14. April 2025
Omer Bartov, einst Soldat der IDF, ist heute einer der entschiedensten Kritiker der israelischen Regierung. Im Interview spricht der renommierte Holocaustforscher darüber, warum Deutschland die falschen Lehren aus seiner Geschichte gezogen hat und was die »Bürokratisierung« genozidaler Gewalt so gefährlich macht.
»Das Wichtigste, was die deutsche Öffentlichkeit verstehen muss, ist, dass Kritik an den aktuellen politischen Maßnahmen Israels nicht anti-israelisch, nicht anti-zionistisch und sicherlich nicht antisemitisch ist«, so Omer Bartov.
Omer Bartov ist einer der führenden Genozid- und Holocaustforscher. Er ist Geschichtsprofessor an der Brown University und seit Langem für seine Forschung über Gewalt, Erinnerung und Identität bekannt. Im Interview mit JACOBIN spricht er über das politische Klima an US-amerikanischen Universitäten, die Repression israelkritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die persönlichen Dimensionen seiner Forschung.
In seinem neuesten Buch Genozid, Holocaust und Israel-Palästina schreibt Bartov über die moralische Verantwortung von Intellektuellen, den Gebrauch und Missbrauch der Holocaust-Erinnerung und seinen eigenen biografischen Wandel vom israelischen Soldaten zum entschiedenen Kritiker der israelischen Staatspolitik.
In Ihrem Buch betonen Sie die Bedeutung historischer Empathie für das Verständnis menschlicher Tragödien wie den Holocausts und anderer Genozide. Wie kann dieser Ansatz helfen, den Akt des Genozids besser zu begreifen, und warum bleibt gerade diese Verbindung im Zusammenhang mit dem Holocaust so umstritten?
Zumindest in der modernen Geschichtsschreibung ist der Gedanke der Empathie grundlegend für unser Verständnis davon, wie Geschichte geschrieben wird. Diese Idee geht auf Leopold von Ranke zurück, der die Notwendigkeit der »Einfühlung« betonte – also die Fähigkeit, sich so gut wie möglich in die Lage der Menschen zu versetzen, über die man schreibt. Es ist entscheidend, Geschichte nicht nur aus der Perspektive der Gegenwart zu betrachten, sondern auch so, wie sie von denjenigen erlebt wurde, die sie durchlebten.
Ganz allgemein kann man sagen, dass sich historisches Schreiben zwei grundlegenden Perspektiven zuordnen lässt. Die eine ist Rankes Perspektive der Empathie, die andere beschreibt der italienische Historiker Benedetto Croce mit dem Satz: »Alle Geschichte ist Gegenwartsgeschichte.« Das heißt, Geschichte wird immer aus dem Blickwinkel der Gegenwart geschrieben. Deshalb kann man über dieselbe Epoche im Jahr 1980, im Jahr 2000 oder im Jahr 2020 schreiben – und jedes Mal entsteht etwas anderes, weil man die Vergangenheit durch die Brille der jeweiligen Gegenwart interpretiert.
»Es gab eine Tendenz, die Geschichtsschreibung zu bürokratisieren – auf eine Weise, die die Bürokratisierung des Genozids selbst widerspiegelte.«
Dieses Thema hat mich besonders beschäftigt, als ich begann, den Holocaust und die deutsche Geschichte im weiteren Sinne zu studieren. Mir fiel eine Tendenz auf, über die »Endlösung« auf sehr distanzierte Weise zu schreiben, ohne empathischen Zugang. Nicht, dass die Historikerinnen und Historiker, die darüber schrieben, kein Mitgefühl für die Ermordeten gehabt hätten – aber in ihren Texten verspürten sie offenbar das Bedürfnis, eine gewisse Distanz zu wahren. Vielleicht aus der Sorge heraus, von dem Grauen dessen, was sie beschrieben, überwältigt zu werden.
