08. Januar 2025
Der Gründer des Front National ist tot. Das »Werk« des Holocaustleugners und Kriegsverbrechers lebt aber weiter: Denn die extreme Rechte ist eine Macht im heutigen Frankreich.
Jean-Marie Le Pen hält eine Rede im Hauptquartier des Front National nach dessen Wahlerfolg, 13. Dezember 1998.
1987 gelang es Jean-Marie Le Pen, ein Foto von sich schießen zu lassen, auf dem er dem damals amtierenden US-Präsidenten Ronald Reagan die Hand schüttelt. Dem Vernehmen nach hatte Reagan nicht ausdrücklich zugestimmt, den Führer des französischen Front National zu treffen, und wollte ihn mit dem Bild auch nicht »unterstützen«. Eine Quelle aus dem US-amerikanischen Nationalen Sicherheitsrat erklärte gegenüber Le Monde, man sei später »verwundert« darüber gewesen, wie es überhaupt dazu gekommen war.
In jedem Fall erlaubte es das Bild Le Pen daheim in Frankreich, den Eindruck zu erwecken, er – ein einfacher Fischersohn, der oft als Rechtsextremist verschrien werde – habe das Vertrauen des US-Präsidenten gewonnen.
Le Pens Selbstdarstellung aus dieser Zeit passt gut zu aktuelleren Berichten über eine unnachgiebig »populistische« Partei, die sich als »weder links noch rechts« sieht und die sich unter seiner Tochter Marine fest im Mainstream verankern will. Bereits in den 1980er Jahren hatte der Gründer des Front National (FN) mit harter Anti-Einwanderungspolitik, seinem Einsatz für Law and Order sowie einer ausgeprägten Bewunderung für Reagan und Margaret Thatcher versucht, Zustimmung im breiteren rechten Spektrum zu erlangen. Seine Partei wetterte gegen eine imaginierte »marxistische Hegemonie« in der französischen Politik und gerierte sich als »die Rechte, die es wagt, diesem Namen wirklich gerecht zu werden«.
Le Pen ließ sich teilweise vom Movimento Sociale Italiano von jenseits der Alpen inspirieren. Sein »Verdienst« war es, eine Figur zu werden, die unterschiedliche faschistische, nationalistische und kolonialnostalgische Subkulturen vereinte und sie zu einer Partei verschmolz, die in der Lage war, breitere Schichten politisch anzusprechen. Zwar lebte die Bewunderung für die Achsenmächte aus dem Zweiten Weltkrieg unter den rechten Aktivisten fort – und ploppt hier und dort auch heute noch in der Partei auf – doch fußte ihre zunehmende Popularität auf einer moderneren Botschaft, die heute Mainstream ist: Der Front National verband Warnungen vor einem »Untergang der Nation« mit der vermeintlichen Bedrohung durch Migrantinnen und Migranten.
»Le Pen war eine erzreaktionäre, konsequent rückwärtsgewandte Figur.«
Von der etablierten Politik wurde dieses Unterfangen in dreierlei Hinsicht begünstigt. Erstens ist die Sozialmisere im deindustrialisierten, arbeitergeprägten Frankreich zu nennen, die Teile der Bevölkerung dazu brachte, den FN zu wählen (oder zumindest nicht mehr die Linke). Hinzu kam aber auch eine schleichende Förderung Le Pens durch den sozialistischen Präsidenten François Mitterrand in den 1980er Jahren, als die Regierung die Bekanntheit des Rechtsradikalen in zynischer Weise förderte, um die gesellschaftliche Rechte zu spalten. Hinzu kommt drittens eine Annäherung der konservativen und sogar liberalen Parteien in Richtung Islamophobie und Warnung vor dem »zivilisatorischen Niedergang«. Teile der Basis der konservativen und liberalen Parteien entschieden sich im Laufe der Zeit, wie Le Pen es ausdrückte, »für das Original und nicht für die Kopie zu stimmen«.
Von seiner ersten Wahl als Abgeordneter im Jahr 1956 bis zu seinem Ausschluss aus dem Front National im Jahr 2015 vertrat Le Pen diverse sich wandelnde Positionen. Es gelang ihm, die verschiedenen Facetten des französischen Nationalismus mit den speziellen Anforderungen in der Opposition gegen die jeweils amtierenden Regierungen zu verbinden. Die eindeutig »wirtschaftsliberale« Linie der 1970er und 1980er Jahre in Opposition zur sozialdemokratischen Regierung von François Mitterrand – ein Programm, das Le Pen als sein »Handbuch der Konterrevolution« bezeichnete – wurde später mit protektionistischeren Positionen verbunden (oder zumindest mit solchen, die französische Staatsangehörige »bevorzugen« würden, sowohl im öffentlichen Dienst als auch im Wettbewerb auf dem Markt). Besonders eindrücklich war offenbar Le Pens Appell an die Arbeiterinnen und Arbeiter mit seiner Milchmädchenrechnung, dass jeder zusätzliche Einwanderer gleichzeitig einen arbeitslosen Franzosen bedeute.
