapital an, welches den Amazonas-Regenwald mit rasender Geschwindigkeit zerstört und dabei seine Beschützerinnen und Beschützer ermordet. Wie habt sich diese Kräftebasis verändert, seit sie sich an Bolsonaro gebunden hat?

SF: Es ist etwas seltsam, die Agrarindustrie als eigene Klassenformation aufzufassen, denn schließlich hat sie dieses Land sehr lang autokratisch beherrscht. In gewisser Hinsicht sind Agrar[kapitalisten] also nicht die Machtbasis von Bolsonaro – sie sind Bolsonaro, und Bolsonaro gehört ihnen. Bolsonaro braucht die Agrarindustrie, um regieren und seine Ziele zu erreichen, denn an ihrem Land und ihrem Gewicht auf den Finanzmärkten und Dominanz der Exportwirtschaft heftet eine enorme Macht.

Diese ländliche Klasse hat in nicht hinreichend industrialisierten Ländern wie Brasilien sehr viel Einfluss. Auch unter Lula und Dilma waren sie sehr mächtig. Dilmas Landwirtschaftsminister war ein direkter Vertreter der Agrarindustrie. Es ist schwierig, sich ein Brasilien vorzustellen, das nicht nach der Pfeife des Agrarkapitals tanzt. Die Macht der Volkes und der sozialen Bewegungen müsste sehr fest verankert sein, um Agrarreformen durchzusetzen.

Vor den Wahlen wusste ich, dass Bolsonaros Chancen gut standen, als er anfing, Bilder von seinen Treffen mit den Agrarkapitalisten zu veröffentlichen. Bolsonaro ist strikt gegen landwirtschaftliche Reformen und die Anerkennung von territorialen Ansprüchen von Indigenen und traditionellen Gemeinschaften. Seine anti-ökologische Politik steht in direktem Zusammenhang mit seinen Verbindungen zur Agrarindustrie.

DD: Wie steht es um den Teil seiner Anhängerschaft, der sich aus den Kirchen rekrutiert? Haben dieselben Faktoren, die zur Wahl von Bolsonaro führten, viele Brasilianerinnen und Brasilianer dazu bewegt, vom Katholizismus zum evangelikalen Christentum zu konvertieren? Eines der katholischsten Länder der Welt hat sich dadurch in relativ kurzer Zeit sehr stark verändert.

AP: In in letzten drei Jahrzehnten hat eine Koalition aus evangelikalen Kirchen in Brasilien sehr stark auf Wachstum gesetzt. Aus ihrer Sicht mussten sie sich dazu auf eine brüchige Allianz mit der damals im Aufwind befindlichen Arbeiterpartei einlassen, der größten politischen Bewegung des Landes und der breiteren sozialen Basis, die sie repräsentierte.

In den letzten fünf Jahren haben die evangelikalen Kirchen realisiert, dass sie keine theologischen Zugeständnisse mehr machen mussten, da ihr reaktionäres Projekt immer in die größere Agenda des Wachstums eingebettet war. Wie andere kapitalistische Kräfte mussten sie unter Bolsonaro weniger Kompromisse eingehen.

Wenn es darum geht, Ämter zu besetzen und Politik zu machen, so sind die Evangelikalen diejenige Gruppe, die am wahrscheinlichsten übergangen wird. Bolsonaro hatte eigentlich versprochen, einen evangelikalen Richter an den Obersten Gerichtshof zu berufen, er hat aber dann davon abgesehen, möglicherweise aus ökonomischen Erwägungen. Die Evangelikalen sind wichtig, sie spielen im System Bolsonaro aber keine besonders zentrale Rolle.

