15. März 2021
Das politische Comeback des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva versetzt Bolsonaro und seine Anhänger in Angst – zu Recht. Denn für die arbeitende Bevölkerung Brasiliens ist Lula ein Hoffnungsschimmer.
Lula da Silva auf einer Pressekonferenz nach der Annullierung der Anklage gegen ihn, 10. März 2021.
Am 8. März entschied Luiz Edson Fachin, Richter am Obersten Gerichtshof von Brasilien, alle Urteilssprüche gegen den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva aufzuheben. Laut Fachin war das Gericht der Stadt Curitiba, das Lula angeklagt hatte, nicht befugt gewesen, Brasiliens ersten Präsidenten von der Partido dos Trabalhadores (PT) zu verurteilen. Stattdessen muss er sich vor einem Bundesgericht in der Hauptstadt Brasília erneut verantworten.
Entscheidend ist, dass Lula durch die Aufhebung des Urteils seine politischen Rechte zurückbekommen hat und er dadurch bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr kandidieren kann. Denn unter dem brasilianischen Gesetz Ficha Limpa (»Saubere Weste«) – das ironischerweise von der PT-Regierung selbst verabschiedet wurde – können Personen, die für Verbrechen verurteilt worden sind, nicht mehr für politische Ämter kandidieren.
Lula wurde 2016 für Geldwäsche und Korruption für schuldig befunden, weil ein Appartement, das er r nie bewohnt hatte, von einer Baufirma luxussaniert worden war. Daraufhin saß er 580 Tage im Gefängnis, bevor er im November 2019 unter Berufung freigelassen wurde.
Die Beweislage gegen Lula war dünn – inzwischen ist jedoch eindeutig belegt, dass die verantwortlichen Staatsanwältinnen und Richter – allen voran Sérgio Moro – zusammengearbeitet haben, um Lula zu inhaftieren. Seine Verurteilung war die Krönung der historischen Operação Lava Jato (»Operation Autowäsche«) und verhinderte, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2018 antritt – jener Wahl, die letztendlich der rechtsextreme Jair Bolsonaro gewann.
Lulas Rechtsteam erklärte auf Twitter: »Die heutige Entscheidung, die die Inkompetenz des Bundesgerichts von Curitiba bestätigt, bedeutet, dass wir in dieser langen juristischen Auseinandersetzung immer im Recht waren.« Es ist jedoch möglich, dass sich das Blatt noch ein weiteres Mal wendet: Der Oberste Gerichtshof muss dieses Urteil erst noch bestätigen, und ein anderes Gericht könnte den Mitte-links-Politiker erneut verurteilen. Aber fürs Erste ist Lula wieder zurück.
Lulas Rückkehr auf die politische Bühne hat Schockwellen durch das ganze Land geschickt. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass er selbst nach seiner Inhaftierung und einer jahrelangen medialen Verleumdungskampagne noch immer der beliebteste Politiker in Brasilien ist. Auch wenn er nicht mehr die historischen Zustimmungsraten hat, die er noch nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentschaftsamt genoss, ist seine PT nach wie vor die größte Partei im Land.
Eine kürzlich in der Zeitung Estado de S. Paulo veröffentlichte Umfrage ergab, dass 50 Prozent der Befragten definitiv oder wahrscheinlich für Lula stimmen würden, dagegen nur 38 Prozent für Bolsonaro. Auch ist Lulas Ablehnungsrate von 44 Prozent niedriger als die der anderen potenziellen Kandidaten, wie etwa João Doria, dem rechtsgerichteten Gouverneur von São Paulo, oder der profillosen Fernsehpersönlichkeit Luciano Huck. Unter allen zehn aufgeführten Kandidaten war Lula der einzige, der besser abschnitt als Bolsonaro.
Brasiliens Mitte-rechts-Parteien befinden sich im Panikmodus, da sich ihre eigenen Wahlaussichten rapide verschlechtern. Trotz ihrer offiziellen Opposition gegen Bolsonaro wäre vielen von ihnen eine zweite Amtszeit des rechtsextremen Präsidenten immer noch lieber als eine PT-Regierung. Und die »Gemäßigten« haben in den letzten Jahren vergeblich nach einem brasilianischen Macron gesucht, der sich als Anführer einer breiten Front für Demokratie und als Antagonist Bolsonaros aufspielen könnte – dabei aber seinen wirtschaftlichen Kurs mehr oder weniger weiterführen würde.