Le Pen war 1956 als junger Poujadist, also als Anhänger der vom Ladenbesitzer Pierre Poujade angeführten Antisteuerbewegung, erstmals ins Parlament gewählt worden. Diese kurzlebige Strömung gilt als gutes Beispiel für »Wirtschaftspopulismus« (ein Rekurs auf die Interessen der Kleinunternehmer, die von Modernisierung und Großkonzernen überrollt werden). Insgesamt wechselte Le Pens Team auf der Suche nach neuen Wählergruppen aber immer wieder die Strategie. 1965 arbeitete er an der Präsidentschaftskampagne von Jean-Louis Tixier-Vignancour mit, einem Ex-Vichy-Vertreter, dessen Bündnis aus nationalistischen und neofaschistischen Kräften eine eher bürgerliche Wählerschaft anzog, aber auch viele pieds-noirs (»Europäer«, die aus der Ex-Kolonie Algerien nach Frankreich zurückgekehrt waren).
»Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Einzug von Jean-Marie Le Pen in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen 2002 scheint es heute schwer vorstellbar, dass es eine ähnlich starke Wählermobilisierung gegen das Rassemblement National geben könnte.«
Im ersten Jahrzehnt nach seiner Gründung 1972 war der Front National eine Randgruppe. Erst während der Präsidentschaft Mitterrands in den 1980er Jahren begann er, sich ernsthaft zu etablieren. Wie Ugo Palheta in einer eingehenden Analyse der Partei und der autoritären Wende in der französischen Politik im Allgemeinen schreibt, ist dies nicht nur darauf zurückzuführen, dass vormals linke Wählerinnen und Wähler zum FN abwanderten – aus Enttäuschung über Mitterrands Leistungen in den Bereichen Beschäftigung und Soziales – sondern auch darauf, dass der FN als eine »konsequentere« und härtere rechte Kraft auftrat als die gaullistischen Republikaner, mit denen dennoch sporadisch Wahlbündnisse eingegangen wurden. So schaffte der FN es sukzessive, »kleine Arbeitgeber (Ladenbesitzer, Handwerker, Landwirte) und Teile der Arbeiterschaft, die der Linken und der Arbeiterbewegung feindlich gegenüberstanden« von den etablierten Parteien abzuwerben, so Palheta.
In den 1990er Jahren setzte Le Pen verstärkt auf Kritik an der Globalisierung und insbesondere am Vertrag von Maastricht, mit dem die Europäische Union gegründet wurde – entgegen seiner früheren Unterstützung für das europäische Projekt. Gleichzeitig behielt seine Partei eine starke Kernkritik am französischen Staat und der ihrer Ansicht nach zu hoher Besteuerung bei. Le Pen war unter anderem auch ein früher Befürworter einer deutlichen Anhebung des Rentenalters. Dennoch gelang es ihm, Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse anzusprechen. Dabei forderte er aber nicht einfach nur soziale Absicherung, sondern vielmehr eine Vision von »Sicherheit«, die auf der Verteidigung »der Franzosen« gegen Einwanderung und gegen einen kulturellen Niedergang beruhte. Dies bezeichnete er als eine »sozial linke, ökonomisch rechte und national französische« Agenda.
Le Pens großer Durchbruch bei den Präsidentschaftswahlen 2002, als er in die Stichwahl gegen Jacques Chirac einzog, gilt noch heute als Wendepunkt in der französischen Politikgeschichte. Damals sorgte eine starke Mobilisierung im Vorfeld der zweiten Runde für eine Wahlbeteiligung von fast 80 Prozent, bei der mehr als vier Fünftel der Wählerschaft »lieber für den Gauner [Chirac] als für den Faschisten« stimmten.
Le Pen sollte nie die Figur werden, die tatsächlich den letzten Schritt zur Machtübernahme machen könnte. Doch ihm ist es gelungen, die breitere politische Debatte langfristig und nachhaltig nach rechts zu verschieben. So wurden viele seiner Positionen beispielsweise vom republikanischen Kandidaten Nicolas Sarkozy im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2007 aufgegriffen.
