17. Dezember 2024
Zigtausende Amerikanerinnen und Amerikaner bekunden ihre Bewunderung für einen mutmaßlichen Mörder. Das zeigt, wie offensichtlich die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung ignoriert werden.
Luigi Mangione wird beschuldigt, den Versicherungs-CEO Brian Thompson vor dem jährlichen Investorentreffen der Gesundheitsversicherung United Healthcare erschossen zu haben.
Ein großer Teil der amerikanischen Gesellschaft scheint sich in Luigi Mangione verliebt zu haben. Die Welle der Unterstützung für den jungen Mann, der beschuldigt wird, den CEO von United Healthcare, Brian Thompson, am helllichten Tag in New York City getötet zu haben, ist überwältigend. Frauen wie Männer bekunden online ihre Zuneigung zu ihm. Ebenso gibt es viel Mutmaßung und Hass gegen diejenigen, die ihn potenziell verpfiffen haben. In Online-Rezensionen des McDonald’s in Altoona, wo er festgenommen wurde, wird gewarnt, in der Filiale wimmele es von »Verrätern«, »Ratten« und »Petzen«. In einem Clip – den man gesehen haben muss, um es zu glauben – skandieren seine Mitgefangenen im Gefängnis live in den Fernsehnachrichten »Free Luigi!«.
Die Fangemeinde des mutmaßlichen Mörders wächst stetig weiter. Inzwischen hat die New York Times entschieden, keine weiteren Bilder von Mangione (vermutlich ist er einfach zu »hot«) und auch nicht seine Stellungnahme zu seiner Tat zu veröffentlichen. Damit entzieht sich die Zeitung ihrer grundlegenden journalistischen Verantwortung, ein so bedeutendes öffentliches Ereignis vollständig und umfassend aufzuarbeiten. Die Zeitung scheint Angst zu haben, dass Mangiones Attraktivität Nachahmungstäter inspirieren könnte. Auch andere liberale Gatekeeper haben ihre Besorgnis über die »Luigimania« zum Ausdruck gebracht: Graeme Wood vom The Atlantic meinte, die Tat zeige nicht, dass das US-amerikanische Gesundheitssystem kaputt sei, sondern dass »viele Menschen kaputt sind«.
Abseits der großen Medien hat das Ereignis viele dazu veranlasst, ihre eigenen Geschichten über schreckliche Missstände in der amerikanischen Krankenversicherungsbranche zu teilen. Eltern erzählen haarsträubende Geschichten über den täglichen Kampf um Hilfe für ihre todkranken Kinder; Menschen berichten, wie ihre Eltern aufgrund von Verzögerungen bei dringend notwendigen Behandlungen gestorben sind; und viele weitere erzählen von der Sorge, mit der sie leben, weil sie nicht wissen, ob dringend benötigte Medikamente oder Behandlungen von den Kassen bezahlt werden oder nicht.
Es ist nicht so, dass Amerikanerinnen und Amerikaner politische Gewalt grundsätzlich hinnehmen oder sogar gutheißen. Dennoch muss festgestellt werden: Viele Menschen scheinen (schockierenderweise) mit diesem Mord einverstanden zu sein. Eine Zeile in Mangiones Erklärung scheint besonders viel Anklang zu finden: »Ehrlich gesagt haben diese Parasiten es einfach verdient.« Das ist eine schreckliche Aussage über andere Menschen. Allerdings dürfte sich die Verwunderung in Grenzen halten, wenn man bedenkt, wie viel Schaden diese Branche tagtäglich im Land anrichtet. Sogenannte medizinische Schulden sind eine der Hauptgründe für Privatinsolvenzen in den USA; gleichzeitig sind die Lebenserwartung und andere Gesundheitsindikatoren für ein so reiches Land erschreckend niedrig.
Mangione hat mit seiner vermeintlichen Tat etwas aufgegriffen, das die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner teilen: einen tiefen Hass auf das Krankenversicherungssystem und auf die Geschäftemacher in dieser Branche, die dem Leiden und Sterben vieler Menschen absolut gleichgültig gegenüberstehen. Was auffällt: Der designierte Präsident Donald Trump hat das Thema Mangione bisher nicht erwähnt. Er scheint zu wissen, dass es in dessen Fangemeinde keine strikten politischen Grenzen und Lager gibt.
»Das Problem lasse sich offensichtlich nicht lösen, indem Menschen auf offener Straße erschossen werden, aber ebenso klar sei, dass auch das amerikanische Krankenversicherungssystem tötet.«
Für das Problem, das der Mord nun in den Vordergrund der nationalen Debatten gerückt hat, gibt es natürlich eine gewaltfreie politische Lösung: ein sogenanntes Single-Payer-Gesundheitssystem beziehungsweise Medicare for all – ein System, mit dem die profitorientierte Krankenversicherungsbranche abgeschafft und für alle die notwendige medizinische Versorgung angeboten wird. Bernie Sanders hat in seinen Wahlkämpfen 2016 und 2020 mehrfach eine staatliche Gesundheitsversorgung gefordert und auf das weit verbreitete Leid, das das derzeitige, gewinnorientierte Gesundheitssystem verursacht, hingewiesen. Vom Rest der politischen Klasse wurde das Thema aber weitgehend ignoriert.