Bei aller Demokratie-Rhetorik der gemäßigten Opposition ist kaum zu erwarten, dass sie einen Mitte-links-Kandidaten in der zweiten Wahlrunde gegen Bolsonaro unterstützen würde. Brasiliens Zentristen haben nicht nur Dilma Rousseff im Jahr 2016 abgesetzt, sondern auch zum Wahlsieg Bolsonaros gegen Fernando Haddad von der PT beigetragen. Einige der Personen, die als potenzielle Kandidaten gehandelt werden, wie etwa Doria und Huck, unterstützten Bolsonaro im Wahlkampf. Andere, wie der ehemalige Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta, saßen selbst in Bolsonaros Kabinett.
Bolsonaro selbst zuckte nur mit den Achseln und behauptete: »Ich glaube, dass das brasilianische Volk 2022 einen solchen Kandidaten nicht einmal antreten sehen will, geschweige denn daran denkt, ihn zu wählen.« Allerdings hat die Bolsonaro-Regierung einige Katastrophen zu verantworten. Diese Bilanz könnte viele, die 2018 noch gegen die PT gestimmt oder gar nicht gewählt haben, dazu bringen, Lula im Jahr 2022 als ihren Kandidaten in Betracht zu ziehen.
Bezeichnend ist jedoch, dass der brasilianische Aktienmarkt um 4 Prozent einbrach und der Real gegenüber dem Dollar auf ein Rekordtief abrutschte, nachdem die Nachricht von Lulas Freispruch bekannt wurde. Die Investorinnen und Investoren waren offenbar von den apokalyptischen Covid-19-Todeszahlen in Brasilien nicht allzu besorgt – die Rückkehr von Lula dagegen versetzte sie in Panik.
Brasilien hat inzwischen mehr als 265.000 Corona-Todesfälle und über 11 Millionen Infektionen registriert. Die Intensivstationen sind überlastet, den Städten gehen die Impfstoffe aus und die Strategie der Regierung scheint die weitere Verbreitung des Virus geradezu ermutigen zu wollen.
Das brasilianische Gesundheitsministerium warnt, dass es in den kommenden Wochen bis zu 3.000 Todesfälle pro Tag geben könnte. Zugleich hat Brasilien noch immer keine nationale Impfkampagne. Gesundheitsexperten befürchten, dass die unkontrollierte Ausbreitung einer Pandemie in einem so großen Land die globale Covid-19-Impfkampagne gefährden könnte, da das uneingedämmte Virus weiter mutiert und immer neue Varianten hervorbringen kann.
Bolsonaro preist derweil ein ungetestetes Nasenspray als das neueste Wundermittel an. Er diskreditiert weiterhin die Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens und hetzt seine Anhängerschaft gegen alle auf, die versuchen, die Ausbreitung von Covid-19 in den Griff zu bekommen. Der Kongress hat bisher so gut wie nichts getan, um Bolsonaro und seine Regierung für ihren mörderischen Umgang mit der Pandemie zur Rechenschaft zu ziehen.
Trotz Bolsonaros mörderischer Covid-19-Politik, der offensichtlich kriminellen Machenschaften der Regierung und der Tatsache, dass Brasilien unter Lula einen der größten Wirtschaftsbooms in der brasilianischen Geschichte erlebte, werden Lula und Bolsonaro vom Großkapital, den meisten Mainstream-Medien und Brasiliens Zentristen weiterhin als zwei Seiten derselben Medaille dargestellt. Dahinter steht die vereinte Feindseligkeit, die die »respektable« Opposition und die Anhängerschaft Bolsonaros der Linken entgegenbringt.
Die große Frage ist, wie das brasilianische Militär reagieren wird. In einem kürzlich erschienenen Buch gab der ehemalige Chef der Streitkräfte, Eduardo Villas Boâs, zu, dass er und andere hochrangige Generäle in der Nacht vor der Entscheidung über Lulas Verurteilung – durch die er von den Wahlen von 2018 ausgeschlossen würde – über Twitter Druck auf den Obersten Gerichtshof ausüben wollten. Zu diesem Zeitpunkt führte Lula in allen Umfragen – mit einem deutlichen Vorsprung vor Bolsonaro.
Über 6.000 Mitglieder der Streitkräfte dienen in Bolsonaros Regierung und Brasiliens Covid-19-Maßnahmen werden von Militäroffizieren angeleitet. Unter der katastrophalen Führung von General Eduardo Pazuello hat es das brasilianische Gesundheitsministerium versäumt, Impfstoffe und grundlegende medizinische Ausrüstung zu beschaffen. Stattdessen wurde gefährliche Quacksalberei propagiert, während Menschen auf der Straße starben und den Großstadtkrankenhäusern der Sauerstoff ausging. Zwar haben sich die brasilianischen Streitkräfte selbst zu Hütern der Demokratie und der Mäßigung stilisiert, jedoch sind sie in Wirklichkeit Bolsonaros treueste Unterstützer und haben ihre antidemokratische Gesinnung in den letzten Jahren kaum verborgen.
