08. Juli 2025
Obwohl die globale Dominanz der USA bröckelt und China als Rivale auftritt, bleibt die unilaterale Weltordnung intakt, so der Historiker Vijay Prashad. Weshalb er die NATO für die gefährlichste Organisation der Welt hält, erklärt er im Interview.
Trotz Chinas Aufstieg ist die Hegemonie der USA noch lange nicht vorüber, meint der Historiker Vijay Prashad.
Schaut man sich die politische Debatte in Deutschland an, könnte man den Eindruck gewinnen, der Westen sei umzingelt von Feinden, die ihn vernichten wollen. Doch außerhalb der Washington-Berlin-Blase ist der Tenor ein anderer: die USA, die spätestens seit dem Zerfall der Sowjetunion die Weltpolitik dominierten, stecken selbst in einer tiefen Krise und sind immer weniger in der Lage, ihre globale Dominanz aufrechtzuerhalten. Das birgt einerseits die Gefahr von immer mehr bewaffneten Konflikten, wie den jetzigen Kriegen in der Ukraine oder dem Gazastreifen, aber auch die Chance auf eine Welt, in der es Platz gibt für mehrere regionale Akteure und selbstbestimmte Entwicklungspfade abseits des sogenannten Washington-Konsenses.
Während erneut über einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg verhandelt wird, Iran die Zusammenarbeit mit der IAEA aussetzt und die BRICS-Plus-Staaten sich in Brasilien treffen, analysiert der Historiker Vijay Prashad die Machtverschiebungen auf der Weltbühne. Die NATO sei die gefährlichste Organisation der Welt, warnt Prashad, während die Heuchelei in Europa gegenüber dem ärmeren Teil der Welt weitergeht. Doch man sollte diese Entwicklungen auch nicht überbewerten – der Dollar bleibt als Weltwährung dominant und die herrschenden Eliten der BRICS-Plus-Länder sind noch weit davon entfernt, sich vom Westen zu emanzipieren. Eine neue Weltordnung bleibt erstmal in weiter Ferne – aber die Krise der jetzigen bietet auch Chancen für linke Durchbrüche.
Der Iran wurde ohne glaubwürdigen Vorwand von Israel und auch von den USA bombardiert. Teheran reagierte mit Raketenangriffen auf Israel und auf einen US-Stützpunkt in Katar. Der Völkermord Israels in Gaza dauert nach über 600 Tagen weiter an, ein Ende ist nicht in Sicht, während die IDF weiterhin den Libanon angreift. All diese Angriffe sind aggressive Handlungen und nach internationalem Recht illegal. Wie beurteilen Sie die aktuelle Konfliktsituation und die Zukunft des Nahen und Mittleren Ostens?
Indien und Pakistan haben drei Tage lang Krieg geführt. Dabei wurde deutlich, dass bei zwei Militärmächten, die beide über eine wirklich gute Luftabwehr, Drohnen, ein System, das mit den Kampfjets integriert werden kann, verfügen, niemand gewinnen kann. Weder die indische noch die pakistanische Luftwaffe waren in der Lage, die Luftabwehrsysteme des Gegners zu durchbrechen und zu zerstören.
Bei Israel und dem Iran, wenn man nur die militärischen Kapazitäten betrachtet, war schnell klar, dass keiner der beiden gewinnen kann. Israel wird nicht in den Iran einmarschieren, der Iran wird nicht mit Bodentruppen nach Israel gehen. Das einzige, was das Gleichgewicht kippen könnte, wäre das Eingreifen der Vereinigten Staaten, die über die mit Abstand größte Feuerkraft verfügen.
Die USA haben zwar drei Bombenangriffe geflogen. Das war aber ziemlich folgenlos. Der Iran reagierte mit einem Angriff auf Al-Udeid [US-Militärbasis in Katar], der im Grunde genommen choreografiert war, nach dem Motto: »Wir haben zurückgeschlagen«. Ich habe daher den Eindruck, dass die Militärstrategen in diesen Ländern nun feststellen: Solange wir keinen bedeutenden militärtechnologischen Durchbruch erzielen oder Israel keine Atomwaffen gegen den Iran einsetzt, ist es unmöglich, sich durchzusetzen.
