24. März 2022
Während Bolsonaro strauchelt, steuert Lula seine Rückkehr in die brasilianische Präsidentschaft an. Mit welchen Bündnissen die Linke Lula zum Sieg verhelfen kann, ist jedoch umstritten.
Lula bei einem öffentlichen Auftritt in São Paulo, 8. Dezember 2021.
Die Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten von Brasilien war ein Triumph für rechte Kräfte. Er wurde mit Unterstützung der Eliten des Landes von einer erstarkenden konservativen Bewegung ins Amt getragen. An deren Speerspitze standen die evangelikale Kirche und Befürworter der Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 andauerte.
Seit Bolsonaro 2019 an die Macht kam, ist eine Debatte darüber entbrannt, ob man seine Regierung als faschistisch bezeichnen kann. Jedenfalls hat sein Sieg dem offenen Faschismus in Brasilien zu neuer Popularität verholfen: Die Mitgliederzahlen brasilianischer Neonazi-Gruppen sind zwischen Januar 2019 und Mai 2021 um 270 Prozent gestiegen. Die Produktion, Vermarktung und Verbreitung von Nazi-Material steht in Brasilien unter Strafe. Diese Delikte haben zwar schon seit 2015 zugenommen, sind jedoch seit 2019 rapide angestiegen. Mittlerweile forderten sowohl ein bekannter brasilianischer Podcaster als auch ein Kongressabgeordneter, das Verbot von Nazi-Parteien aufzuheben.
Obwohl Bolsonaros Beliebtheit seit seinem Amtsantritt eingebrochen ist und seine Zustimmungswerte auf 22 Prozent gesunken sind, ist rechtsextremes Gedankengut in der brasilianischen Gesellschaft auch weiterhin sehr präsent. Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Rechtsextremismus auch die für Oktober 2022 angesetzten Wahlen beeinflussen wird.
Zwar spekulieren einige, dass sich Bolsonaro, bevor er verliert, für einen Sitz im Kongress entscheiden könnte, um seinen privilegierten Status zu bewahren, jedoch ist man in Brasilien alles in allem auf ein Rennen zwischen Bolsonaro und Lula eingestellt. Derzeit gilt der ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva als Favorit. Dennoch wäre es ein schwerwiegender Fehler, Bolsonaros Wahlniederlage als beschlossene Sache anzusehen.
Laut einer aktuellen Umfrage würde Lula in der zweiten Runde gegen jeden der potenziellen Kandidaten gewinnen – einschließlich des Richters Sergio Moro, der ihn zu Unrecht inhaftiert hatte. Doch Lulas Vorsprung vor Bolsonaro ist inzwischen von 22 auf 15 Prozent gesunken. Bolsonaros Basis spielt außerdem gern und häufig auf den Sturm auf das Kapitol in Washington an und auch er selbst hat schon in der Vergangenheit mit Putsch gedroht. Falsches Spiel ist bei der bevorstehenden Wahl also nicht ausgeschlossen.
Angesichts dessen muss sich die brasilianische Linke überlegen, welche strategischen Bündnisse ihr zum Sieg verhelfen – und welche ihr dabei eher im Weg stehen.
Die Geschichte der Demokratie in Brasilien ist voller Dramatik. Die gegenwärtige Verfassung wurde vor gerade einmal drei Jahrzehnten eingeführt und seitdem wurden zwei Präsidenten ihres Amtes enthoben, einer wurde indirekt ins Amt gewählt und zwei weitere waren Vizepräsidenten, die das Amt nur vorübergehend bekleideten.
Eines dieser Amtsenthebungsverfahren betraf 2016 Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) und wurde von der brasilianischen Kapitalistenklasse und ihren Verbündeten auf der politischen Rechten angeführt. Die PT hatte auf Klassenkompromiss gesetzt, um regierungsfähig zu bleiben. Doch nach jahrelangen Verhandlungen verloren die Kapitalisten die Geduld. Die PT reagierte darauf, indem sie einige Zugeständnisse an die Rechte im Kongress machte und unter dem damaligen Finanzminister Joaquim Levy eine Reihe von Sparmaßnahmen umsetzte. Aber selbst diese Zugeständnisse reichten nicht aus, um den parlamentarischen Putsch zu verhindern, der Rousseff mithilfe ihres Vizepräsidenten Michel Temer aus dem Amt drängte.