Das Problem bei diesem Ansatz war, dass er sehr mechanisch wurde. Tatsächlich begann er, dem eigentlichen Geschehen zu ähneln – denn genau das versuchten die Täter: sich von den Opfern zu distanzieren. Das führte auch dazu, dass Zeugnisse von Opfern oder Überlebenden kaum Verwendung fanden, weil diese Berichte oft emotional waren oder beim Lesen Emotionen hervorrufen konnten. Es gab eine Tendenz, die Geschichtsschreibung zu bürokratisieren – auf eine Weise, die die Bürokratisierung des Genozids selbst widerspiegelte.
Ich empfand das zunehmend als problematisch – weshalb ich schließlich ein Buch über die polnisch-jüdisch-ukrainische Stadt Buczacz schrieb, [Anm. d. Red.: auf Deutsch erschienen unter dem Titel Anatomie eines Genozids: Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz]. Es war ein Versuch, den Holocaust von unten zu betrachten – zu verstehen, wie er nicht nur für die Opfer, sondern für alle war, die dort waren: die Deutschen, die Ukrainer, die Polen und die Jüdinnen und Juden, die in dieser einen Stadt lebten. Wenn man über einzelne Menschen schreibt, muss man sich zwangsläufig in sie einfühlen, weil man sie als menschliche Wesen betrachtet – und nicht als Rädchen in einer Maschine.
Denken Sie jetzt an das, was gerade in Gaza passiert, und daran, wie die Geschichtswissenschaft – insbesondere diejenigen, die über den Holocaust geschrieben haben, die über die Notwendigkeit gesprochen haben, daraus zu lernen, und die das Prinzip »Nie wieder« hochgehalten haben – Schwierigkeiten hat, darauf zu reagieren. Besonders Wissenschaftler im Bereich der Holocaustforschung tun sich schwer dabei, über das zu schreiben oder sich überhaupt mit dem auseinanderzusetzen, was in Gaza geschieht. Denn wenn man akzeptiert, dass ein Teil der Identifikation von Genozid darin besteht, sich mit den Opfern zu identifizieren, was tut man dann, wenn der Staat, der den Genozid verübt, sich selbst als die Antwort auf den Holocaust versteht und darstellt – ein Staat, der sich als Hüter der Holocaust-Erinnerung positioniert, der die richtigen Lehren daraus gezogen hat, und doch in eine genozidale Unternehmung verwickelt ist?
Es war für die meisten Holocaust-Wissenschaftler unmöglich – nicht für alle, ich kann einige Ausnahmen nennen, mich eingeschlossen – diesen Kreis zu schließen. Sie haben entweder versucht, das Thema ganz zu vermeiden oder, noch schlimmer, haben sich dem Chor angeschlossen, der in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Israel zu hören ist, und behauptet, dass das, was die Hamas getan hat, nicht nur ein Massaker und ein Verbrechen war – was es natürlich war –, sondern dass es mit dem Holocaust vergleichbar sei. Daher sei die einzig mögliche Reaktion die totale Zerstörung. Mit anderen Worten, die angebliche Antwort auf einen wahrgenommenen Genozid ist Genozid – was genau die falsche Lehre ist, die man aus dem Holocaust ziehen sollte.
Für mich zeigt dieser Moment, dass gerade die Historiker, die den Ansatz des empathischen Schreibens über Genozid – und speziell über den Holocaust – eingeführt haben, nun feststellen, dass es ihnen unmöglich ist, sich mit den Opfern eines anderen Genozids zu identifizieren – eines Genozids, der von einem Staat durchgeführt wird, der sich selbst als das Ergebnis des Holocaust darstellt, als dessen Antwort.
Sie haben bereits erwähnt, dass in der deutschsprachigen Welt weit mehr Aufmerksamkeit den deutschen Tätern geschenkt wurde als den osteuropäischen Juden und ihren nicht-jüdischen Nachbarn. Welche Auswirkungen hat dies auf unser historisches Verständnis dieser Ereignisse?