SF: Bolsonaro gewährt den Evangelikalen Gefallen, sie haben Damares Alves als Ministerin für Frauen, Familien und Menschenrechte bekommen, und er erlaubt evangelikale Missionen in Indigenen Gemeinschaften. Aber die Frage ist ja, ob Bolsonaro diese Leute dauerhaft braucht, um zu regieren. Die evangelikale Gemeinschaften bilden nicht seine stärkste politische Säule. Es ist wichtig, sie für Wahlen zu mobilisieren, aber Bolsonaro kann ihnen auch einmal einen Wunsch verwehren und trotzdem weiterregieren. Die Evangelikalen haben sich geärgert, dass er sich bei der Ernennung von Alves so viel Zeit gelassen hat, aber sie haben es nicht geschafft, deswegen Massen auf die Straße zu bringen und ihn dazu zu zwingen.

Die Linke weiß nicht, wie sie mit dem Aufstieg der Evangelikalen umgehen soll. Vielerorts sind sie die einzigen, die für die Menschen in Not da sind, statt dass linke Organisationen diese Rolle einnehmen würden. Mache Organisationen reagieren mit Ablehnung auf den Glauben der Menschen. Es ist einfach dumm, mit einer solchen Haltung an etwas heranzugehen, dass den Leuten so viel bedeutet, nur weil man glaubt, sie werden manipuliert.

Trotzdem wäre es falsch, die Universelle Kirche – eine der größten evangelikalen Institutionen – zu loben, in ihren Tempel zu gehen, zu erzählen, dass dieses Land von Gott regiert wird, und die Beziehungen zu säkularen Kräften so zu beschädigen, wie es Dilma getan hat. Das ist vor allem in Bezug auf die Rechte von Frauen und Indigenen sehr wichtig. Beim Thema reproduktive Rechte kommen wir in Brasilien vor allem aufgrund des Einflusses dieser fundamentalistischen Institutionen nicht weiter.

AP: Die Evangelikalen werden bleiben. Wenn überhaupt nimmt ihre Bedeutung weiter zu, und die Linke muss sich mit ihnen auseinandersetzen und sie überzeugen. Die PT ist in ihren ersten Jahren auch unter anderem deswegen so schnell gewachsen, weil sie so fest in den Kirchengemeinden verankert war. Progressive katholischen Kirchengemeinden haben damals die gleiche Rolle gespielt wie die Evangelikalen heute. Wenn sich diese Gemeinden und die PT zurückziehen und ihr Einfluss schwindet, entsteht ein Machtvakuum. Es sollte uns nicht überraschen, dass Religion zu einem Mittel der Politik werden kann – nicht einmal unbedingt in böser Absicht – und dass die Menschen dann in Einklang mit ihren religiösen Überzeugungen Wahlentscheidungen treffen.

DD: Und schließlich gibt es da noch die Waffenträger. Wie ist es passiert, das bewaffnete Beamte zum Werkzeug reaktionärer politischer Akteure und zur Kernanhängerschaft der Reaktion selbst wurden? In welchem Zusammenhang steht diese soziale Basis zum populistische Ruf nach einem hart strafenden Staat?

SF: Für eine eigentlich zivile Regierung ist das Militär viel zu eng mit dem Projekt Bolsonaro verbunden. Das Militär muss sich wieder darauf beschränken, seine eigentlichen Aufgaben zu erfüllen. Im Gesundheitsministerium und vielen weiteren Bereichen der Regierung gibt das Militär inzwischen den Ton an, was auch zu Konflikten innerhalb der eigenen Reihen geführt hat. Der Vizepräsident der Streitkräfte ist in vielen Fragen mit anderen Generälen nicht einverstanden, doch er ist ein Bolsonarista.

Brasilien hat eine hohe Kriminalitätsrate und niedrige Aufklärungsquote. Die Leute glauben nicht daran, dass Verbrechen gelöst werden. Gleichzeitig sperren wir so viele Leute ein wie fast kein anderes Land auf der Welt. Das zeigt ja, wie absurd unser Justizsystem ist. Die Militärpolizei ist fester Bestandteil der Ideologie des Bolsonarismo, ebenso wie der Vorstellung, dass nur ein toter Verbrecher ein guter Verbrecher ist. Der Ausdruck von Gewalt und die Freiheit, sie auszuüben, sind Teil dieser Institution.