»Der Angriff auf den Iran ist also nichts Neues. Er ist Teil eines langen Prozesses, der darauf abzielt, diese Regierung zu stürzen.«
Aus politischer Perspektive betrachtet begeht Israel Völkermord an den Palästinensern. Das ist illegal. Sie begehen einen Genozid und die Vereinigten Staaten liefern die Waffen. Auch Europa stellt Waffen bereit, darunter Deutschland. Sie beteiligen sich an einer kriminellen Aktion. Israels Angriff auf den Iran verstößt gegen Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta. Das ist derselbe Artikel, angesichts dessen [EU-Kommissionspräsidentin] Ursula von der Leyen so empört war, als Russland in die Ukraine einmarschierte. Aber die Europäer verurteilen Israel nicht.
Der Völkermord Israels an den Palästinensern und der Angriff auf den Iran sind auf derselben Ebene anzusiedeln. Der Iran hat Israel nicht angegriffen. Es gab keinerlei Selbstverteidigung. Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats liegt nicht vor, die Israel gemäß Kapitel 7 der UN-Charta erlaubt hätte, einen Angriff auf den Iran zu starten. Es gab keine iranische Provokation, nicht einmal verbale Drohungen gegenüber Israel. Tatsächlich haben hochrangige israelische Beamte öffentlich erklärt, warum sie den Iran angegriffen haben. Sie sagten, der Iran sei derzeit schwach. Man solle die Situation ausnutzen. Wahrscheinlich wird der Iran in zwei oder drei Monaten verkünden, dass er über eine Atombombe verfügt. Und dann ist es vorbei mit dem Regimewechsel in der iranischen Regierung.
Ist die Motivation für die kriegerischen Interventionen, Chaos in der Region zu stiften und dann davon zu profitieren?
Ich glaube nicht, dass sie Chaos wollen. Sie streben vielmehr eine sogenannte Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens an. Israel glaubt, dass sie die Hamas in den palästinensischen Gebieten auslöschen können. Sie wollen die Palästinenser aus weiten Teilen des Gazastreifens vertreiben, ein sicheres Israel schaffen, die Situation ausnutzen und auch die Palästinenser aus der Westbank verdrängen oder zumindest demoralisieren, damit sie nicht mehr gegen die Siedler kämpfen.
Israel ist nicht mehr an einer Zwei-Staaten-Lösung interessiert, wenn es das jemals war – wahrscheinlich war es das nie. Sie bevorzugen die Drei-Staaten-Lösung. Die Drei-Staaten-Lösung sieht so aus: Alle Palästinenser werden in den Libanon, nach Jordanien und Ägypten geschickt, also in die drei Staaten, die an die palästinensischen Gebiete angrenzen. Sie sollen verschwinden.
Es handelt sich dabei effektiv um eine Politik der sozialen Vernichtung: Man kann Menschen physisch vernichten, also Völkermord begehen, oder sie sozial zerstören, indem man sie einfach in andere Länder vertreibt – was ebenfalls gegen das Völkerrecht verstößt, da es sich um ein besetztes Gebiet handelt, das gemäß den Bestimmungen der Vereinten Nationen geschützt ist. Die Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen aus einem Kriegsgebiet ist nach internationalem Recht illegal.
Was die Iraner betrifft, so streben sie seit dem Jahr 1980 einen Regimewechsel im Iran an. Es waren der Westen und die Golf-Araber, die Saudis, die Saddam Hussein 1980 dazu drängten, in den Iran einzumarschieren und einen Krieg zu beginnen, der bis 1988 dauerte. Sie haben Saddam die ganze Zeit unterstützt.
Nach 1988 gab es punktuelle Äußerungen von ranghohen US-Beamten, dass man den Iran angreifen werde. Nach dem 11. September begingen die Vereinigten Staaten dann einen strategischen Fehler, als sie 2001 die Taliban-Regierung in Afghanistan und 2003 Saddam Hussein stürzten. Zwei historische Feinde des Iran, die sunnitischen Hardliner in Afghanistan und Saddam Hussein, wurden von wem beseitigt? Von den Amerikanern, was dem Iran einen enormen Vorteil in der Region verschaffte. Der Iran begann, seine Flügel auszubreiten und Einfluss auf die Ereignisse in der arabischen Welt zu nehmen. Dann gaben die USA 2006 Israel grünes Licht, den Libanon zu zerstören und die Hisbollah zu schwächen, erneut ein Verstoß gegen die UN-Charta.
