11. Oktober 2023
Die Ampel versprach der Seenotrettung staatliche Förderung und die Organisation SOS Méditerranée wurde dieses Jahr sogar mit dem alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Doch diese symbolische Anerkennung bleibt schal, solang die europäische Abschottungspolitik weiter fortgesetzt wird.
Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer sind eine Notlösung, es braucht legale Fluchtwege.
Heute vor 10 Jahren kämpften im zentralen Mittelmeer etwa 400 syrische Flüchtende ums Überleben. Ihr Boot war vor Libyen beschossen worden, es sank, aber Rettung ließ stundenlang auf sich warten. Bereits sieben Tage zuvor waren nahe der italienischen Insel Lampedusa über 365 Menschen aus Eritrea und Somalia ertrunken. Die geschätzte Gesamtzahl der Opfer dieser düsteren Woche liegt um die 600. Der doppelte Schiffbruch von 2013 setzte eine Kette von Ereignissen in Bewegung, die bis heute nicht abreißt: Auf die staatliche, italienische Seenotrettungsmission Mare Nostrum folgte die zivile Seenotrettung. Wellen von Versuchen aus Politik und Justiz, diese zu unterbinden, trafen auf breite Dämme gesellschaftlicher Solidarität. Nur für die Flüchtenden änderte sich wenig zum Besseren.
Jüngst erhielt mit SOS Méditerranée eine zivile Seenotrettungsorganisation den Right Livelihood Award, der als»alternativer Friedensnobelpreis« gilt. Die Französisch-Deutsche Nichtregierungsorganisation rettete nach eigenen Angaben seit 2015 über 38.500 Menschen, die auf ihrem Weg von Nordafrika nach Europa in Seenot geraten waren. Retten, das heißt im zentralen Mittelmeer den Flüchtenden auf ihren überladenen, nicht-seetüchtigen Gefährten eine Rettungsweste aushändigen, sie an Bord des eigenen Schiffes nehmen, erstversorgen und anschließend entweder europäischen Militärs übergeben oder selbst ins nahe Italien an Land bringen – wo sie die nächste Odyssee durch das Lager- und Asylsystem der EU erwartet. Ich habe zwischen 2016 und 2021 an zahlreichen dieser Hilfseinsätze als Aktivist und später auch als Sprecher der Organisation Sea-Watch teilgenommen.
Warum erhält nun ausgerechnet SOS Méditerranée (als eine von etwa einem Dutzend aktiver NGOs im Mittelmeer) den alternativen Nobelpreis? Auf Nachfrage erklärt die Right Livelihood Foundation, SOS Méditerranée stünde »exemplarisch für die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements dort, wo Politik versagt.« Ole von Uexküll, Geschäftsführer der Stiftung hebt gegenüber der Tagesschau hervor, die Organisation betreibe »eine unheimlich professionelle Arbeit, um Menschenleben zu retten. Aber es ist auch eine Arbeit, die diesen Menschen eine Stimme gibt.«
Tatsächlich bemüht sich SOS Méditerranée, wie viele andere NGOs, die persönlichen Geschichten ihrer Gäste an Bord öffentlich zu erzählen. Das bringt Spenden und entspricht dem in liberal-antirassistischen Kreisen vorherrschenden Diskurs, demzufolge man Diskriminierungs-Betroffenen in erster Linie zuhören müsse, um diskriminierende Strukturen zu beseitigen. Gleichzeitig erklärt ein Mitglied des Vorstands von SOS Méditerranée Schweiz, im selben Tagesschau-Bericht wie von Uexküll, die Organisation arbeite absichtlich nicht politisch, sondern wolle nur Menschen retten.
Diese Strategie des Erzählens persönlicher Leidensgeschichten in einem explizit unpolitischen Rahmen, zementiert nicht nur die ewige Opferrolle der Migrierenden, sie hält auch die Erzählung einer abstrakten »Migrationskrise« über Wasser, die staatlich-humanitär gemanagt werden muss. Der eklatante Mangel an politischer Haltung bewog die deutsche Sektion von SOS Méditerranée vor zwei Jahren dazu, der Organisation den Rücken kehren und SOS Humanity zu gründen. Im Gegensatz dazu, erklärt die Right Livelihood Foundation nun das absolute Mindestmaß an menschlichem Anstand – andere nicht ertrinken zu lassen und ihnen zuzuhören – zum preisverdächtigen »Change-Making«.