Moro wird die juristischen Konsequenzen dafür tragen müssen, dass er aus »Korruptionsbekämpfung« einen politischen Kreuzzug gemacht hat. Zwar zieht ihn dieses jüngste Urteil noch nicht für seine Missetaten zur Verantwortung, die ausstehende Abrechnung könnte jedoch bald folgen.
Das Urteil ist vielleicht der letzte Nagel im Sarg der Operação Lava Jato, die im Januar offiziell eingestellt wurde. Moro dachte, er hätte mit Lulas Verurteilung einen scheinbar unmöglichen Coup gelandet – jetzt sieht es eher danach aus, als habe er stattdessen seine eigene politische Karriere verspielt. Moro brachte Bolsonaro im Namen der »Anti-Korruption« an die Macht und hielt sich in seiner eigenen Überschätzung für unantastbar. Gegenwärtig arbeitet er für eine Anwaltskanzlei, die Odebrecht – das Unternehmen, das im Zentrum der Lava-Jato-Untersuchung stand – zu seinen Kunden zählt.
Brasiliens Anti-Korruptions-Kreuzzug wird als eine politisch motivierte Kampagne in die Geschichte eingehen, die die Rechtsstaatlichkeit untergrub, Brasiliens Wirtschaft lähmte und die Wahl des schlimmsten Präsidenten in der Geschichte des Landes sicherte. Eine kürzlich durchgeführte Studie des größten brasilianischen Gewerkschaftsverbands ergab, dass Lava Jato die Wirtschaft bis zu 30 Milliarden Dollar an Investitionen sowie 4,4 Millionen Arbeitsplätze gekostet haben könnte, da die Untersuchung den gesamten Bau- und Erdölsektor in Brasilien jahrelang mehr oder weniger lahmlegte.
Lava Jato mag eine gerichtliche Untersuchung begonnen haben, doch sie wurde zu einer bedeutenden Kraft innerhalb des brasilianischen Staates, die ihre eigene politische Agenda verfolgte. Mit Unterstützung des Kapitals, des Justizministeriums, der internationalen Anti-Korruptions-Industrie und der Medien konnte sie genügend Macht aufbauen, um ganze Regierungen zu stürzen.
Bolsonaro, der als Anti-Korruptions-Kandidat die Wahl gewann, machte daraufhin Lava Jato dicht und hebelte die Anti-Korruptions-Protokolle aus, um sein Amt schamlos dafür auszunutzen, seinen Clan zu bereichern. Dabei ist ihm keine neue Anti-Korruptions-Bewegung entgegengetreten; denselben Leute, die vermeintlich aufgrund von Korruption gegen die PT-Regierung auf die Straße gingen, ist es nun gleichgültig, dass Bolsonaro in Koalition mit den Parteien des Centrão regiert – den korruputionsanfälligsten Kräften der brasilianischen Politik. Die mit Bolsonaro verbündeten Anführer des Centrão kontrollieren nun sowohl das Unter- als auch das Oberhaus des brasilianischen Kongresses.
Das Nachwirken von Lava Jato erstreckt sich jedoch weit über Brasiliens Grenzen hinaus. In den USA verspricht die neue Biden-Administration, die Korruptionsbekämpfung zu einem Kernstück ihrer außenpolitischen Agenda zu machen – und das Modell, das sie dabei im Sinn hat, basiert auf Lava Jato. Die Untersuchung wurde aktiv vom US-Justizministerium unterstützt, wahrscheinlich unter Verletzung sowohl internationaler Verträge als auch brasilianischer Gesetze. Die Aufdeckung der kriminellen Hintergründe von Lava Jato – erst durch das Nachrichtenportal The Intercept und nun auch durch den Obersten Gerichtshof Brasiliens – hat bisher weder in der internationalen Anti-Korruptions-Industrie, noch in der US-Außenpolitik eine öffentliche Selbstreflexion ausgelöst. Stattdessen wird die »Autowäsche« nach wie vor als paradigmatisches Vorbild der Korruptionsbekämpfung propagiert.
Die nächsten Wahlen in Brasilien sind noch anderthalb Jahre entfernt – aber schon jetzt zeichnet sich folgendes Bild ab: Die PT bleibt die stärkste Partei in Brasilien, und wenn ihn keine weiteren juristischen Schikanen von der Macht fernhalten, wird Lula eine Chance haben, die nötigen Kräfte zu sammeln, um das Land vor Bolsonaro zu retten.
Benjamin Fogel ist Historiker und Redakteur bei »Africa is a Country« und »Jacobin«.
Benjamin Fogel ist Historiker und Redakteur bei »Africa is a Country« und JACOBIN.