24. Februar 2021
Wer den Kapitalismus abschaffen will, muss ihn zunächst einmal verstehen. Warum man dazu Vivek Chibber lesen sollte, erklärt Oliver Nachtwey in diesem Vorwort von »Das ABC des Kapitalismus«.
»Es ist das Einfache, das schwer zu machen ist« – das war für Bertolt Brecht der Kommunismus. Der Kapitalismus ist hingegen kompliziert, aber nicht so schwer zu verstehen – wenn man Vivek Chibbers Büchlein dazu gelesen hat. Der Professor für Soziologie an der renommierten New York University unterläuft das häufig doch leider wahre Klischee, dass sich Akademikerinnen unverständlich ausdrücken. Er macht in seinem Buch keine Gefangenen und keine Kompromisse, zieht keine argumentative Schleife zu viel. Wer mehr über die grundlegende Funktionsweise des Kapitalismus wissen will, ist mit Vivek Chibbers Einführung also bestens bedient.
Dennoch stellt sich – wie so oft bei solchen Werken – die Frage, ob es denn überhaupt noch eine marxistische Kapitalismusanalyse braucht. Sicher, es gibt viele Gründe, den Kapitalismus zu kritisieren, aber stellen nicht gerade die zentralen Begriffe des Marxismus, z.B. die Existenz von Klassen, eine veraltete Perspektive aus dem 19. Jahrhundert dar? Chibbers Ausführungen demonstrieren dem entgegen, dass die marxschen Begrifflichkeiten auch im 21. Jahrhundert noch gehaltvoll zum Tragen kommen und wie der Kapitalismus grundlegend als ein System der verallgemeinerten Konkurrenz zu verstehen ist. Ohnehin ist die Frage der Klassen viel aktueller und relevanter als viele annehmen. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach antworteten auf die Frage »Was sind in Deutschland die eigentlichen Gegensätze: Was trennt die Menschen in unserer Gesellschaft vor allem?« 75 Prozent der Westdeutschen und 76 Prozent der Ostdeutschen »die soziale Schicht aus der man kommt.« Mehr als zwei Drittel nannten Einkommen und Gehalt sowie das Herkunftsland, etwa 60 Prozent Eigentum und Besitz.
Nun ist die soziale Schicht nicht das Gleiche wie Klasse. Der Begriff der Schicht beschreibt eine Lebenslage, derjenige der Klasse setzt analytisch an der Trennung von den Produktionsmitteln an. Vielleicht gibt es das traditionelle Klassenbewusstsein nicht mehr, aber offenbar nehmen die Menschen die Existenz einer Klassengesellschaft noch sehr genau war. Zieht man die Trennung von den Produktionsmitteln und die abhängige Lohnarbeit als Kriterien heran, dann war die Arbeiterinnenklasse – analytisch gesehen – in der Geschichte der Bundesrepublik nie größer als im Jahr 2019. Freilich hat sich aus dieser Tatsache noch kein entsprechendes Handeln ergeben; eine Tragödie für die Linke, gegen die diese Schrift einen geringen, aber leidenschaftlichen Beitrag leisten möchte.
Die zentrale Paradoxie des Kapitalismus ist, wie auch Vivek Chibber zeigt, seine kombinierte und ungleiche Entwicklung. Er bleibt das Ungeheuer der Akkumulation, das Dante bereits in seiner Göttlichen Komödie beschrieb: »Noch heißer lechzt es nach, als vor dem Fraße.« Der Kapitalismus ist eine Modernisierungsmaschine, die beständig Innovationen hervorbringt, den Wohlstand mehrt, zugleich aber ihre Früchte nicht dem Allgemeinwohl zur Verfügung stellt, sondern ökonomische und politische Eliten systematisch privilegiert. Tatsächlich ist auch in Deutschland der Wohlstand in den letzten Jahren immens gewachsen. Der jüngste Wirtschaftsaufschwung war außerordentlich lang und bis die deutsche Wirtschaft im Jahr 2019 wieder in die Rezession rutschte, kletterte die Beschäftigungsquote auf immer neue Rekordniveaus (mit einer damit einhergehend fallenden Arbeitslosigkeit).