Mein Buch Genozid, Holocaust und Israel-Palästina, das zunächst im August 2023 auf Englisch erschien, kurz vor dem Angriff am 7. Oktober, spiegelt Veränderungen wider, die ich in den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland beobachtet habe. Ein erheblicher Teil der deutschen Geschichtsschreibung und der öffentlichen Reaktion darauf konzentrierte sich weitgehend auf die deutschen Täter. Dieser Fokus ist verständlich, da Deutschland zwei bis drei Jahrzehnten brauchte, um sich ernsthaft mit dem Holocaust auseinanderzusetzen – was erst in den 1980er Jahren wirklich begann. Natürlich wollten die Deutschen verstehen, wie ihre Eltern, Großeltern und Onkel an einem Genozid beteiligt sein konnten. Der Fokus auf die Täter ist angesichts der Eigenheiten des Holocausts, insbesondere der Bürokratisierung des Genozids, die die frühe Forschung dominierte, nachvollziehbar.
Wie führt ein Staat einen Genozid über den gesamten Kontinent hinweg aus, mit dem Ziel, 11 Millionen Menschen zu töten? Wie wird eine Nation, die für ihre Dichter, Schriftsteller und Philosophen bekannt ist, zu einem genozidalen Staat? Ein Ergebnis dieser Fragestellung war, dass – wie wir bereits besprochen haben – weitaus weniger Augenmerk auf die Opfer als auf die Täter gelegt wurde, hauptsächlich weil die Opfer unbekannt waren. Wenn überhaupt ein Fokus auf den Opfern lag, dann auf den deutschen jüdischen Opfern, weil es so schien, als könnte man sich da mehr hineindenken. Ein Beispiel dafür ist, als 1995 die Tagebücher von Viktor Klemperer veröffentlicht wurden, die für deutsche Leser besonders bewegend waren. Klemperer, ein protestantischer Professor, der von den Deutschen als jüdisch wahrgenommen und von seiner Position vergewiesen wurde, schrieb eine detaillierte Darstellung seines Lebens unter der Naziherrschaft. Sein Überleben, das weitgehend seiner Ehe mit einer »arischen« Frau zu verdanken war, machte seine Tagebücher besonders ergreifend, weil es sich um einen Insiderblick auf die akademische Elite handelte, einen Professor an der Technischen Universität Dresden.
»Sie kannten die Menschen, die sie töteten. Alles war zutiefst intim.«
Natürlich wussten Historiker und die deutsche Öffentlichkeit, dass Juden »in den Osten« deportiert wurden, um ermordet zu werden, und dass die meisten europäischen Juden dort lebten, aber es gab wenig Interesse an diesen Regionen. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert, obwohl es heute in Deutschland immer noch kein großes Thema ist. Ich bemerkte diese blinde Stelle zum ersten Mal während der Debatte um die Wehrmachtsausstellung, die zwischen 1995 und 1999 durch Deutschland tourte. Ich war auf verschiedene Weise beteiligt, unter anderem in einer Kommission, die falsch etikettierte Fotos untersuchte. Besonders auffällig war, dass viele der Fotos aus Osteuropa stammten, speziell aus dem Gebiet, das ich später in Ostgalizien erforschte. Die deutsche Öffentlichkeit, einschließlich der Historiker in der Kommission, wusste nichts über dieses Gebiet. Es wurde als der »Wilde Osten« angesehen – abgelegen und fern.