»Meloni umschifft mit ihrer Politik der unverzüglichen Hafenzuweisung gekonnt unschöne Bilder und internationale Kritik.«
Humanitäre Seenotrettung im Mittelmeer kann immer nur eine Notlösung sein. Um das Sterben an der tödlichsten Grenze der Welt wirklich zu beenden, bräuchte es sichere und legale Einreisewege für Flüchtende und Migrantinnen in die EU. Gerade diese aber wurden seit den 1970er-Jahren systematisch verschlossen, wobei die zuletzt beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems GEAS nur den Chrom auf dem Stacheldraht der hohen europäischen Zäune darstellt.
Die meisten Seenotrettungsorganisationen sind sich darüber mehr oder minder im Klaren: Sea-Watch formulierte bereits bei der Gründung den Anspruch, vor allem dafür zu kämpfen, den eigenen Einsatz schnellstmöglich überflüssig zu machen. Das italienische Bündnis Mediterranea wurde 2018 explizit als zivilgesellschaftlicher Gegenentwurf zur Schließung der Häfen des Landes durch den damaligen rechtsradikalen Innenminister gegründet. Auch Sea-Eye, die Louise Michel Crew und die spanischen Rettungsschwimmer von Open Arms positionieren sich immer wieder lautstark gegen die europäische Politik des organisierten Sterbenlassens. Ärzte ohne Grenzen hatte aus Protest gegen die mörderische Grenzpolitik 2016 sogar rund 50 Millionen Euro in Spenden von EU-Staaten ausgeschlagen.
Heute ist es ein EU-Staat, der Spenden erst öffentlichkeitswirksam ankündigt und dann wieder zurückrudert: Anfang November 2022 beschloss der Haushaltsausschuss des Bundestages, über die drei Folgejahre jeweils 2 Millionen Euro für die zivile Seenotrettung zur Verfügung zu stellen. Diese sollten, auf Antrag von Grünen und SPD, an das von der evangelischen Kirche initiierte Bündnis United4Rescue ausgezahlt und durch dieses weiter verteilt werden. »Die Politik muss endlich handeln. Genau das haben wir jetzt getan: Ich freue mich, dass wir die Seenotrettung mit über acht Millionen Euro unterstützen werden!«, tönte es derzeit aus der SPD-Fraktion. Nicht wenigen Aktivistinnen der Seenotrettung kam das Angebot fischig vor; wirkte es doch (im Vergleich zu gewissen Sondervermögen) wie eine Kaffeekassen-Summe, mit der sich die deutsche Regierung einen hübschen, humanitären Anstrich verpassen würde, während sie politisch weiter an der Abschottung Europas durch GEAS und Tunesien-Deal arbeitete.
Doch soweit kam es gar nicht: Nach einem halben Jahr Verhandlungen verkündete das Auswärtige Amt, aus dessen Pfründen die Staatshilfen fließen sollten, dass kein Geld an United4Rescue fließen würde; Seenotrettende könnten sich direkt bei der deutschen Diplomatie um Gelder bewerben, man wolle aber auch Projekte an Land fördern. »Damit bleibt offen, ob und wie viel Geld tatsächlich in die Seenotrettung fließt«, kritisierte United4Rescue auf X. Viele Seenotrettende schlossen sich der Empörung an. Selbst um einen Ablassbrief zum Spartarif wird bei der deutschen Grenzverwaltung noch gefeilscht.