»Macron sagte zu den Afrikanern, sie sollten dankbar sein. Ein Mindestmaß an Anstand sollte einen Weltführer davon abhalten, jemandem, den er kolonisiert hat, dazu aufzufordern, dankbar sein.«
Inmitten dieser Ereignisse erfand man plötzlich den Vorwurf, dass der Iran eine Atomwaffe bauen wolle. Die USA starteten schließlich illegale Gespräche mit dem Iran über sein Atomprogramm, denn der Iran ist ja Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags. Der Iran unterliegt der Kontrolle der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), lässt bereits Inspektionen zu und spricht mit UN-Vertretern. Es gab also keinen Grund, einen unrechtmäßigen Prozess mit den Vereinigten Staaten, den Europäern, den Iranern und der UN außerhalb der IAEA und des Atomwaffensperrvertrags einzuleiten, um über ein halluzinatorisches Nuklearwaffenprogramm zu diskutieren.
Das Ganze ist eine Farce. Denn während der Iran unter Druck gesetzt wurde, hat Indien, das kein Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags ist und nicht von der Internationalen Atomenergiebehörde inspiziert wird, zweimal eine Atomwaffe getestet. Indien erhält von den Vereinigten Staaten eine Ausnahmegenehmigung, um von der Gruppe der Nuklearlieferländer spaltbares Material zu beziehen. Auch Israel verfügt über Atomwaffen, ist kein Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags und erhält Material von der Gruppe der Nuklearlieferländer.
Der Angriff auf den Iran ist also nichts Neues. Er ist Teil eines langen Prozesses, der darauf abzielt, diese Regierung zu stürzen. Sie wollen den Nahen Osten »säubern«, den Sohn des Schahs wieder in Teheran an die Macht bringen, die Palästinenser dazu bringen, dass sie das Gebiet verlassen, und die Region neu ordnen.
Wie beurteilen Sie nach 500 Jahren westlichem Kolonialismus, neokolonialer oder neoliberaler Hegemonie im Globalen Süden und den Strukturanpassungsprogrammen der letzten Jahrzehnte, die die armen Länder stranguliert haben, den Umgang des Westens mit den Entwicklungsländern?
Die Haltung ist weiter, dass der Westen diesen Ländern nichts schuldig ist: »Hört mal, wir haben Euch kolonialisiert, tut uns leid. Aber wir haben Eisenbahnen und Brücken gebaut, wir haben Euch unsere Sprachen beigebracht und Ihr habt Vernunft und Wissenschaft bekommen.« Diese Einstellung wird sogar weiter in den Schulen gelehrt. In Deutschland beispielsweise lernen Kinder nichts über den Völkermord an den Herero und Nama.
Im Burenkrieg errichteten die Briten Konzentrationslager. Die Nazis haben die Idee für ihre Lager, die Treblinkas und Buchenwalds, daher bekommen. Nach dem Krieg und dem Holocaust bauten die Briten dann Konzentrationslager in Kenia, um dort die Kämpfer der Mau-Mau-Aufstände zu kasernieren. Es ist also nicht so, dass man seine »Lektion gelernt hat« und »niemals vergessen wird«. Wird das Kindern in Großbritannien beigebracht? Nein, sie lernen immer noch, dass Churchill ein Held ist.
Macron sagte zu den Afrikanern, sie sollten ihnen dankbar sein. Das ist empörend. Ein Mindestmaß an Anstand sollte einen Weltführer davon abhalten, jemandem, den er kolonisiert hat, aufzufordern, dankbar sein. Wie kann man so etwas sagen? Das ist vulgär.