Bevor Bolsonaro an die Macht kam waren diese Umstände bereits sehr greifbar. Teilweise wird argumentiert, das sich für die Menschen in den Favelas nicht viel verändert hat, weil sie auch schon vor Bolsonaro abgeschlachtet wurden, und es unter Bolsonaro genauso weitergeht.

Aber wir haben genug Belege dafür, dass es Verbindungen zwischen der Familie Bolsonaro und den Milizen gibt. Die Milizen sind ein weiteres Symptom der Erosion der brasilianischen Demokratie. Wir wissen, dass sie mit dem Mord an der Stadträtin und Schwarzen Feministin Marielle Franco zu tun hatten. Wir versuchen bis heute, herauszufinden, wer wirklich hinter diesem Verbrechen steckt. Die Demokratie steckt nicht nur in einer institutionellen Krise. Weil die Bolsonarista-Milizen in manchen Teilen des Landes so einflussreich geworden sind, stellen sie ein viel gravierenderes Problem dar.

AP: Bolsonaro war in dieser Hinsicht erfinderisch. In vielen Aspekten zeichnet er sich durch mittelmäßige Kompetenz aus. Doch in dieser Frage unterscheidet er sich wirklich von anderen, was mit seinem Aufstieg in der Politik als typischer Militärangehöriger zu tun hat. Als er 1980 zum ersten Mal für den Stadtrat kandidierte, hat er sehr auf das Thema der Polizeigehälter gesetzt. Diese waren damals sehr niedrig, weshalb sich die Polizei von der Politik nicht respektiert fühlte. Er ist schnell zu einem beliebten Sprecher für dieser Interessengruppe aufgestiegen.

Während seiner Zeit im Kongress hat sich Bolsonaro dann nach und nach den Standardthemen der Rechten zugewandt, ohne seinen Markenkern aufzugeben. Er präsentiert sich also weiterhin als harten Militärtyp, der sich gewissermaßen direkt an der Front mit der Durchsetzung von Recht, Gesetz und Gewalt auseinandersetzt und sich durch die Menschenrechte eingeschränkt fühlt. Bolsonaro verkörpert die allgemeine Vorstellung, dass man an der gesellschaftlichen Gewaltfront bereit sein muss, jemandem eine Kugel in den Kopf zu jagen. Die Regierung Bolsonaro verbindet Politik mit öffentlicher Sicherheit. Es gibt ein selbstgerechtes und selbstverherrlichendes Narrativ über die Diktatur, welches besagt, dass ein beherztes Eingreifen notwendig ist, dass Demokratie zu Chaos führt und dass es eine harte Hand braucht.

Auch gibt es ein alltägliches Sicherheitsverständnis, das auf den Polizisten an der Straßenecke projiziert wird – aus diesem Polizist wird Bolsonaro. Er ist kein Sternegeneral, er ist ein ganz normaler Cop. Auch deshalb genießt er unter den einfachen Mitgliedern der Sicherheitsorgane diese furchteinflößende Loyalität. Am 7. September gab es Berichte darüber, dass Offiziere ihre Bataillone der Militärpolizei aufgefordert haben, auf die Straße zu gehen und Bolsonaro zu unterstützen.

DD: Taucht hier die Ideologie der Diktatur wieder auf oder ist das eher das Produkt von Widersprüchen, die durch die Demokratisierung nicht aufgelöst wurden?

SF: Es scheint, als würden wir uns im Kreis drehen, und das hat damit zu tun, wie die Diktatur in Brasilien überwunden wurde. Die Demokratisierung erfolgte nicht durch den uneingeschränkten Sieg der demokratischen Bewegungen, sondern auf Grundlage von Abmachungen mit vielen Interessengruppen, die uns vorsichtig aus der Diktatur heraus manövriert haben.