Dieser Tage sollten nun tatsächlich die ersten Gelder fließen: Jeweils zwischen 400.000 und 800.000 Euro an ein Projekt zur Versorgung an Land und an SOS Humanity, die ehemalige deutsche Sektion des alternativen Nobelpreisträgers SOS Méditerranée, die seit einem Jahr selbstständig operiert. Giorgia Meloni, die postfaschistische Regierungschefin Italiens, beschwerte sich darüber umgehend bei ihrem deutschen Amtskollegen Olaf Scholz. Dieser nahm daraufhin eine Falschmeldung der Springerpresse zum Anlass, sich von der Seenotrettungs-Förderung zu distanzieren. So hatte »Bild« unter Berufung auf Quellen im Bundestag berichtet, dass im Etat für 2024 bis 2026 keine weiteren Zahlungen vorgesehen seien. Zu dem Bericht befragt, positionierte sich Scholz süffisant gegen den Förderantrag aus den eigenen Reihen: »Ich habe den Antrag nicht gestellt«, erklärte er auf einer Pressekonferenz. Immerhin kann sich SOS Humanity, trotz der Scharade um die Staatsförderung, nun wenigstens darüber freuen: Meloni getriezt zu haben ist vom politischen Standpunkt her betrachtet eine größere Ehrung, als jeder noch so alternative Nobelpreis.
Denn Giorgia Meloni hat dieses Jahr geschafft, was viele vor ihr versucht hatten: Während die Ankunftszahlen auf Lampedusa durch die Decke schossen, wurde eine effiziente, zivile Seenotrettung im zentralen Mittelmeer beinahe unmöglich gemacht. Melonis Rechts-Ultrarechts-Regierung hatte Ende 2022 ein Dekret erlassen, das es NGOs untersagt nach der ersten Rettung weiter im Einsatzgebiet zu bleiben. Zusammen mit einer Taktik, die zuerst von der sozialdemokratischen Regierung der Jahre 2017 und 2018 erfolgreich zum Einsatz gebracht worden war – nämlich NGO-Schiffen mit Überlebenden an Bord Häfen weit im Norden des Landes zuzuweisen – stellte sich diese Verordnung als effektive Sandbank gegen die Seenotrettung heraus.
Im Gegensatz zur Politik der geschlossenen Häfen (#PortiChiusi) ihres Vorläufers Matteo Salvini, umschifft Meloni mit ihrer fast diametral wirkenden Politik der unverzüglichen Hafenzuweisung gekonnt unschöne Bilder und internationale Kritik. Die Seenotrettenden hatten ihre Versorgungskapazitäten, als Reaktion auf die langen »Stand-Off«-Blockaden der Salvini-Ära, kontinuierlich maximiert. Nun tuckern sie mit ihren hochgerüsteten Schiffen tagelang und unter erheblichen Betriebskosten die Küste hinauf – allerdings nur mit einer Minimalanzahl an Geretteten an Bord. Retten sie doch mal mehr als ein Boot, werden Schiffe beschlagnahmt und ein Bußgeld fällig – und während Salvinis populistische Anti-Seenotrettungs-Legislatur regelmäßig von Gerichten kassiert wurde, scheint Melonis Dekret vorerst Bestand zu haben.
»Denn das Elend der Menschen im Mittelmeerraum ist weder eine unvermeidliche Krise der Migration, noch eine rein humanitäre Katastrophe, es ist ein politisch gewollter Ausnahmezustand.«
Manch eine NGO navigiert sich aber auch selber aufs Trockene: Jahrelang hatten sich die großen Institutionen der Seenotrettung eine Materialschlacht mit den italienischen Behörden geliefert, die NGO-Schiffe am laufenden Band unter dem Vorwand technischer Mängel an die Kette gelegt hatten. Zudem wurden die traditionellen Möglichkeiten, Schiffe nicht-kommerziell zu registrieren, in den Niederlanden und Deutschland gezielt bürokratisch verbaut. Die NGOs reagierten mit der Professionalisierung und technischen Aufrüstung ihrer Flotte. Nun bringt die komplexe Verwaltung dieser Berufsschiffe, die oft auch den hohen Anforderungen der deutschen Flagge standhalten muss, ehemals aktivistische Organisationen wie Sea-Watch an ihre logistischen Grenzen. So kommt die von United4Rescue co-finanzierte Sea-Watch 5 aufgrund der erheblichen technischen Herausforderungen von Umbau und Registrierung seit fast einem Jahr nicht aus der Werft.