Rousseff hat versucht, aus dem Coup von 2016 eine Lehre zu ziehen. Sie betont, dass die Stärke einer Regierung darauf beruht, die Bevölkerung zu organisieren, und dass die PT ihre Mobilisierungsfähigkeit eingebüßt habe. Die Mobilisierung gegen den Putsch war anfangs diffus. Wenn man bedenkt, dass die brasilianische Rechte die Unzufriedenheit der Bevölkerung schon während der heterogenen Proteste im Juni 2013 zu vereinnahmen versuchte und bereits unmittelbar nach Rousseffs Wiederwahl 2014 zu einem Putsch aufrief, kam sie vielleicht aber auch einfach zu spät.
Auch die radikale Linke, die ohnehin viel schwächer ist als die PT und deren gemäßigte Verbündeten, war zu dieser Zeit gespalten. Während Teile der Partei für Sozialismus und Freiheit (Partido Socialismo e Liberdade, PSOL) gegen den Staatsstreich (und später gegen Lulas Inhaftierung) protestierten, waren andere Mitglieder der Meinung, dass die PT-Regierung – und mit ihr auch andere Politikerinnen und Politiker des Establishments – am besten allesamt ihrer Ämter enthoben werden sollten. Einige unterstützten sogar die sogenannte Operation Autowäsche (Operação Lava Jato) und deren abgekarteten Feldzug gegen Korruption.
Das Thema Korruption stößt in Brasilien schon seit langem auf breite, emotionale Resonanz. Aber der Linken ist es nicht gelungen, diese Frustration zu politisieren. Sie hat mitunter auch schwache Narrative übernommen, die Korruption auf Charakterschwäche reduzieren, anstatt sie als Wesenszug kapitalistischer Demokratien und den dazugehörigen Konflikten innerhalb des kapitalistischen Staates zu verstehen. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Korruptionsbekämpfung erstarkte unterdessen der Bolsonarismo, der Moralismus und chauvinistischen Nationalismus mobilisiert. Die Darstellung Lulas als korrupten Dieb ist jedoch kein Ergebnis der Lava-Jato-Ermittlungen oder des Bolsonarismo. Dieses Bild verfestigte sich erst in den letzten Jahren und wird, wenn die Wahlen näher rücken, in einer neuen Welle von Fake News erneuert werden.
Die Verwendung von Fake News zur Diskreditierung der Linken wird immer verbreiteter. Mitunter diffamieren sogar Linke andere linke Personen und Organisationen mit falschen Behauptungen – ein Phänomen, das für die anhaltende Krise und Fragmentierung der brasilianischen Linken symptomatisch ist. Diese Zersplitterung befeuert Debatten darüber, wie man sich zu Lulas Kandidatur in diesem Jahr verhalten soll und wie man unter einer neuen Lula-Regierung mobilisieren und verhandeln soll, sofern er die Wahl gewinnt. Dabei stellt sich vor allen Dingen die Frage nach möglichen Bündnissen.
Im Juni 2002, bevor Lula seine erste Präsidentschaftswahl gewann, veröffentlichte er einen »Brief an die brasilianische Bevölkerung«, der tatsächlich aber an den Finanzsektor gerichtet war. Die Kernbotschaft lautete, dass Lulas Regierung im Falle seines Sieges eine Agenda »umfangreicher nationaler Verhandlungen« verfolgen und gleichzeitig frühere Verträge einhalten und einen ausgeglichenen Haushalt anstreben würde. So erwähnte Lula in dem Brief zwar, dass er den Landwirtschaftssektor reformieren wolle, betonte zugleich aber auch, dass die Agrarindustrie wertgeschätzt werden solle. Um die Wirtschaftskrise zu lösen, müsse die PT-Regierung einen Dialog mit sämtlichen Bereichen der Gesellschaft anstreben und die öffentlichen Ausgaben unter Kontrolle halten, während sie gleichzeitig ein Programm entschlossenen, aber »verantwortungsbewussten« Wandels anstrebe.