Das Militär sah sich damals mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert und hatte eine Menge Herausforderungen zu meistern. Es war also vorteilhaft für sie, zu verhandeln. Sie wollten sicherstellen, dass man sie für ihre Taten während der Diktatur nicht zur Rechenschaft stellen würde. Bis heute interessieren sich die traditionellen Medien nicht dafür, diese Zeit aufzuarbeiten, auch deshalb, weil sie selbst nicht ganz unschuldig sind. Globo, eines der größten Mediennetzwerke des Landes, war in die Diktatur verstrickt.

Mit dem Begriff »Diktatur« wird dauernd um sich geworfen. Nach dem Putsch gegen Dilma haben viele, vor allem innerhalb der PT, angefangen zu behaupten, dass wir unter Temer »in einer neuen Diktatur leben«. Diese Aussagen hatten eine depolitisierende Wirkung. Jetzt ist es für uns schwieriger geworden, zu erklären, dass wir damals eine echte Diktatur hatten und wir es heute mit einer Krise der Demokratie zu tun haben und verhindern müssen, dass sie sich vertieft.

Manchmal werden auch Beispiele für Dinge angeführt, die heute schlimm sind, aber die bereits unter Lula und Dilma schlimm waren. Polizeimorde und Gewalt gegen Indigene Gemeinschaften werden immer brutaler, aber sie gab es schon damals. Auf der Linken müssen wir uns mit unserer Verantwortung für die Art und Weise, wie wir damals damit umgegangen sind, auseinandersetzen. Wir müssen die Erinnerung an die Diktaturen in Brasilien neu ausgestalten. In diesem Land hab es in den letzten neunzig Jahren nur fünf direkt gewählte Präsidenten, die ihre Amtszeit tatsächlich zu Ende bringen konnten.

AP: Bolsonaro und der Bolsonarismo stehen in der Tradition der Diktatur. Das Regime hatte eine Vision und eine Rhetorik über Brasiliens Platz in der Welt, für die sich Bolsonaro nicht interessiert. Aber wir könnten den Bolsonarismo als Phänomen auf eine Strömung innerhalb der Diktatur zurückführen, die durch den Esquadrão da Morte, das Todesschwadron der Milizen, repräsentiert wurde.

Sie standen für eine Haltung, die gegen Ende der Diktatur innerhalb der Sicherheitskräfte vorherrschte – die Zeit, als Bolsonaro selbst beim Militär war. Teile der Streitkräfte betrachteten die Regierung als verweichlicht waren der Meinung, dass die Generäle aus Mangel an Vorsicht von der Demokratie redeten. Dadurch würde angeblich Kriminalität, Straflosigkeit und Korruption befördert. Sie hielten es für notwendig, innerhalb der unteren Ebenen Wachsamkeit zu bewahren, was die organisatorische Form dieser Todesschwadronen und später der Milizen angenommen hat.

Bis vor kurzem haben Bolsonaro und seine Familie die Milizen noch als Verteidiger der Ordnung gelobt, die einem größeren, gesichtslosen, dysfunktionalen und korrupten Staat gegenüberstehen. Die Gemeinsamkeit zwischen Bolsonaro und der Diktatur ist, dass sich das Militär, die Sicherheitskräfte und das Regime Sorgen machen, dass der Staat nicht genug tödliche Gewalt anwendet und nicht genug gegen die Sündenböcke der Korruption und der Linken unternimmt.

DD: Bolsonaro hat sich 2018 der Sozialliberalen Partei (Partido Social Liberal, PSL) bedient, um sich ins Amt wählen zu lassen. Hat er inzwischen so etwas wie einen Parteiapparat aufgebaut?