Anderen Organisationen macht vor allem der Spendeneinbruch durch Ukraine-Krieg und Inflation zu schaffen. Und so sind es aktuell ausgerechnet die kleinsten und unauffälligsten, die im tödlichen Chaos des Mittelmeers noch effektiv helfen können: Organisationen wie ResQship, die mit kleinen Segelbooten erste Hilfe leisten, oder auch das von einem anarcha-feministischen Kollektiv betriebene Schnellboot Louise Michel operieren weitgehend ungehindert und werden teils sogar von der italienischen Küstenwache in Rettungseinsätze eingebunden. Auch auf die Sea-Watch Luftaufklärungsmission Seabird griff die Guardia Costiera in den letzten Monaten immer wieder zurück.
Denn tatsächlich sieht sich Lampedusa bereits den gesamten Sommer einer zermürbenden Situation gegenüber: Seit Jahresbeginn haben mehr als 118.500 Menschen die italienische Küste erreicht, fast doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres – und viele von ihnen durch das Nadelöhr Lampedusa. Allein am 12. September, einen Tag nachdem das verheerende Sturmtief Daniel in Libyen über 11.000 Menschen das Leben gekostet hatte, strandeten über 5.000 Menschen mit 112 Booten auf dem gerade mal 20 Quadratkilometer großen Felsen. Selbst erfahrene Seenotrettungs-Aktivisten sind von der Situation überwältigt, reden von Szenen wie in einem dystopischen Film, zwischen Militär, Polizei und tausenden Geflüchteten in Rettungsdecken.
Dabei kommen die Ankünfte weder völlig unerwartet noch müssten sie das kleine Lampedusa an seine Kapazitätsgrenze bringen. Die Krise ist politisch intendiert: Während die italienische Politik sich in den letzten Jahren verbog, um ihren Staatsfeind Numero Uno, die zivile Seenotrettung, zu blockieren, kamen fast täglich Boote eigenständig auf Lampedusa an. Nur acht Prozent der gelandeten Migrierenden wurden dieses Jahr von NGOs gerettet. Dabei konzentriert sich die zivile Seenotrettung fast ausschließlich auf die gefährliche Route Libyen-Italien, während die meisten Boote nach Lampedusa aus Tunesien ablegen. »Man muss die Zahlen schon etwas ins Verhältnis setzen«, mahnt selbst der umstrittene UN-Sonderberichterstatter für das zentrale Mittelmeer, Vincent Cochetel, gegenüber der Tagesschau an. »Das Gefühl einer Krise entsteht durch das schlechte Management dieser Situation«. In den Tschad seien dieses Jahr viermal so viele Menschen geflohen wie nach Italien.
Trotz jährlich tausender Neuankömmlinge wurde der Hotspot auf Lampedusa seit Jahren nicht erweitert, von humanitären Kapazitäten außerhalb des autoritären Lagersystems ganz zu schweigen. »Der Hotspot, der für 389 Personen Platz bot, ist bei 7000 Menschen einfach geplatzt«, berichten Aktivistinnen vor Ort. Die resultierende Situation, in der sich Neuankömmlinge ausnahmsweise weitgehend frei auf der Insel bewegen und von Einheimischen behelfsmäßig mit Wasser und Nahrung versorgt werden, wird von vielen Medien und der Politik als dramatisches Chaos kolportiert. Giorgia Meloni reist an, wie dieser Tage fast immer mit Ursula von der Leyen im Gepäck. Aktive vor Ort heben derweil, neben dem Mangel an Grundversorgung und Transportkapazitäten, auch die breite Solidarität und eine lang verdrängte, menschliche Kontaktaufnahme im öffentlichen Raum hervor.
Das ist wichtig. Denn das Elend der Menschen im Mittelmeerraum ist weder eine unvermeidliche Krise der Migration, noch eine rein humanitäre Katastrophe, es ist ein politisch gewollter Ausnahmezustand, der Abschrecken und Ausgrenzen soll. Und während Elon Musk sich auf seiner Pöbel-Plattform X laut fragt, ob der deutschen Öffentlichkeit klar ist, dass deutsche Schiffe mit deutschen Steuergeldern im Mittelmeer »illegale Migranten einsammeln«, und das Auswärtige Amt ihm antwortet, man nenne das Lebensrettung, geht eines mal wieder sang- und klanglos unter: Die Frage, warum überhaupt Menschen ihre Suche nach Sicherheit und Lebensperspektive in nicht seetüchtigen Eisen- oder Gummibooten antreten mussten.