Lulas Brief war sowohl für seine Regierungstätigkeit als auch für die von Rousseff tonangebend. Er brachte wichtige Sozialprogramme auf den Weg und verbesserte die Lebensstandards von Millionen von Brasilianerinnen und Brasilianern. Gleichzeitig bedeutete die Uneindeutigkeit des Lulismo, dass auch der Banken- und Agrarsektor wuchs und Profite in Rekordhöhe einfuhr. Auf diese Entwicklung verweist Lula oft mit Stolz, obwohl dieselben Akteure den Sturz von Rousseff organisierten, sich unter Temer für gewerkschaftsfeindliche Reformen einsetzten und letzlich Bolsonaro zum Sieg verhalfen.
Diese Widersprüchlichkeit ist auch heute präsent. Bolsonaros Finanzminister Paulo Guedes hatte einen wirtschaftlichen Aufschwung versprochen, konnte die kapitalische Klasse jedoch nicht zufriedenstellen. Selbst die Reicheren und Gebildeteren unter Bolsonaros Fans sind der Meinung, dass es seiner Regierung an Strategie mangelt und Bolsonaros Autoritarimus das Land destablisiert. Als Bolsonaro dem Obersten Gerichtshof unverhohlen zu drohen begann, musste sich Temer einschalten und mit einem Brief die Gemüter beruhigen. Kurz gesagt: Die brasilianische Elite steht nicht geschlossen hinter Bolsonaro. Die Unterstützung dieser Klientel steht offen zur Verfügung – und das weißt Lula ganz genau.
Um diese ungebunden Eliten zu umwerben, hat sich Lula für einen rechtsgerichteten Vizepräsidenten entschieden. Aus Perspektive der Linken ist das enttäuschend, besonders wenn man bedenkt, dass 2018 Manuela D’Ávila von der gemäßigt linken Kommunistischen Partei Brasiliens (Partido Comunista do Brasil, PCdoB) als Kandidatin für den Posten auf der Wahlliste stand.
Auch wenn die Personalie noch nicht offiziell bestätigt wurde, haben Lula und die PT anklingen lassen, dass sie Geraldo Alckmin favorisieren. Alckmin war viermal Gouverneur von São Paulo und seine Regierungsführung war von Korruptionsskandalen und gewaltsamer Repression sozialer Bewegungen geprägt. Unter Alckmin wurden 2012 Tausende von Familien von ihrem Land vertrieben und ihre Häuser zerstört. In der Siedlung Pinheirinho wurden schwangere Frauen, Kinder und ältere Menschen brutaler Gewalt durch die Polizei ausgesetzt. Alckmin war stets ein Kritiker der PT; auch er hat Lula Kriminalität und Korruption nachgesagt.
Lula scheint jedoch bereit zu sein, das Kriegsbeil zu begraben. Bei anderen Linken, die die Vorstellung von Alckmin als Vizepräsidenten entsetzlich und deprimierend finden, stößt dies auf Widerwillen. In den südlichen Bundesstaaten Brasiliens mag man mit einer Lula-Alckmin-Kandidatur noch punkten können, doch die Arbeiterinnen und Arbeiter in São Paulo haben Alckmins Brutalität nicht vergessen.
Einige Mitglieder der PT behaupten, man könne Bolsonaro nur gemeinsam mit Alckmin besiegen. Sie weisen die Einwände von Linken harsch zurück und bezeichnen diese bestenfalls als kontraproduktiv. Die Gemäßigten rollen Alckmin derweil den roten Teppich aus. Dabei bleibt er ein Repräsentant des Putsches von 2016, auch wenn er eine politische Karriere jenseits von Bolsonaro anstrebt. Dass man der Linken Blockadehaltung vorwirft, hat eine Debatte vom Juni 2013 wieder aufleben lassen, in der die radikale Linke für den Putsch verantwortlich gemacht wurde.