SF: Das ist ihm nicht gelungen. Nachdem er sich mit der PSL überworfen hat, war er parteilos. Er brauchte eine Lösung, wie er sich eine neue Partei aufbauen könnte. Er hat den Versuch einer Neugründung unternommen, aber es kamen nicht genug Unterschriften zusammen, um sie zur neuen Heimat der Bolsonaristas zu machen. Bolsonaro hat sich also nach einer bereits existierenden Formation umgesehen und sich mit der Liberalen Partei (Partido Liberal, PL) zusammengetan.

Auf der brasilianischen Rechten gibt es Konflikte, weil manche nicht mit Bolsonaro in Verbindung gebracht werden wollen. Sie möchten ihr eigenes Projekt aufbauen und sie machen sich Gedanken, dass Bolsonaro es als eine Plattform missbrauchen und dadurch zum Zusammenbruch bringen könnte. Bolsonaro war vorher schon in anderen Parteien. In Brasilien ist es nicht ungewöhnliches, dass Politikerinnen und Politiker die Partei wechseln, vor allem vom Zentrum zur Rechten, aber das gleiche Problem gibt es auch in der linken Mitte und auf der radikalen Linken. In Brasilien gibt es derzeit über dreißig ernstzunehmende Parteien, die Möglichkeiten für Wechsel sind also vielfältig.

AP: Es ist kein einfaches Unterfangen, eine ganz neue Partei aufzubauen. Marina Silva hat diese Erfahrung gemacht, als sie 2014 versuchte, ihre eigene Partei zu gründen. Es ist ein gutes Zeichen, dass Bolsonaro diesen Versuch unternommen hat, denn das bedeutet, dass er schwach ist. Letztendlich fehlt ihm der Fokus und die Kompetenz, diesen komplizierten Prozess zu durchlaufen.

Er ist der Präsident und es hätte ihm eigentlich gelingen sollen, Menschen für sein Projekt zu gewinnen. Aber seine Verhandlungen mit der Liberalen Partei mussten abgebrochen werden, weil er darauf bestand, dass sein Sohn Parteivorsitzender in São Paulo wird. Der Parteichef hat ihm gesagt: »Sie sind zwar der Präsident, aber in der Partei habe immer noch ich das Sagen.« Bolsonaro will eine Partei, die ihm Gehorsam leistet. Aber als Vorsitzender einer dieser kleinen Parteien hat man sehr viel von seinem Amt, das gibt man nicht so einfach auf.

Er hat gerade Schwierigkeiten damit, die Leute davon zu überzeugen, dass es sich überhaupt lohnt, ihn wieder antreten zu lassen. Doch er muss mit einer Partei assoziiert sein, um überhaupt kandidieren zu können.

DD: In Brasilien ist es unüblich, dass eine einzelne Partei, die des Präsidenten eingeschlossen, auch nur in die Nähe einer Mehrheit in den Kammern des Kongress kommt.

SF: Das ist einer der Gründe dafür, warum die PT behauptet, es gäbe keine Alternative dazu, zusammen mit der Agrarindustrie, den Banken und Bauunternehmen zu regieren. Bei über dreißig Parteien schaffen es nicht alle aus eigener Kraft ins Parlament. Sie müssen Allianzen bilden. Sie können Fraktionen oder ideologische Gruppen bilden oder mit allen anderen Parteien ihr opportunistisches Spiel spielen. Das wird als normal angesehen.

In Brasilien gibt es den Begriff des Centrão, des »großen Zentrums«, das hauptsächlich aus konservativen Parteien und Abgeordneten besteht. Ihre korporatistischen Interessen schweißen sie so eng zusammen, dass man ohne ihre Unterstützung bestimmte Gesetzte kaum durchs Parlament bringt. Jede Präsidentin und jeder Präsident versucht stets, das Centrão zu umgarnen. Das Centrão war auch für den Putsch gegen Dilma verantwortlich.

DD: Auf der brasilianischen Linken ist die Partei für Sozialismus und Freiheit (Partido Socialismo e Liberdade, PSOL) in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. 2020 hat es ihr Bürgermeisterkandidat in São Paulo, Guilherme Boulos, in die Stichwahl gegen einen konservativen Amtsinhaber von der Brasilianischen Sozialdemokratischen Partei (Partido da Social Democracia Brasileira, PSDB) geschafft.