So hat Joe Biden während seiner Amtszeit nicht versucht, Medicare for All einzuführen – oder dies auch nur anzusprechen. Ohne Sanders im Rennen wurde das Thema Gesundheitsversorgung im diesjährigen Präsidentschaftswahlkampf ebenfalls kaum diskutiert. Trumps großartiges Versprechen, er habe »Konzepte für einen Plan« im Bereich Gesundheit, wurde vielfach und zu Recht mit Spott überzogen. Trotzdem wurde er für eine zweite Amtszeit gewählt. Kamala Harris war derweil nicht viel besser: Nachdem sie sich in einer von Bernie Sanders geprägten Vorwahl 2020 noch für Medicare for All eingesetzt hatte, kam sie als diesjährige demokratische Präsidentschaftskandidatin nicht mehr darauf zurück.
Die große Bewunderung von Luigi Mangione und seinem vermuteten Verbrechen ist daher ein Symptom für das unglaubliche Versagen der US-Politik. Die Demokraten haben jahrelang praktisch nichts zum Thema Gesundheitsversorgung gesagt und fragen sich jetzt, warum sie gerade eine Wahl verloren haben. Nur wenige – mit Ausnahmen wie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez, Elizabeth Warren und Ro Khanna – haben den aktuellen Moment als günstige Gelegenheit genutzt, um erneut eine Gesundheitsreform anzusprechen. Unzweifelhaft war es ein katastrophales Eigentor, das Thema, das eigentlich ein Grundpfeiler einer vermeintlich linken Partei sein sollte, so lange zu ignorieren.
Auf die Frage in einem Interview mit JACOBIN, ob sich die Amerikanerinnen und Amerikaner mit dem Status quo des nationalen Gesundheitssystems abgefunden hätten, empörte sich Sanders: »Nein! Ist das deutlich genug?« Das Problem lasse sich offensichtlich nicht lösen, indem Menschen auf offener Straße erschossen werden, aber ebenso klar sei, dass auch das amerikanische Krankenversicherungssystem tötet. Dafür brauche es eine politische Lösung.
Nun könnte der Weg frei sein für neue Kampagnen für eine Gesundheitsreform auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene sowie für die Ausweitung von Medicaid und sogar für die Einführung eines Single-Payer-Systems. In New York wurde durch das Attentat die Diskussion über den New York Health Act neu entfacht. Vielleicht werden wir ähnliche Debatten auch anderswo erleben, trotz Trumps baldigem Amtsantritt. Es braucht mehr Befürworterinnen und Befürworter von Medicare for All im Kongress sowie im Wahlkampf auf den Straßen.
»Die Lösung gegen die hochkochende Wut besteht darin, die private Krankenversicherung endlich abzuschaffen.«
Der aktuelle Aufruhr und Enthusiasmus um den Mord deuten darauf hin, dass jetzt Schwung in die Gesundheitsreformdebatte gebracht werden könnte, ohne auf die nächste Wahl warten zu müssen. Wenn wir in den USA nicht noch mehr politische Gewalt erleben wollen (und wer will das schon?), müssen wir diesen wichtigen gesellschaftlichen Moment nutzen, die klare Fokussierung auf das Thema Gesundheit begrüßen und das politische System in eine völlig neue Richtung drängen.
Dabei können und sollten wir die libidinöse Dimension dieses Ereignisses nicht ignorieren. Wann war das letzte Mal ein Verbrecher offenbar so attraktiv, dass die New York Times sich geweigert hat, Bilder von ihm zu veröffentlichen? Kulturell gesehen hat es dem Liberalismus lange Zeit an allem gefehlt, was die tiefsten Triebe der Menschen befriedigen würde. Während die Leute bei der Rechten ihrem Hass – auf Liberale, auf »Wokeness« und auf Migrantinnen und Migranten sowie andere Minderheiten – freien Lauf lassen konnten, hatte die Demokratische Partei nicht mehr als trockene politische Halbheiten und ein wenig lahme Kritik zu bieten. Genauso kühl reagieren viele Liberale jetzt auch auf die »Luigimania«. Das wird nicht funktionieren.
Die Lösung – wie sie Bernie Sanders auch empfiehlt – gegen die hochkochende Wut und die tieferliegenden Probleme besteht darin, das System zu ändern und die private Krankenversicherung endlich abzuschaffen. Die kollektiven Liebesbekundungen für Mangione zeigen, wie sehr die Amerikanerinnen und Amerikaner dieses System hassen.
Die Linke sollte die instinktiven Wünsche, die bei vielen Menschen hinter ihrer Verherrlichung von Mangione stehen, genau beobachten. Wie Richard Seymour in seinem neuen Buch Disaster Nationalism schreibt: »Wir brauchen Brot und Butter. Wir mögen sie sogar. Aber wir lieben sie nicht.« Vielmehr, so betont er, braucht es auch Leidenschaft, die eine historische Kraft werden kann.
Der Trumpismus ist ein ebensolches leidenschaftliches Phänomen; er bietet den Menschen in den USA geradezu ekstatische Erfahrungen von kollektiver Zuneigung und kollektivem Hass. Ähnliches gilt für die Luigimania – und für jede andere wirksame Form des Populismus. Wenn wir uns aus dem Faschismus heraus und in etwas Besseres hinein führen wollen, muss die Linke herausfinden, wie sie etwas ähnlich Anziehendes erzeugen kann. Ja, wir brauchen eine Bewegung für Medicare for all. Aber um erfolgreich zu sein, brauchen wir auch die Art von Eros, Solidarität und Wut, die wir in den vergangenen Tagen in den USA erlebt haben.