Auch ich wusste anfangs nicht viel darüber, aber dann verbrachte ich zwanzig Jahre damit, dies zu studieren. Wenn man sieht, was dort passiert ist, und anfängt zu verstehen, auf welche verschiedenen Weisen deutsche Täter und lokale Bevölkerungen am Genozid beteiligt waren, bekommt man ein völlig anderes Verständnis des Holocausts auf lokaler Ebene. Ein entscheidender Aspekt ist die Beteiligung anderer Bevölkerungsgruppen – Polen, Ukrainer, Litauer, Letten und andere. Aber ebenso wichtig ist, dass die Deutschen, die dort waren, diejenigen, die die Morde durchführten, nicht distanziert waren. Sie kannten die Menschen, die sie töteten. Alles war zutiefst intim. Das ist erschreckend, besonders wenn man an die deutsche Erinnerung an den Holocaust denkt, die oft eine große Distanz darstellt – die Juden wurden entfernt, irgendwohin gebracht und dann ermordet. Diese Distanz, die in den historischen Darstellungen des Holocausts zentral war, war Teil eines Ansatzes, der darauf abzielte, die Funktionsweise des Genozids zu verstehen. Die Realität ist jedoch, dass die Täter oft in engem Kontakt mit den Opfern standen.
Nach dem 7. Oktober geschah in Deutschland etwas Außergewöhnliches. Bereits zuvor gab es Debatten darüber, insbesondere in der sogenannten »Katechismusdebatte«, die von Dirk Moses angestoßen wurde. Sein Hauptargument war, dass sich Deutschland so sehr auf den Holocaust konzentriert hatte, dass es wenig Interesse an anderen historischen Gräueltaten zeigte. Da Deutschland behauptete, sich vollständig mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben, sah es keinen Bedarf, sich mit anderen Genoziden auseinanderzusetzen, wie zum Beispiel dem deutschen Kolonialgenozid in Südwestafrika im Jahr 1904 oder zeitgenössischen Genoziden. Darüber hinaus beeinflusste dieser Ansatz die Einwanderungspolitik, besonders nach der Ankunft einer Million syrischer Flüchtlinge. Die Erwartung war, dass Neuankömmlinge sich integrieren müssten, indem sie Deutschlands historische Auseinandersetzung als ihre eigene übernehmen und die gleiche historische Schuld tragen, die Deutschland angenommen hatte.
In einem Abschnitt Ihres Buches beschreiben Sie den Briefwechsel zwischen dem deutschen Historiker Martin Broszat und dem israelischen Historiker Saul Friedländer, in dem Broszat die jüdische Geschichtsschreibung der Holocaust-Opfer als »mythisch« bezeichnete. Kann diese eher denunzierende Charakterisierung der Perspektive der Opfer heute noch im deutschen Diskurs gefunden werden, insbesondere wenn es um jüdische und palästinensische Stimmen geht, die nicht mit der deutschen Staatsräson übereinstimmen?
Broszat, der längst verstorben ist, und Friedländer, der nun in seinen 90ern ist, kamen aus völlig unterschiedlichen Hintergründen. Als Kind wurde Friedländer während des Krieges in einem französischen Kloster versteckt, während seine Eltern von den Schweizern an die Deutschen übergeben und in Auschwitz ermordet wurden. Broszat, obwohl er es leugnete, wurde später als Mitglied der NSDAP entlarvt. Beide trugen direkte, persönliche Erinnerungen an diese Zeit.
Heute haben wir es mit völlig anderen Generationen zu tun – Menschen ohne direkte Erfahrung oder persönliche Mitschuld an diesen Ereignissen. In der modernen deutschen Geschichtsschreibung wäre es undenkbar, dass jemand jüdische Zeugnisse über den Holocaust als »mythische Erinnerung« bezeichnet, wie es Broszat einst tat. Dennoch scheint mir der Hauptbeitrag der deutschen Holocaust-Geschichtsschreibung nach wie vor nicht auf die jüdischen Opfer, sondern auf die deutschen Täter fokussiert zu sein.