Die PSDB hat die Wahl zwar gewonnen, aber inwiefern war es bemerkenswert, dass ein Kandidat der PSOL gegen sie angetreten ist und niemand von der PT, und dass Lula den Kandidaten der PSOL unterstützt hat? Hat Bolsonaros Amtszeit die Machtverhältnisse auf der Linken verschoben?

SF: In São Paulo schaffen es üblicherweise die PT und die PSDB in die Stichwahl. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als könnte Boulos die Stichwahl vielleicht sogar gewinnen. Ursprünglich war sein Plan, dann für das Amt des Gouverneurs von São Paulo anzutreten, aber er wird jetzt wieder für den Kongress antreten und Fernando Haddad wird der linke Kandidat für São Paulo sein.

Der Arbeiterpartei ist es schwer gefallen, anderen linken Kandidatinnen und Kandidaten den Raum zu geben, an ihrer Stelle bei Wahlen anzutreten. Die PSOL hat versucht, »Freiheit für Lula« und andere Kampagnen der PT zu unterstützen. Vielleicht haben sie sich dadurch erhofft, dass die PT ihre Kandidatinnen und Kandidaten in bestimmten Fällen unterstützt, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Lula hat Boulos Vorhaben, als Gouverneur zu kandidieren, nicht unterstützt. Die PSOL steht immer noch im Schatten der PT. Sie möchte als radikale linke Partei auftreten. Deshalb muss sie die PT kritisieren, ist aber gleichzeitig nicht groß genug, um sich von ihr loszusagen.

Hieraus ergibt sich eine weitere Debatte darüber, wie zersplittert die brasilianische Linke ist, und welche Widersprüche in jeder der Parteien vorherrschen. Die PT und die PSOL sind Parteien, die für bestimmte politische Tendenzen stehen. Innerhalb dieser Parteien gibt es viele Organisationen, und auf den Parteitagen und in der Tagespolitik wird über viele Fragen gestritten. Es gibt Leute innerhalb der PSOL, die argumentieren, dass die Partei energischer auftreten sollte. Andere glauben, sie sollte sich enger an die PT binden, weil das die einzig realistische Aussicht auf politischen Einfluss bietet.

Die gute Nachricht ist, dass es der PSOL in den letzten Jahren gelungen ist, ihre Mitgliederzahlen zu steigern. Doch es ist unklar, ob sich das auch in Wahlergebnissen niederschlagen wird. Denn die Partei verfügt nicht über die gleiche Infrastruktur wie die PT und ist zwischen parlamentarischer Politik, dem Aufbau einer Basis und anderen Projekten, die radikale linke Parteien angehen müssen, um ein alternatives Programm zu entwickeln, hin- und hergerissen.

AP: Die PSOL hat Lula aufgrund seiner Kompromisse mit fragwürdigen Figuren oft kritisiert. Seine Antwort darauf war: »Ich liebe die PSOL! Sie sind großartig! Ich will, dass sie in einer großen Stadt oder einem Bundesstaat an die Macht kommen, denn ich will sehen, wie sie schwimmen lernen.«

Lula argumentiert, dass man sich zwar radikal links positionieren kann, dann aber schnell eine Obergrenze der Unterstützung erreichen wird. Die PSOL versucht herauszufinden, ob das eine falsche Dichotomie ist. Die PT würde argumentieren, dass ihre Regierungserfahrung zeigt, dass man Kompromisse eingehen muss. Andere Politiker wie Marcelo Freixo oder Flávio Dino würden diese Position so pauschal nicht teilen. Aber auch sie sind bereit, für eine Regierungsbeteiligung in Verhandlungen zu treten, was viele in der PSOL ablehnen.

