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25. August 2025

Wie Wien Europas Abschiebepolitik prägt

Europas Abschiebepolitik wird gewaltsamer. Dabei setzt die EU auf Praktiken, die in Österreich entworfen wurden.

EU-Migrationskommissar Magnus Brunner unterzeichnetet in Brüssel ein Abkommen zwischen Frontex und Bosnien und Herzegowina.

EU-Migrationskommissar Magnus Brunner unterzeichnetet in Brüssel ein Abkommen zwischen Frontex und Bosnien und Herzegowina.

IMAGO / Anadolu Agency

Im Dezember 2023 wird Mohammed A. (Name aus Gründen der Wahrung der Anonymität geändert) bei der Durchreise durch Deutschland in einem Minibus gemeinsam mit anderen Menschen aus Syrien von der Polizei verfolgt. Die Menschenjagd führte in Richtung der österreichischen Grenze. Dort schalten sich weitere Streifenwagen in die Verfolgung ein. Trotz Schnee, Regen und Dunkelheit deeskaliert die Polizei die Situation nicht. Mohammed A.’s letzte Erinnerungen an diese Nacht sind der schneebedeckte Boden, die verängstigten Gesichter seiner Freunde und überall Blut. Eine österreichische Polizistin hatte ihm im bereits gestoppten Fahrzeug in den Kopf geschossen und ihn lebensgefährlich verletzt.

Berichte über exzessive Gewalt durch Behörden sind zwar nicht alltäglich, häufen sich jedoch in österreichischen Grenzregionen, ebenso wie die öffentliche Inszenierung neuer polizeilicher Überwachungstechnologien. Von Drohnen über Herzschlagdetektoren bis hin zu Nachtsichtgeräten, Österreich stockt auf. In den Migrationshaftzentren des Landes herrschen entwürdigende Bedingungen, oft geprägt von fehlender Rechtsinformation und Isolationshaft. Betroffene selbst sprechen von »Kidnapping« und folterartigen Zuständen in Abschiebeknästen. Die Botschaft ist klar: Wir kontrollieren, unterdrücken, sperren weg und schieben ab – im Zweifel auch nach Syrien.

Erst vor wenigen Wochen schob Österreich als erstes EU-Land eine Person in das Bürgerkriegsland ab. Der Mann gilt seither als verschwunden. Dass das UNO-Komitee gegen das Verschwindenlassen Österreich offiziell dazu aufgefordert hat, Nachforschungen zum Verbleib des Mannes anzustellen, nannte Innenminister Karner »abgehoben und weltfremd«. Eine weitere Abschiebung wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorerst gestoppt.

Diese Vorstöße haben System. In den vergangenen Jahren übertrafen sich sowohl Nationalstaaten als auch die EU regelmäßig mit Verschärfungen des Asylrechts. Eine neue Rückführungsverordnung, die ein Bestandteil der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ist, zielt etwa darauf ab, Abschiebungen zu beschleunigen, grenzüberschreitend zu koordinieren und möglichst früh im Verfahren anzusetzen – auch in Zusammenarbeit mit sogenannten Drittstaaten. Österreich, das die systematische Entrechtung von Schutzsuchenden längst zur Praxis gemacht hat, agiert dabei als Vorreiter, ideologischer Kompass und informeller Vermittler.

Es überrascht daher kaum, dass sich Österreichs Ex-Finanzminister und ÖVP-Mitglied Magnus Brunner, seit 2024 EU-Kommissar für Inneres und Migration, begeistert über die neue Verordnung zeigt. Er nennt sie einen »Gamechanger«. Dabei ist die Verordnung nichts anderes als die Fortsetzung einer lang verfolgten Strategie, die Flucht delegitimiert, Grenzen aufrüstet und Verantwortung externalisiert.

Drehscheibe für Migrationsabwehr

Seit 2001 koordiniert Österreich das sogenannte Salzburg Forum, ein Netzwerk von Innenministerien Zentral- und Südosteuropas, das auf polizeiliche Zusammenarbeit und Grenzüberwachung fokussiert ist. Eine zentrale Rolle spielt dabei die schrittweise Auslagerung der Migrationsabwehr auf den Balkan. 2022 wurde in Wien zusätzlich die Joint Coordination Platform (JCP) gegründet, geleitet vom Ex-Frontex Vize-Chef Berndt Körner. Die JCP soll künftig Abschiebungen aus den Balkanstaaten koordinieren, und zwar gerade dort, wo Frontex bisher kein Mandat besitzt. Die Plattform operiert damit jenseits der offiziellen EU-Strukturen, aber im Sinne europäischer Abschreckungspolitik.