Es ist wichtig, die Implikationen dieses Unterschieds für den gegenwärtigen Moment zu bedenken. In Deutschland sowie in den USA, Israel und Frankreich liegt ein starker Fokus auf den israelischen Opfern des 7. Oktober, wobei viele persönliche Geschichten erzählt werden und die erschreckenden Ereignisse dieses Tages immer wieder wiederholt werden. Gleichzeitig gibt es eine starke Zurückhaltung, die Geschichten dessen zu erzählen, was im Gaza-Streifen im viel größeren Maßstab geschieht. Selbst wenn darüber berichtet wird, wird es selten als persönliche Geschichte dargestellt – als Leben von Menschen mit Familien und individuellen Erfahrungen. Stattdessen werden Statistiken zitiert – und oft mit tiefem Misstrauen begegnet. In gewisser Weise ähnelt dieser Skeptizismus den Zweifeln, die Broszat gegenüber jüdischen Zeugnissen aus dem Warschauer Ghetto äußerte.
Heutzutage hinterfragt niemand persönliche Berichte aus Israel über das, was am 7. Oktober passiert ist. Wenn es jedoch um Informationen aus Gaza geht, wird immer mit Vorbehalten argumentiert, oft mit Formulierungen wie: »Das ist, was das Gesundheitsministerium in Gaza sagt, aber wir wissen nicht, ob wir dem vertrauen können.« In diesem Sinne, um zur Frage der Empathie zurückzukehren, wird nur sehr wenig unternommen, um Empathie für die sogenannte »andere Seite« zu schaffen. Natürlich ist es nicht wirklich die andere Seite – es ist die Seite, die ausgelöscht wird, und es gibt so wenig Berichterstattung darüber. Ich hatte dieses Gespräch mit einem Journalisten vom Spiegel, und er sagte: »Nein, wir haben darüber geschrieben.« Aber ich habe sehr wenig in der deutschen und amerikanischen Presse gesehen, und natürlich nichts in der israelischen Presse.
Ihre Dissertation konzentrierte sich auf deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Warum war es für Sie wichtig, die Perspektive der Täter zu untersuchen, und wie beeinflusst dieser Ansatz Ihr Verständnis des Holocausts und der Kriegsverbrechen?
Ich sah sie nicht als Täter, sondern als Soldaten, die ihrer Ansicht nach einen Krieg führten – anders als diejenigen, deren Hauptaufgabe es war, Zivilisten zu töten. Als ich mit dieser Arbeit begann, war ich selbst Soldat in Israel gewesen und hatte die deutsche Militärgeschichte intensiv studiert – ein großer Teil der Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts ist deutsche Geschichte. Ich begann, die Rolle der Wehrmacht bei den Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg zu hinterfragen. In den 1970er Jahren war das dominierende Argument, nicht nur in Deutschland, sondern auch in der breiteren Zweiten-Weltkrieg-Geschichtsschreibung, dass die Wehrmacht nicht involviert war, dass diese Verbrechen hinter ihrem Rücken passiert seien. Die vorherrschende Erzählung besagte, dass die Wehrmacht in einem gerechten Krieg gegen die »bolschewistisch-asiatischen Horden« kämpfte, während die Gräueltaten außerhalb ihrer Kontrolle stattfanden.
Ich wurde skeptisch gegenüber dieser Sichtweise und wollte untersuchen, ob sie wahr war. Gleichzeitig interessierte mich, was diese Soldaten dazu motivierte, in einem so brutalen Krieg zu kämpfen – dem schlimmsten aller Zeiten –, der an der Ostfront geführt wurde. Obwohl ich es anfangs nicht so formulierte, studierte ich die Täter »von unten« und konzentrierte mich so weit wie möglich auf Einzelpersonen. Deshalb untersuchte ich nur drei Divisionen. Ich ging die Personalakten von etwa 530 Junior-Offizieren durch und rekonstruierte ihre sozialen Profile – wer sie waren, woher sie kamen und welche Art von Ausbildung sie erhalten hatten.