DD: Bolsonaro schürt bewusst Zweifel an Brasiliens Fähigkeit, freie und faire Wahlen abzuhalten. Er bereitet sich damit schon einmal darauf vor, das Wahlergebnis zu delegitimieren, sollte es nicht zu seinen Gunsten ausfallen. Wie viele Sorgen sollten wir uns um die Wahlen im Oktober machen?

AP: Meiner Ansicht nach wird eines von drei Szenarien eintreten. Das erste und wahrscheinlichste ist ein Wahlkampf, der durch Bolsonaros Drohungen und institutionelle Einschüchterung geprägt ist. Dabei könnten auch Demonstrationen wie die vom letzten September eine Rolle spielen, um die Justiz zu beeinflussen.

Ein zweites Szenario könnte eintreten, wenn ein sehr polarisierter Wahlkampf zu tatsächlicher Gewalt führt. Während Bolsonaros Amtszeit hat die Gewalt gegen Indigene und Umweltaktivisten bereits zugenommen und es gab Drohungen gegen prominente Kritikerinnen und Kritiker des Präsidenten in Presse und Wissenschaft. Der Präsident befördert dieses Klima des Hasses und tut sehr wenig, um seine gefährlichsten Unterstützer im Zaum zu halten. Er besteht darauf, nach Belieben Begnadigungen auszusprechen. Da er die Wahl in apokalyptischen Worten beschreibt, sollten wir nicht überrascht sein, wenn einige von ihnen tatsächlich bereit sind, Gewalt auszuüben.

Zuletzt bleibt noch die Option eines bürgerkriegsähnlichen Szenarios. Wahrscheinlich sähe das dann so aus, dass Kräfte innerhalb der Polizei und vielleicht des Militärs gegen soziale und progressive Bewegungen vorgehen, die dann entsprechend darauf reagieren würden. Beruhigenderweise erscheint mir das aber nicht sonderlich plausibel.

Es ist extrem wichtig, dass alle, die sich um den Zustand der Demokratie auf der Welt sorgen, ihre Augen während des Wahlkampfs auf Brasilien richten. Schnelle Reaktionen sind essenziell, um Schäden durch Bolsonaros verantwortungsloses, antidemokratisches Verhalten abzuwenden. Unter anderem wird es wichtig sein, dass die Biden-Regierung die Resultate schnell anerkennt. Dieser symbolische Akt würde Bolsonaros Machtzirkel, insbesondere den hohen Militäroffizieren, klar machen, dass sie heftige internationale Reaktionen zu befürchten haben, wenn sie seine autoritären Machenschaften befördern.

SF: Die Fake-News-Maschine der Rechten läuft auf Hochtouren. Bei den Wahlen von 2018 hat das bereits eine entscheidende Rolle gespielt. Unter Bolsonaro wurde das nie gestoppt. Linke Organisationen und Forderungen werden dadurch weiter diskreditiert. Ihr wichtigstes Ziel ist natürlich Lula.

Eine der Errungenschaften des Bolsonarismo war die Depolitisierung des Begriffs der Demokratie. Wenn er behauptet, im Sinne der guten Bürgerinnen und Bürger zu regieren, dann greift er auf eine rassistische Tradition und andere elitäre Aspekte der brasilianischen Gesellschaft zurück. Sein harter Kern von Unterstützerinnen und Unterstützern versteht unter Demokratie, dass sich die Gesellschaft weiter militarisiert und dass Bolsonaro an der Macht bleibt. Der Bolsonarismo hat es geschafft, Lula mit Korruption zu assoziieren, was auch aufgrund seiner Inhaftierung gelang, und ihn als Staatsfeind Nummer Eins zu brandmarken. 