»IWF-Bürokraten gehen in den Senegal und erklären: Das müsst ihr tun, sonst bekommt ihr kein Geld mehr. Im Grunde genommen verhalten sie sich wie die Mafia.«
In der Politik sehe ich auch keine Veränderung. Sehen wir uns den Internationalen Währungsfonds (IWF) an. Der Fonds ist eine demokratische Institution, denn er hat Mitgliedstaaten. Jeder Mitgliedstaat sollte daher als Mitglied einer Organisation das Recht haben, Vorschläge zu machen, was er tun möchte und was nicht. Aber im IWF gibt es ungleiche Stimmrechte. Westliche Regierungen kontrollieren mehr Stimmrechte im IWF, es wird nach dem Anteil des eingezahlten Geldes abgestimmt. Das ist nicht fair und sollte demokratisiert werden.
Die reicheren Länder bestimmen auch, wie die IWF-Bürokraten, die eigentlich den Mitgliedsländern dienen sollen, mit den Ländern sprechen. Sie gehen beispielsweise in den Senegal und erklären: Das müsst ihr tun, sonst bekommt ihr einen schlechten Bericht von uns oder kein Geld mehr. Im Grunde genommen verhalten sie sich wie die Mafia.
Aber sehen Sie Machtverschiebungen, wenn, wie geschehen, Frankreich und die Vereinigten Staaten aus Niger und anderen afrikanischen Ländern vertrieben werden? Gleichzeitig drängt China in Entwicklungsländer vor, baut die Infrastruktur der Belt and Road Initiative auf und investiert in ärmere Länder.
Es geht zu langsam vor sich. Nehmen Sie den Fall Senegal und Sri Lanka, wo beide gewählten progressiven Mitte-Links-Regierungen zum IWF zurückkehren müssen. Warum? Weil sich Alternativen nicht schnell genug herausgebildet haben. Der BRICS-Prozess hat beispielsweise eine neue Entwicklungsbank geschaffen. Ihre Kreditvergabe verläuft jedoch äußerst langsam. Es wurde eine sogenannte Notfallreservevereinbarung geschaffen, die eine Alternative zum IWF darstellen sollte. Diese ist jedoch noch nicht wirklich in Kraft getreten.
»Die Länder im Süden erleben also einen Wandel, aber er vollzieht sich zu langsam und nicht dort, wo die Schuldenberge wachsen.«
Die Belt and Road Initiative ist etwas anderes. Sie stellt Geld für Infrastruktur zur Verfügung. Sie baut Infrastruktur auf, was großartig ist, da sie die Kapazitäten dieser Staaten stärkt. Hier findet eine Machtverschiebung statt. Aber wenn es um Kredite für Finanzprobleme, Zahlungsbilanzen, Devisenreserven und so weiter geht, ist der IWF der einzige oder der wichtigste Akteur. Interessanterweise vergeben chinesische Banken lieber keine Kredite für die Schuldenkrise. Sie vergeben lieber Kredite für Infrastrukturprojekte. Sie wollen den Ländern keine Kredite für die Bewältigung ihrer langfristigen Schuldenkrise geben. Dann müssen sich die Regierungen wieder an den IWF wenden.
Die Länder im Süden erleben also einen Wandel, aber er vollzieht sich zu langsam und nicht dort, wo die Schuldenberge wachsen. Die Menschen im Globalen Süden haben derzeit nicht die Kraft, den Anleihegläubigern zu sagen: »Tut uns leid, Ihr habt mit Euren Investitionen in unsere Länder ein Risiko eingegangen. Ihr müsst die Kredite abschreiben.« Aber Sie haben Recht, es findet ein Wandel statt, aber wir sollten die aktuellen Entwicklungen nicht überbewerten.
Wirtschaftlich wächst China viel schneller als die USA und Europa. Wenn man sich die sogenannte Kaufkraftparität ansieht, hat sie die USA bereits überholt. Dann gibt es noch die bereits erwähnte Belt and Road Initiative, mit der Beijing durch Investitionen in über 150 Staaten eine globale Handels- und Transportinfrastruktur aufbaut. Leben wir also nicht bereits in einer multipolaren Welt – zumindest wirtschaftlich?