Was ich fand, war, dass die Armee tief in Kriegsverbrechen gegen feindliche Soldaten, Kriegsgefangene und Zivilisten verwickelt war. Sie waren auch indirekt in den Holocaust involviert, indem sie meistens Juden anderen Polizeikräften übergaben. Allerdings töteten sie auch Juden, wann immer sie auf sie stießen. Ihre Hauptaufgabe war der Kampf gegen die Rote Armee und das Töten großer Zahlen sowjetischer Zivilisten, von denen die meisten keine Juden waren. Meine Forschung, zusammen mit der einiger deutscher Historiker, trug dazu bei, das Verständnis für die Rolle der deutschen Armee an der Ostfront zu verändern. Diese Forschung, die in den späten 1960er und 70er Jahren begann, führte Mitte der 1980er und frühen 90er Jahre zu einer bedeutenden Wende in der Geschichtsschreibung, aber die öffentliche Meinung blieb widerständig. Es war schwer für die Menschen zu akzeptieren, dass die gesamte Wehrmacht, die aus 20 Millionen Männern bestand, in einen kriminellen Krieg verwickelt gewesen sein könnte.
»Dies ist entscheidend, um Kriegsverbrechen und Völkermord zu verstehen – diejenigen, die solche Taten begehen, glauben in der Regel, dass sie gerechtfertigt sind.«
Die Wehrmachtsausstellung in den mittleren bis späten 1990er Jahren löste eine bedeutende öffentliche Debatte aus und wurde schließlich geschlossen, was zeigt, wie lange es dauert, bis die öffentliche Meinung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen Schritt hält. Ich erinnere mich, dass Mitglieder des Bundestages weinten und sagten, sie könnten nicht glauben, dass ihre Väter in einen kriminellen Krieg verwickelt waren – aber sie waren es. Auch wenn sie diese Verbrechen nicht persönlich begangen haben mögen, waren sie Teil eines kriminellen Unternehmens an der Ostfront, das sich deutlich von der Westfront unterschied. Dies zeigt auch, wie sich Armeen je nach Kontext und Feind unterschiedlich verhalten können.
Für mich war das auf vielen Ebenen bedeutsam. Zu dieser Zeit gab es die vorherrschende Ansicht, dass Soldaten hauptsächlich durch Loyalität zu ihren Kameraden motiviert waren. Nachdem ich im Jom-Kippur-Krieg 1973 gedient hatte, verstand ich, dass die Loyalität zur eigenen Einheit für das eigene Überleben entscheidend war, aber die meisten Soldaten, die ich kannte, glaubten, sie kämpften für etwas viel Größeres. Sie kämpften für den Staat und fürchteten, dass Israel zerstört werden könnte – ähnlich wie die deutschen Soldaten in ihrem eigenen Krieg. Die israelischen Soldaten hatten 1973 lebhafte Bilder des Holocausts in ihren Köpfen.
Was ich argumentierte, dass Soldaten diese Taten nicht nur deswegen begingen, weil ihnen befohlen wurde, Zivilisten zu töten. Sie hatten eine bestimmte Vorstellung vom Feind internalisiert, insbesondere die Idee des Judeo-Bolschewismus, und glaubten, dass sie das Richtige taten. Dies ist entscheidend, um Kriegsverbrechen und Völkermord zu verstehen – diejenigen, die solche Taten begehen, glauben in der Regel, dass sie gerechtfertigt sind. Später sehen wir sie vielleicht als Kriminelle, aber sie sehen sich selbst nicht so.
Als ich letzten August für Guardian schrieb, machte ich ein ähnliches Argument. Um zu verstehen, was gerade passiert, einschließlich dessen, was derzeit in Gaza geschieht, muss man erkennen, dass die Beteiligten oft glauben, das Richtige zu tun. Während in Israel möglicherweise wachsende Zweifel bestehen, dass die Regierung nur kämpft, um sich selbst zu erhalten, glaubten die meisten, die in den vergangenen Monaten diese Taten begangen haben, tatsächlich, dass sie Recht hatten, dies zu tun.