Zum Beispiel trainiert sie bosnische und serbische Polizeikräfte in Abschiebetechniken, berät staatliche Stellen und humanitäre Organisationen und treibt binationale Rücknahmeabkommen mit Drittstaaten voran. Die JCP fokussiert sich insbesondere auf Menschen, die von der Balkanroute aus »ausgelagert« werden sollen. Sie teilt sich im 2. Wiener Gemeindebezirk ein Bürogebäude mit dem Joint Organisational Office (JOO) des Bundeskriminalamts unter der Leitung von Brigadier Gerald Tatzgern. Das JOO koordiniert seit Jahren Polizeikooperationen gegen sogenannte Schlepperei. Etwa auch im Rahmen der »Task Force Western Balkans«, die zugleich als EUROPOL-Koordinationsstelle in Wien fungiert.

»Das Geflüchtetenlager Lipa wurde mit Guantánamo verglichen.«

Körner und Tatzgern liefern mit JCP und JOO eine flexible Koordinations- und Interventionsstruktur für Abschiebungen und Grenzaufrüstung außerhalb der EU, inklusive Ausrüstung, Polizeiabkommen und dem direkten Draht zu Innenministerien entlang der Balkanroute. Diese Netzwerke fungieren als Brückenbauer zwischen nationalstaatlichen Behörden, EU-Agenturen und Drittstaaten und ermöglichen Kontrolle sowie Externalisierung von Verantwortung. Dies passiert oft in informellen Zusammenkünften, intransparent und ohne formale demokratische Rechenschaftspflicht.

JCP und JOO bilden das institutionelle Rückgrat jener migrationspolitischen Vorstöße, wie sie Sebastian Kurz bereits 2016 forderte. Seine Legacy bleibt die »Schließung« der sogenannten Balkanroute und der Aufruf, sich an »hässliche Bilder« zu gewöhnen. Kurz forcierte bilaterale Maßnahmen zur Verschärfung der Grenzkontrollen zwischen Nordmazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich und Ungarn, auch außerhalb eines gemeinsamen EU-Beschlusses. Diese Politik erschwerte Geflüchteten den Zugang zu Asylverfahren und trug zur Normalisierung von Pushbacks und exzessiver Gewaltanwendung an den EU-Außengrenzen bei.

Parallel dazu entstand das erste große Migrationsabkommen mit einem Drittstaat. Der sogenannte EU-Türkei-Deal, der von der in Wien ansässigen European Stability Initiative mitentworfen wurde, war ein frühes Modell zur Auslagerung von Migrationsabwehr. Kurz selbst bezeichnete das Abkommen als pragmatisch, warnte aber vor politischen Abhängigkeiten. Diese Linie wurde in den Folgejahren konsequent weitergeführt und auch finanziell unterstützt. 2018 forderte das Innenministerium unter Herbert Kickl (FPÖ) die Einrichtung von »Hotspots« für Geflüchtete außerhalb der EU. Ab 2020 investierte Österreich unter einer schwarz-grünen Regierung über eine Million Euro in Lagerinfrastruktur und Projektarbeit in Bosnien und Herzegowina. Die Region entwickelte sich damit zu einem Versuchslabor für die Auslagerung und die räumliche Konzentration von migrierenden Menschen. Für viele bedeutete das monatelange Ausharren unter entwürdigenden Bedingungen. Das Geflüchtetenlager Lipa wurde von Beobachtenden wie der NGO SOS Balkanroute mit Guantánamo verglichen.

Wiener ICMPD als Vorreiter 

Das in Wien ansässige ICMPD (International Centre for Migration Policy Development) reichte damals wegen dieser Kritik eine SLAPP-Klage ein. Der Prozess gewährte aufschlussreiche Einblicke in das Machtgefüge internationaler Organisationen, die offiziell mit humanitärer Hilfe und Migrationsmanagement am Balkan betraut sind, faktisch aber um Fördergelder konkurrieren. Neben der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die das Lager in Lipa verwaltet, trat das ICMPD als paralleler Anbieter gegenüber der EU-Kommission auf. Zwölf de facto Haftzellen sollten als Erweiterung des Lagers gebaut werden. Der Guantanamo-Vorwurf hielt sich übrigens vor Gericht und das Projekt wurde auf langfristige Sicht hin abgebrochen.

Seit über einem Jahrzehnt berät das ICMPD bei migrationspolitischen »Lösungen«. Von politischen Einschätzungen zu Kriegs- und Krisengebieten bis hin zu biometrischer Erfassung, Überwachungstechnologien, Rückführungen und dem Training von Militärs, es ist für jeden Mitgliedstaat der Organisation oder externen Klienten etwas dabei. Das ICMPD entwirft, testet und profitiert, ohne direkte Verantwortung für die Menschenrechtsstandards zu übernehmen.