»Der Kapitalismus ist eine Modernisierungsmaschine, die ökonomische und politische Eliten systematisch privilegiert.«
Die Mittelklassen – also die bessergestellten Teile der Arbeiterinnenklasse, die sich häufig mit den herrschenden Eliten identifizieren – konnten ihre Lebensbedingungen stabilisieren oder sogar verbessern. Vielleicht liegt hier einer der wichtigsten Unterschiede zum US-amerikanischen Fall, den Vivek Chibber empirisch vor Augen hat: Während in den USA tatsächlich die große Mehrheit der Bevölkerung Einschnitte in ihre Lebensbedingungen hinnehmen musste, ist die Entwicklung in Deutschland komplexer und widersprüchlicher, da hier die oberen zwei Drittel der Haushaltseinkommen in den letzten Dekaden einen Zuwachs zu verzeichnen hatten. Dahingegen hatten vor allem die unteren 40 Prozent der deutschen Haushalte – mehr als 30 Millionen Menschen – seit den 90er Jahren Lohnstagnation und -verluste erlebt.
Dennoch sollte man sich von der positiven Lohnentwicklung für Teile der Mittelklasse nicht blenden lassen. Das Einkommen ist zwar ein wichtiger Indikator, aber für die Klassenlage nicht der alleinig ausschlaggebende. Chibber arbeitet in immenser Klarheit die Frage der Ausbeutung heraus. Dazu kommt ein Faktor, der Marx zwar schon bekannt war, im modernen Kapitalismus aber noch weiter an Bedeutung gewonnen hat: die sekundäre Ausbeutung: »Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten so weit beendigt, dass er seinen Arbeitslohn bar ausgezahlt erhält, so fallen die andern Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.«
Vor allem die Haubesitzerinnen scheinen in jüngster Zeit über viele Arbeiterinnen hergefallen zu sein. Gerade für Menschen in den Großstädten (in Berlin teilweise um die 50%) haben die drastisch angestiegenen Mieten die Haushaltseinkommen enorm belastet. Vivek Chibber geht auch darauf ein, dass Prekarität die Grundbedingung für Arbeiterinnen ist. Zu den großen Errungenschaften der Arbeiterinnenbewegung in den letzten 150 Jahren gehörte es, die Arbeitsverhältnisse von der existenziellen Unsicherheit des Tagelöhnerdaseins zu befreien und die Arbeiterinnen vor den Risiken des Marktes besser zu schützen. Dies gelingt jedoch immer weniger.
Im Jahr 1991 waren 79 Prozent aller Arbeitnehmerinnen in einem Normalarbeitsverhältnis beschäftigt, 2014 waren es nur noch 68,3 Prozent. 20,9 Prozent der Erwerbstätigen waren 2014 atypisch angestellt, arbeiteten also entweder in befristeten oder geringfügigen Arbeitsverhältnissen, in Teilzeit oder als Leiharbeiterinnen. Von den 11 Prozent Selbständigen waren mehr als die Hälfte sogenannte Solo-Selbständige. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind hierbei nicht gleichmäßig über alle Gruppen verteilt, sondern konzentrieren sich vor allem bei den Niedrigqualifizierten. Aber auch Hochqualifizierte brauchen immer länger, bis sie eine sozial gesicherte berufliche Umlaufbahn erreichen. Als Faustformel kann man sagen: Je jünger und je schlechter qualifiziert die Arbeitnehmenden sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der atypischen Beschäftigung.
Marx hatte den Unternehmerinnen zugerufen: »Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und Propheten! […] Also spart, spart, d. h. rückverwandelt möglichst großen Teil des Mehrwerts oder Mehrprodukts in Kapital!« Wenn man den Kapitalismus verstehen und abschaffen möchte, ruft man den Leserinnen zu: »Abonniert, abonniert! Jacobin ist Moses und Propheten!«
Grafik 1: Entwicklung der Haushaltseinkommen in Deutschland, 1991–2014
Quelle: Grabka, M.M./Goebel, J. (2017): Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen — erste Anzeichen für wieder zunehmende
Einkommensungleicheit, DIW-Wochenbericht (4/2017).