Ihre Formulierung »zumindest wirtschaftlich« trickst, denn »zumindest wirtschaftlich« geschieht nichts. Zunächst einmal stimmt es, dass China in Bezug auf die Konjunktur sicherlich führend ist. Aber viele asiatische Länder wie Vietnam, Indonesien, Bangladesch oder Indien wachsen alle viel schneller. Das ist ziemlich beeindruckend. Aber wir sollten auch erkennen, dass es sich hierbei um Wachstumsraten handelt und diese Länder von einem Niveau großer Benachteiligung aus wachsen. In Bezug auf den absoluten Lebensstandard sind sie also noch ziemlich weit von den reicheren Ländern entfernt.
»Wir leben noch nicht in einer Welt, in der sich das Kräfteverhältnis verändert hat. Die westlichen Länder unter Führung der USA kontrollieren nach wie vor die Waffensysteme.«
Die Wachstumsraten sind sicherlich beeindruckend. Es stimmt auch, dass China mit den meisten Ländern viel mehr Handel treibt und mehr Überschüsse hat, um in diesen Ländern in den Aufbau von Infrastruktur und Industrie zu investieren. China hat tatsächlich ein neues Entwicklungsmodell geschaffen, das der IWF und die westlichen Gläubiger nicht geschaffen haben. Sie haben mein ganzes Leben lang Kredite für Schulden vergeben und nicht für Infrastruktur und Industrialisierung. China hat die Spielregeln geändert, das ist absolut richtig.
Wir leben jedoch noch nicht in einer Welt, in der sich das Kräfteverhältnis verändert hat. Die westlichen Länder unter Führung der USA kontrollieren nach wie vor die Waffensysteme. Fast 80 Prozent der weltweiten Militärausgaben werden jedes Jahr von den NATO-Plus-Ländern [NATO-Mitglieder plus Australien, Japan, Neuseeland, Südkorea und Israel] getätigt. Ihre militärische Macht ist außergewöhnlich.
Wir sind zudem einer enormen Flut westlicher Medien ausgesetzt. Sie bestimmen die Welt. Es mag Medien in anderen Ländern geben, in Indien und so weiter, aber wenn es um Weltnachrichten geht, folgen sie CNN, Reuters, Associated Press, Agence France-Press. Sie definieren die Ereignisse. Erstaunlich, wie schnell ein Konsens darüber erzielt wurde, dass in Xinjiang ein Völkermord stattfindet, inklusive Entrüstung darüber. Doch was in Palästina geschieht, kann kein Völkermord sein, es muss etwas anderes sein, heißt es, denn Israel ist angegriffen worden.
Aufgrund von Faktoren wie Sprache und der Unfähigkeit, gegen sogenannte Desinformation vorzugehen, können chinesische oder russische Medien nicht global Fuß fassen. Auf YouTube schreiben westliche Unternehmen, die die Hardware kontrollieren: »Das sind russische Staatsmedien, das ist Desinformation.« Es ist unmöglich, die Welt der Diskurse und Ideen zu kontrollieren, die der Westen dominiert. Multipolarität? Vielleicht irgendwann in der Zukunft. Aber im Moment denke ich, dass wir nüchtern und realistisch sein müssen, denn das ist noch nicht der Fall.
Sie leiten das Tricontinental Institute. In einem neuen Dossier bezeichnet ihr die NATO als »gefährlichste Organisation der Welt«. Das ist eine starke Formulierung.
Das ist keine Übertreibung. Die NATO ist der Militärpakt, der Jugoslawien zerstückelt hat und der zusammen mit den Vereinigten Staaten in Afghanistan einmarschiert ist, um die Zerstörung des Landes voranzutreiben. Die NATO ist die Organisation, die Libyen im Grunde genommen zerlegt hat und sich jeder Art von Untersuchung verweigert.
Zu den Kriegsverbrechen in Libyen heißt es in der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats aus dem Jahr 2011 lediglich, dass über Libyen eine Flugverbotszone eingerichtet werden soll. Die NATO hat diese Resolution sofort verletzt und mit der Bombardierung des libyschen Staatsapparats begonnen, wodurch sie den libyschen Staat und Libyen zerstört hat. Der Aufbau eines Staates dauert Hunderte von Jahren. Die NATO hat ihn innerhalb weniger Tage zerstört.