In vielen Nachrufen auf Le Pen dürften seine widerwärtigen Äußerungen aufgelistet werden, beispielsweise seine Ansicht, die Gaskammern der Nazis seien allenfalls ein kleines »Detail der Geschichte«, oder sein Lob für den Vichy-Führer Marschall Pétain. Zu den schlimmsten seiner Verbrechen gehört jedoch sein eigener Einsatz als Folterer von algerischen Gefangenen während des französischen Kolonialkriegs. Le Pen war eine erzreaktionäre, konsequent rückwärtsgewandte Figur. Wie um diesen Eindruck selbst zu verstärken, beschrieb er in seinen jüngsten Memoiren zahlreiche Nazi-Verbindungen. Der Groll gegen seine Tochter, die der Partei ein etwas weniger radikales Image zugelegt hat, war ebenfalls omnipräsent. Selbst nach seinem Tod bleibt vom alten Le Pen mehr als nur üble Erinnerung an eine längst abgeschlossene Vergangenheit. Er hat einiges in Bewegung gesetzt.
Denn nicht nur unter Sarkozy oder dem derzeitigen Präsidenten Emmanuel Macron, sondern schon seit den 1980er Jahren hat sich die französische Öffentlichkeit zunehmend mit Fragen der Identität und der vermeintlichen kulturellen Bedrohung durch Einwanderung beschäftigt. Dies wirkt sich sogar auf ökonomische Fragen aus, wie etwa den Widerstand von Hausbesitzern gegen Sozialwohnungen in der Nachbarschaft, von denen man annimmt, dass sie eher an Einwanderer als an »Franzosen« vergeben würden. Schon bald brauchte es keinen Rechtsextremisten wie Le Pen mehr; sogar ein vermeintlich »normaler« Mitte-Rechts-Politiker wie Chirac warb um die Basis, indem er den von Migranten angeblich verursachten »Lärm und Gestank« in den Wohnblöcken kritisierte – und öffentlich die Frage stellte, warum »Jean-Marie Le Pen ein Monopol darauf haben sollte, die echten Probleme anzusprechen«.
»Der Kampf gegen den Mann ist vorbei. Der Kampf gegen den Hass, den Rassismus, die Islamophobie und den Antisemitismus, den er verbreitet hat, geht weiter.«
Später in seinem Leben kritisierte Jean-Marie Le Pen vor allem die von seiner Tochter Marine betriebene »De-Toxifizierung« des FN. Kein Wunder, schließlich wurde er mit seinem Ausschluss 2015 selbst Opfer der Bemühungen der Partei, ihr Image aufzubessern. Der neue Rassemblement National brauchte Le Pens ideologisches Gepäck nicht mehr, um Wahlerfolge zu verbuchen. Mehr noch: Verstärkt durch Medien im Besitz von Milliardären wie CNews hat sich der grundlegend migrationsfeindliche Tenor des alten Le Pen weitgehend im Mainstream durchgesetzt. Die einst von ihm gegründete Partei ist der Macht heute näher als je zuvor. Grund dafür ist nicht nur die leichte »Verwässerung« ihrer radikal rechten Ambitionen (beispielsweise wird nicht mehr der Austritt aus der EU gefordert), sondern auch eine »Toxifizierung« des übrigen politischen Spektrums und Dialogs.
Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Einzug von Jean-Marie Le Pen in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen 2002 scheint es heute schwer vorstellbar, dass es eine ähnlich starke Wählermobilisierung gegen das Rassemblement National geben könnte. Die schwankende Wahlbeteiligung, die stark geschwächte Position der Linken gegenüber der Arbeiterschaft, und die Verbürgerlichung sowie Verharmlosung der Le Pen-Familienpartei machen die »republikanische Front«, die französische Version der »Brandmauer«, immer bröckliger. Dass der amtierende Premierminister, der liberale François Bayrou, Jean-Marie Le Pen im Zuge dessen Todes als »Kämpfer« für seine Sache ehrte, zeigt diese Annäherung an die radikale Rechte nur noch deutlicher.
In gewisser Weise hat Bayrou Recht: Le Pen war tatsächlich ein Kämpfer für seine Sache, in den Folterzellen von Algier ebenso wie auf seinen Sitzen in diversen Parlamenten. Wie der Linke Jean-Luc Mélenchon in Reaktion auf die Nachricht vom Tod des FN-Gründers schrieb, nimmt die Pietät gegenüber dem Toten nicht das Recht, seine Taten zu kritisieren. Es ist daran zu erinnern, dass wir in Le Pens Fall von den Taten eines Kriegsverbrechers und verurteilten Holocaust-Leugners reden.
Mélenchon schrieb: »Der Kampf gegen den Mann ist vorbei. Der Kampf gegen den Hass, den Rassismus, die Islamophobie und den Antisemitismus, den er verbreitet hat, geht weiter.«
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).