Sie haben erwähnt, dass Sie Soldat der IDF waren. Was dachten Sie während Ihrer Zeit als Soldat, und wann begann sich Ihre Sichtweise auf das israelische Militär zu verändern?
Ich diente in der IDF von 1972 bis 1976, also vor ziemlich langer Zeit. Die Besatzung begann 1967, da war ich gerade dreizehn Jahre alt. Noch bevor ich zur Armee ging, während meiner Schulzeit, nahm ich an Demonstrationen teil, auf denen wir Schilder trugen mit der Aufschrift: »Besatzung korrumpiert.« Dann kam ich zur Armee. Ich war sehr jung, leicht beeinflussbar und – wie viele damals – ein Zionist, auch wenn ich das nicht unbedingt so benannt hätte; ich hatte all diese Überzeugungen verinnerlicht.
Ich erinnere mich lebhaft an einen Moment, als ich mit meinem Zug durch die Stadt el-Arish patrouillierte, im besetzten Sinai. Es war später Vormittag, und die Straßen waren leer. Die Menschen beobachteten uns lediglich aus ihren verschlossenen Fenstern. Man konnte die Angst spüren, die sie vor uns hatten – wir liefen mitten auf der Straße, schwer bewaffnet. Auch ich hatte Angst, weil ich in einer fremden Stadt war. Das war der Moment, in dem ich mich zum ersten Mal wirklich wie ein Besatzer fühlte.
Ich war oft in Gaza, wo sich unser Bataillonskommando befand, und ich fühlte mich an diesem Ort immer sehr fremd. Gaza hatte damals etwa 350.000 oder 400.000 Einwohner – es war bereits damals sehr überbevölkert und vernachlässigt. Ich diente auch im Westjordanland, und auch dort fühlte ich mich nie wohl. Aber zu dieser Zeit stand alles noch ganz am Anfang des Siedlungsprojekts. Man sprach noch von Land gegen Frieden. Es war noch sehr früh.
Der Moment, in dem ich es wirklich gespürt habe und es mir selbst besser artikulieren konnte, war der Beginn der Ersten Intifada im Jahr 1987. Ich war gerade von meinem PhD zurückgekehrt und lehrte an der Universität Tel Aviv, als die erste Intifada ausbrach. Diese Bilder, an denen ich nicht teilhaben wollte – palästinensische Jungen, die Steine auf schwer bewaffnete israelische Soldaten warfen, von ihnen geschlagen wurden, und der Verteidigungsminister Yitzhak Rabin, der sie aufforderte, ihnen die Knochen zu brechen – das war ein Wendepunkt. Damals schrieb ich Rabin einen Brief und sagte ihm, dass ich gerade die Barbarisierung der deutschen Armee untersucht hatte und dass die IDF unter seiner Führung auf demselben rutschigen Abhang sei.
Ich hatte das Glück, kurz darauf ein Stipendium an der Harvard University angeboten zu bekommen – das bedeutete, dass ich weder die Besatzung durchsetzen noch riskieren musste, ins Gefängnis zu gehen, und ich bin nie zurückgekehrt. Aber zwischen damals, während der Ersten Intifada, und heute ist alles nur schlimmer geworden. Die Schäden der Besatzung sind heute so viel offensichtlicher. Doch das Außergewöhnlichste ist, dass die Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit sich weigert, zuzugeben, dass die Korruption des israelischen politischen und juristischen Systems genau in dieser Besatzung verwurzelt ist. Man konnte das von Anfang an erkennen. Leider verweigert sich der Großteil der israelischen Gesellschaft – ebenso wie viele Kritiker oder Politiker in europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten – dieser Realität vollständig.