Kein anderer Militärpakt hat in der Nachkriegszeit so viele Länder verwüstet. Peter Olson, Anwalt der NATO, hat nach den Angriffen auf Libyen eine Erklärung verfasst, in der er im Grunde genommen bestreitet, dass die NATO jemals untersucht werden kann. Er stellt darin fest, dass die NATO keine Kriegsverbrechen begehen kann. Warum? Weil sie keine unzivilisierte Organisation ist, so die Botschaft, sondern eine europäische.
»China ist keine Bedrohung für Europa, sondern für die multinationalen US-Unternehmen, in die die europäische Bourgeoisie investiert hat. Das deutsche Besitzbürgertum investiert mehr in Black Rock und an der Wall Street als in den DAX.«
Aber die NATO ist nicht europäisch. Mark Rutte, der derzeitige Generalsekretär [der NATO], ging nach Washington, saß neben Trump und sagte: In Den Haag werden wir aus dem NATO-Gipfel eine großartige Demonstration der amerikanischen Macht machen – nicht der Stärke der NATO oder der europäischen Partner, sondern der USA. Es gibt keine unabhängige europäische Außenpolitik der NATO. Die NATO ist ein Trojanisches Pferd für die Dominanz der USA.
Man benutzt die europäischen Verbündeten in der NATO und enge Partner in Asien wie Südkorea und Japan, um Bedrohungen für die Vereinigten Staaten einzudämmen, die keine Bedrohungen für Europa sind. Ist China etwa eine Bedrohung für Europa? War Russland eine Bedrohung für Deutschland? Die meisten Leute in der Trump-Regierung glauben, dass China die größte Bedrohung ist. Aber sie geben zu, dass Beijing keine militärische Bedrohung darstellt. Das Land ist für 4 Prozent der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Es ist eine wirtschaftliche Bedrohung. Es bewegt sich in Richtung einer Produktion von Technologien der siebten oder achten Generation.
Das ist aber keine Bedrohung für Europa, sondern für die multinationalen US-Unternehmen, in die die europäische Bourgeoisie investiert hat. Das deutsche Besitzbürgertum investiert mehr in Black Rock und an der Wall Street als in den DAX. Die Europäer werden also im Namen der Vereinigten Staaten und der Interessen ihrer Monopole in einen internationalen Konflikt hineingezogen. Es ist kein europäischer Konflikt.
Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach BRICS-Plus, die Gruppe der Schwellenländer um Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die immer mehr Staaten anzieht, die ihr beitreten wollen? Entsteht vor unseren Augen eine neue Weltordnung, die nicht auf der unilateralen Dominanz Washingtons basiert, während wir weltweit Chaos, politischen Autoritarismus und Gewalt erleben?
Das ist eine großartige Frage. Interessant an dem »plus« ist, dass die BRICS-Länder fast alle großen Ölproduzenten außer den Vereinigten Staaten mit ins Boot geholt haben. Wenn man also Russland, Saudi-Arabien, Iran und so weiter hinzufügt, hat man die wichtigsten Öl- und Gasproduzenten, inklusive Ägypten. Das sind sehr wichtige Vorgänge, die zeigen, dass es sich im Grunde um die OPEC-Plus [Organisation erdölexportierender Länder] handelt. Wir haben also eine OPEC-Plus innerhalb eines BRICS-Prozesses. Und wenn sie anfangen, über alternative Währungssysteme nachzudenken, könnten sie in Richtung einer neuen Währung denken, die im Wesentlichen auf dem Vermögenswert Öl basiert.
Das ist für Umweltschützer natürlich nicht erfreulich, aber ehrlich gesagt wird uns das Öl noch eine Weile begleiten, bevor wir einen echten Wandel vollziehen können. Es ist eine sehr traurige Realität, dass wir in unserer Zivilisation nicht so schnell von Öl auf erneuerbare Energien umsteigen können. Vielleicht kann die Währung also zunächst auf dem Rohstoff Öl basieren. Mit anderen Worten, Öl wird zu dem, worauf die Währung fußt, so wie früher auf Gold. In der Zwischenzeit von 1971 bis heute waren es US-Vermögenswerte.