Vor einigen Monaten begannen Aktivistinnen und Influencer mit roten Baseballkappen aufzutreten, auf denen »Make Brazil 2002 Again« zu lesen ist – eine Anspielung auf Lulas erste gewonnene Präsidentschaftswahl.
Das hat eine gewisse Ironie: Wenn diese Lula-Fans das Jahr 2002 als Beginn einer großen Ära darstellen, begeben sie sich unwissentlich in einen Sumpf von Widersprüchen, der letztlich die Rechten dazu befähigte, die PT-Regierung zu stürzen und durch ein Staatsoberhaupt mit faschistischen Idealen zu ersetzen. Die Wahl Lulas war ein Zeichen der Hoffnung, aber zugleich auch der Zurückhaltung. Sie sorgte dafür, dass Millionen von Menschen drei Mahlzeiten am Tag auf dem Tisch hatten, aber auch dafür, dass die Milliardärinnen und Milliardäre immer reicher wurden – und als ihnen die Politik der PT nicht mehr dienlich war, brachte diese ermächtigte kapitalistische Klasse sie zum Sturz.
Natürlich stimmt es, dass Brasilien mit Lula einst einen Präsidenten hatte, dem es nicht egal war, ob Menschen leben oder sterben – während einer Pandemie hätte das einen großen Unterschied gemacht. Unter Bolsonaros Führung gab es bisher über 600.000 Corona-Tote in Brasilien. Aber diese melancholische Nostalgie weist keinen Ausweg. Es braucht strategische Überlegungen darüber, mit wem man sich verbünden kann, und wann eine rote Linie überschritten wird. Lula wieder zum Präsidenten zu machen, ist ein bedeutendes Ziel. Es gibt zwar andere linke Alternativen, aber niemand hat gerade bessere Erfolgsaussichten als er. Aber Lula ist kein Gott. Seine Wahl ist noch keine ausgemachte Sache, und seine Politik des Klassenkompromisses schafft zwar Stabilität, zugleich aber auch gefährliche Schwachstellen.
Diejenigen, die Alckmin für einen validen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft halten, behaupten, dass Lula wisse, was er tue. Aber wenn Rousseff recht damit hat, dass die PT die Bevölkerung für eine linke Regierung hätte mobilisieren sollen, dann ist es fatal, einen Vize aufzustellen, der dafür bekannt ist, sozialen Protest brutal niedergeschlagen zu haben, und der einen Putsch unterstützte, der einst Rousseffs rechten Vizepräsidenten für mehr als zwei Jahre auf den Posten der Präsidentschaft hievte. Gab es unter all den Politikerinnen und Politikern des Zentrums und der Rechten, die sich für Lulas Strategie der Regierungsfähigkeit geeignet hätten, wirklich niemand besseren gegeben, als einen Vizepräsidenten, der in den Putsch von 2016 verwickelt war?
Lula war der bislang beste Präsident, den Brasilien je hatte. Aber auch er ist nicht ohne Fehler. Es bleibt zu hoffen, dass er, wenn er die Wahl gewinnt, die Mobilisierung der breiten Bevölkerung wieder zur obersten Priorität erhebt.
Sabrina Fernandes ist Ökosozialistin, promovierte Soziologin und in der politischen Kommunikation und im Organizing tätig. Sie ist Postdoc-Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung und betreibt den marxistischen YouTube-Kanal Tese Onze.
Sabrina Fernandes ist eine brasilianische öko-sozialistische Organizerin und Referentin. Sie hat in Soziologie an der Carleton University, Kanada, promoviert und ist Postdoktorandin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Außerdem betreibt sie den marxistischen Youtube-Kanal Tese Onze.