»Das Prestige-Event der Wiener Drehscheibe bietet exklusiven Raum, um in aller Ruhe über die Auslagerung und Ausbeutung von Schutzsuchenden zu verhandeln.«

Diese Aufgaben werden nach Projektabschluss den nationalen Behörden oder anderen Organisationen überlassen. Obwohl zuletzt Korruptionsvorwürfe und Kritik an der rassistischen und strukturellen Gewalt des »Migrationsmanagements« lauter wurden, hat sich das Budget des ICMPD seit 2016 mit 1,7 Mrd. Euro in 2023 fast verfünffacht. Das ICMPD macht dort Profite, wo es um die Aufrüstung von Infrastruktur (oft zu EU Beitritten) oder die vermeintliche Kontrolle von Migration und Bewegungsfreiheit geht.

2025 übernahm Susanne Raab (ÖVP) die Generaldirektion des ICMPD von Ex-Kanzler Michael Spindelegger (ebenfalls ÖVP). Sie führt damit eine migrationspolitische Linie fort, die längst Markenzeichen der Volkspartei ist: christlich-konservative Werte, rassistische Narrative und die ökonomische Ausbeutung der globalen Mehrheit. Im Oktober eröffnet Raab erstmals die zehnte Vienna Migration Conference. Das Prestige-Event der Wiener Drehscheibe bietet exklusiven Raum, um in aller Ruhe über die Auslagerung und Ausbeutung von Schutzsuchenden zu verhandeln.

Die Konsequenzen bleiben tödlich 

2015 erschütterten die Bilder von 71 Leichen in einem Kühllaster auf der A4 bei Parndorf noch einen großen Teil der Gesellschaft. Zehn Jahre später scheint die Gewöhnung an »hässliche Bilder« auch unter jenen selbsternannten Migrationsexpertinnen und -experten geglückt, die die GEAS-Reform in den Medien in technokratischer Sprache zerlegen. Sie schaffen es dabei, nicht über Rassismus, den europäischen Bedarf an ausbeutbaren Arbeitskräften und jene Behörden, Organisationen und Hilfsorganisationen zu sprechen, die von Wien aus die exzessive Gewaltanwendung des europäischen Grenzregimes mittragen.

Der Leiter der JOO benannte den Fund der Leichen in Parndorf in einem späteren Interview als den schlimmsten Tag in seinem Leben. Seitdem wurde hart daran gearbeitet, diese »hässlichen Bilder« nach Ungarn, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Albanien und Bulgarien sowie auch weit über die Grenzen des Kontinents hinaus zu verdrängen.

Während die Joint Coordination Plattform gemeinsam mit dem österreichischen Hilfswerk International – finanziert durch das österreichische Innenministerium – ihre neue Klientel von Innenministerien entlang der Balkanroute zu Rückführungen schult, erstellt das ICMPD die passenden politischen Einschätzungen. So beschreibt es zum Beispiel Gaza lediglich als »Konflikt«, ohne dass das anhaltende israelische Vorgehen als Genozid oder Zwangsvertreibung durch Siedlerkolonialismus in Palästina benannt wird. Zwar wird erwähnt, dass Menschen dort »nirgendwohin können« und aus Analysen der UN zitiert, doch auch jede Kritik an Grenzregimen wie dem ägyptischen fehlt. Auch bei rückläufigen Ankünften von Geflüchteten aus Libyen bleibt die Rolle von Gewalt und EU-finanzierter Abschottung durch Milizen oder die libysche Küstenwache unerwähnt. Migration wird gemanagt, ohne Rücksicht auf Verluste.

Dabei zeigt sich längst, welche realen Konsequenzen diese technokratische Perspektive für die Betroffenen hat. Mohammed A. überlebte schwer verletzt und klagt nun gegen die Republik Österreich. Aus dem Schubhaftzentrum Vordernberg werden immer wieder Ausbruchsversuche gemeldet. Innenminister Karner hält trotz UNO-Kritik an seinen Plänen zur Abschiebung nach Syrien fest. Und selbst jene, die rechtswidrig nach Bosnien und Herzegowina zurückgeschoben wurden, machen sich erneut auf den Weg. Was Magnus Brunner auf EU-Ebene als »Gamechanger« bezeichnet, ist für viele längst Realität. Was hier als »Spiel bezeichnet wird« – die wiederholten Versuche, Europas Außengrenzen zu überwinden –, ist ein realer Kampf gegen ein System institutionalisierter und oft tödlicher Gewalt. Ein System, das nicht effizienter verwaltet, sondern endlich beendet werden muss – egal ob in Österreich, Bosnien-Herzegowina, Ägypten, Libyen oder darüber hinaus. Dafür braucht es auch im Herzen der Wiener Zentrale der europäischen Abschottungspolitik Widerstand.


Monika Mokre ist Mitbegründerin von Push-Back Alarm Österreich – eine Initiative, die Menschen unterstützt, die von österreichischer Grenzgewalt betroffen sind.

Klaudia Wieser ist Mitbegründerin von Push-Back Alarm Österreich – eine Initiative, die Menschen unterstützt, die von österreichischer Grenzgewalt betroffen sind.