Denn grundsätzlich muss eine Währung durch einen Vermögenswert gedeckt sein. Wenn ich eine Menge Geldscheine einer Währung besitze, muss ich etwas damit machen können. Wenn niemand meine Dollar nehmen will, sollte ich damit in den Vereinigten Staaten Land, ein Unternehmen, eine Fabrik oder was auch immer kaufen können. Es muss ein Vermögenswert sein, der garantiert, dass mein Geld nicht einfach zu wertlosem Papier wird. Kein Land der BRICS-Staaten ist derzeit aber bereit, seine Vermögenswerte zu veräußern, um eine Währung zu stabilisieren. Die Chinesen haben Kapitalkontrollen. Sie erlauben Ausländern nicht, ihr Land zu kaufen. Ich glaube nicht, dass sie das jemals zulassen werden. Es wird also kein BRICS-Land geben, das seine Vermögenswerte als Anker für die Währung zur Verfügung stellt. Das wird einfach nicht passieren.
Die Weltuntergangsuhr des Bulletin of Atomic Scientists wurde in diesem Jahr auf 89 Sekunden vor Mitternacht gestellt. Wir waren noch nie so nah am Ende der Menschheit. Wie schätzen Sie die nuklearen Risiken ein und was muss getan werden?
Ich halte die Weltuntergangsuhr für anachronistisch. Sie sollte näher an Mitternacht stehen. Der Angriff der Vereinigten Staaten und Israels auf den Iran hat vielen Ländern weltweit eine sehr ernste Botschaft vermittelt, eine Botschaft, die bereits vor einem Jahrzehnt gesendet wurde, nämlich: Wenn ihr keine Atomwaffen habt, werden wir euren Staat zerstören. Dieses Signal wurde gesendet, als die NATO-Staaten in Libyen einmarschierten, das Land angriffen und zerstörten. Warum? Weil Libyen einmal ein Atomwaffenprogramm begonnen hatte. Das Land gab es freiwillig auf, um in das Weltgefüge integriert zu werden.
»Mobilisierung hilft eigentlich eher der Rechten als der Linken, weil die Rechte keine Massenorganisationen der Arbeiterklasse aufbauen muss – sie kann durch Massenmobilisierungen überleben.«
Danach musste es einen sehr hohen Preis zahlen: Der Staat wurde zerstört. Nordkorea hingegen verfügt über Atomwaffen, und niemand wagt es, das Land anzugreifen. Ich gehe davon aus, dass die Iraner noch vor Jahresende eine Atombombe haben und dies auch verkünden werden. Sie werden mit der Anreicherung von Uran beginnen, um eine Bombe zu bauen, warum auch nicht? Sie müssen sich schützen.
Tatsächlich dienten die Angriffe auf den Iran nicht der nuklearen Nichtverbreitung, sondern der Verbreitung von Atomwaffen. Ich kann Ihnen garantieren, dass die Junta in Myanmar bereits die Nordkoreaner angerufen und gesagt hat: Schickt uns eine Bombe, schickt uns Raketen. Myanmar, Saudi-Arabien, die Türkei, der Iran – all diese Länder werden sich atomar bewaffnen. Damit wird die Weltuntergangsuhr auf 59 Sekunden vorrücken.
Soziale Bewegungen und generell die Linke scheinen in vielen Ländern der Welt in einer schwachen Position zu sein. Auf der anderen Seite hat es in den letzten Jahrzehnten mächtige Proteste und Kampagnen gegeben, von Occupy Wall Street und dem Arabischen Frühling bis hin zu Klimakampagnen und politischem Widerstand gegen Repression. Dennoch rast die Welt weiter dem Abgrund zu und die Krisen verschärfen sich. Wie sehen Sie das und woher nehmen Sie den »Optimismus des Willens«, um es mit Gramsci zu sagen?