Lula ist in vielen Teilen der brasilianischen Gesellschaft sehr beliebt und wird vielerorts respektiert. Es gibt auch die, die ihn nicht ausstehen können, aber trotzdem für ihn stimmen werden, einfach nur, um Bolsonaro loszuwerden. Aber dazwischen ist sehr viel Raum. Um damit umzugehen, hat Lula Geraldo Alckmin, einen konservativen Gegner der PT mit Korruptionsvergangenheit, zu seinem Vizepräsidentschaftskandidaten gemacht. Das ist natürlich sehr widersprüchlich, aber die PT ist bereit, diese Wette einzugehen, in der Hoffnung, dass Alckmin einige Wechselwählerinnen und Wechselwähler auf ihre Seite ziehen und die Möglichkeit eines Putsches durch die Unterstützung der Eliten eindämmen kann.

DD: Anfang Mai hat Reuters berichtet, dass der Direktor der CIA, William Burns, brasilianischen Beamten, die Bolsonaro nahestehen, vermittelt habe, dass die USA Versuche des Präsidenten, das Wahlergebnis anzufechten oder zu verfälschen, nicht unterstützen würden. Was haltet Ihr von dieser Meldung?

AP: Ich würde aus den jüngsten Nachrichten nicht schließen, dass die CIA jetzt auf einmal »die Guten« sind. Die CIA – und damit auch die Biden-Regierung – sieht einfach keinen Nutzen für die USA darin, dass Bolsonaro die Wahl anficht. Es ist nicht so, dass Burns’ Aussage ein Schuldeingeständnis der CIA für ihr Verhalten in der Vergangenheit darstellt. Es lässt sich daraus auch keine stillschweigende Unterstützung der Biden-Regierung für Lula ablesen.

Die Regierung von Biden ist um ihre eigene Legitimität und den Zustand der Demokratie im eigenen Land besorgt. Sie haben kein Interesse daran, in Brasilien einen Möchtegern-Diktator zu unterstützen. Für alle, die sich in einem angespannten Wahlkampf um das Schicksal der brasilianischen Demokratie sorgen, ist diese Aussage der CIA – und die Klarheit, mit dem sie dem unmittelbaren Machtzirkel des brasilianischen Präsidenten vorgetragen wurde – eher ein gutes Zeichen. Die Warnung der CIA, welche von Bolsonaros Anhängerinnen und Anhängern als die Art von hegemonialer Intervention kritisiert wurde, die sonst üblicherweise von der Linken angeprangert wird, scheint bereits eine Wirkung erzielt zu haben: Die sehr gut informierte Journalistin Andréia Sadi berichtet, dass hohe Generäle angekündigt haben, bei Bolsonaros »Wahnsinn« nicht mitmachen zu wollen, sollte er nach einer Niederlage, die nach derzeitigen Umfragen wahrscheinlich ist, den Versuch unternehmen, an der Macht zu bleiben.

Anders als 1964 unterstehen den großmäuligen Generälen, die Bolsonaro am nächsten stehen, keine Truppen. Die CIA hat 2022 kein Interesse daran, ein antidemokratischen Klima zu befeuern – anders als vor fast sechzig Jahren.

SF: Zwei Dinge möchte ich noch ergänzen. Erstens wird Lula sehr dabei helfen, die Beziehungen mit den USA und der EU zu normalisieren. Lulas Europatour von 2021 hat gezeigt, dass er als erfahrener Politiker sehr viel Ansehen genießt. Das hat gute und schlechte Seiten, aber zeigt, dass Bolsonaro zu schwierig zu kontrollieren und daher für die Wirtschaftseliten weniger attraktiv ist, als man bei internationalen Institutionen und im Ausland vielleicht angenommen hat.

Doch die USA haben weiterhin zu viel Einfluss auf die Wahlen in Lateinamerika. Die Aussagen des CIA-Direktors klingen zwar beruhigend, doch letztlich sind sie ein weiterer Beweis dafür, dass die USA in der Region weiter nach Belieben über Putschversuche oder Wahlen bestimmen kann. Souveränität bleibt für uns weiterhin ein entfernter politischer Traum.

#8/9 Ihr Planet und unserer

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