Wenn Sie in Berlin herumschauen, sehen Sie innerhalb von zehn Sekunden einen Lieferanten oder einen Uber-Fahrer vorbeifahren. Die Arbeiterklasse auf der ganzen Welt wurde »uberisiert«. Die Menschen arbeiten lange und unregelmäßige Stunden für niedrige Löhne. Selbst wenn sie nicht lange arbeiten, sind ihre Arbeitsbedingungen weitgehend unorganisiert. Sie arbeiten nicht gemeinsam in Fabriken. Wenn sie zusammen in Fabriken arbeiten, dürfen sie nicht miteinander sprechen. Es herrscht eine strenge Disziplin, es ist sehr schwierig, die Menschen gewerkschaftlich zu organisieren. Die Mitgliederzahlen von Gewerkschaften sind stark zurückgegangen.
Die arbeitende Bevölkerung ist weltweit nicht mehr organisiert. Aber genau hier liegt das Reservoir der Linken, nämlich in einer organisierten Arbeiterklasse, einer Gewerkschaftsbewegung und einer organisierten Bauernbewegung. Aber das hindert uns nicht daran, Mobilisierungen zu starten. Denn um Menschen zu einer Demonstration zu bewegen, müssen sie nicht organisiert sein. Aber wir sollten eine Massenmobilisierung, riesige Proteste für Palästina, nicht mit einer organisierten Linken verwechseln.
Mobilisierung hilft aber eigentlich eher der Rechten als der Linken, weil die Rechte keine Massenorganisationen der Arbeiterklasse und der Bauern aufbauen muss. Sie kann durch Massenmobilisierungen überleben. In Deutschland wächst die AfD zwar, aber in vielen Ländern ist die extreme Rechte immer noch nicht in der Lage, sich bei Wahlen durchzusetzen. Erst wenn die traditionelle Rechte und die extreme Rechte sich zusammenschließen, gibt es große Erfolge. Da die traditionelle Rechte ihr Geld und ihren Apparat mitbringt, hat sie einen finanziellen Vorteil.
Andererseits gibt es Durchbrüche wie jetzt, wo ein demokratischer Sozialist die Vorwahlen in New York City gewonnen hat, Zohran Mamdani. Ich kenne seine Eltern sehr gut. Sein Vater ist ein ugandischer Intellektueller, seine Mutter eine indische Filmemacherin, Mira Nair. Sie hat großartige Filme wie Mississippi Masala gedreht, sie ist eine fantastische Filmemacherin. Ihr Sohn ist ein großartiger 33-jähriger demokratischer Sozialist. Er stammt aus einer muslimischen Familie, sein zweiter Vorname ist Kwame, benannt nach Kwame Nkrumah [dem ersten Präsidenten Ghanas]. Solche Durchbrüche gibt es, sie können jederzeit auch in Deutschland passieren. Es kann jemand Dynamisches auftauchen, denn das gehört zur modernen, telegenen Wahlpolitik. Man mobilisiert Menschen, begeistert sie, und schon kann man einen Wahlsieg erringen.
Es gibt also immer Hoffnung und Möglichkeiten. Man kann Durchbrüche erzielen. Es gibt Massenorganisationen auf der Welt. 2 Millionen Bauern in Brasilien sind Teil der Landlosenbewegung. Sie produzieren den meisten Bio-Reis in Lateinamerika, das ist unglaublich.
Es ist sehr wichtig, dass wir die Geschichten über die Arbeit, die wir alle leisten, insbesondere von versteckten, abgelegenen Orten erzählen. Es ist inspirierend, dass ein junges Mädchen einen Artikel liest, davon bewegt und motiviert wird. Sie gründet eine Lesegruppe in ihrer Nachbarschaft, baut eine Organisation auf, beginnt, sich politisch zu engagieren und sagt, dass wir die Straßen säubern müssen. Sie wird dadurch bekannt, wird schließlich in ihrer Gemeinde gewählt, tut ein oder zwei gute Dinge und inspiriert andere Menschen. So kommt es zu Veränderungen.
Vijay Prashad ist Historiker, Redakteur und Journalist. Er ist Autor und Chefkorrespondent bei »Globetrotter«. Außerdem ist er Herausgeber von LeftWord Books und Direktor des Tricontinental: Institute for Social Research.