Sie erörtern auch, dass die Idee der Singularität des Holocausts zur Rechtfertigung der zionistischen Kolonisierung Palästinas beigetragen hat, und heben die Verbindung zwischen der Erinnerung an den Holocaust und der Staatsdoktrin Israels hervor. Wie bewerten Sie die politische Instrumentalisierung der Maxime »Nie wieder« im israelischen Diskurs — insbesondere im Hinblick auf die Legitimierung staatlicher Gewalt?
Das war ein langer Prozess – er begann nicht sofort. Zwischen 1945 und 1947 sah die internationale Gemeinschaft, obwohl sie damals viel kleiner war, gute Gründe, die Gründung eines jüdischen Staates zu unterstützen, hauptsächlich wegen des Holocausts. Der Holocaust hatte die Notwendigkeit eines jüdischen Staates und Zufluchtsorts aufgezeigt. Er spielte von Anfang an eine Rolle bei der Gründung Israels, wie es in der israelischen Unabhängigkeitserklärung zum Ausdruck kommt.
In den frühen Jahren Israels wurde der Holocaust jedoch als etwas Unangenehmes, ja sogar Peinliches betrachtet. Eine gängige Erzählung – die häufig in Aufzeichnungen und Transkripten des Eichmann-Prozesses in den frühen 1960er Jahren auftaucht – war, dass die Juden »wie Schafe zur Schlachtbank« in ihren Tod gingen. Juden wurden als passiv angesehen oder sogar als hätten sie in ihrem eigenen Völkermord mitgewirkt – eine Vorstellung, die dem Selbstbild des Zionismus, das den Kampf ums Überleben betonte, völlig zuwiderlief. Die einzigen Holocaust-Opfer, die glorifiziert wurden, waren diejenigen, die Widerstand leisteten, besonders die Kämpfer im Warschauer Ghetto im April 1943.
»Infolgedessen bedeutet ›Nie wieder‹ heute nicht mehr ›Nie wieder Völkermord, Unmenschlichkeit oder die Verfolgung einer Gruppe aufgrund ihrer Identität‹, sondern ›Nie wieder ein Holocaust, der an den Juden in Israel begangen wird‹.«
Dies begann sich um den Eichmann-Prozess herum zu ändern, nahm jedoch nach dem Krieg von 1973 richtig Fahrt auf. Der wirkliche Wandel kam in den 1980er Jahren, als die Regierung von Menachem Begin, die 1977 teilweise als Reaktion auf den Krieg gewählt worden war, Veränderungen im Bildungssystem Israels einführte. Der Holocaust wurde zum zentralen Element der israelischen kollektiven Erinnerung – eine vereinigende Kraft für Juden aus Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika, egal ob säkular oder religiös, alt oder jung, ländlich oder städtisch. Was sie verband, war die Vorstellung, dass sie alle nicht nur Opfer des Holocausts gewesen waren, sondern auch potenzielle Opfer eines zukünftigen Völkermords.
Der Holocaust wurde zu etwas, das die Gesellschaft vereint – nicht nur als Erinnerung, sondern als eine Angst, dass er wieder passieren könnte. Diese Angst, obwohl sie zunehmend unwahrscheinlich wird, da Israel militärisch stärker wird – und zum mächtigsten Staat in der Region avanciert –, bleibt dennoch bestehen. Der Schock des Arabisch-Israelischen Krieges von 1973, den ich persönlich erlebte, verstärkte diese Angst und verwandelte den Holocaust selbst in eine anhaltende Bedrohung. Infolgedessen bedeutet »Nie wieder« heute nicht mehr »Nie wieder Völkermord, Unmenschlichkeit oder die Verfolgung einer Gruppe aufgrund ihrer Identität«, sondern »Nie wieder ein Holocaust, der an den Juden in Israel begangen wird«. Dies führt dazu, dass jede Bedrohung als potenziell genozidal wahrgenommen wird.
Diese Bedrohung, wie sie jetzt in Israel benutzt wird, kann sogar als Bedrohung gegen die israelische Besatzung der Palästinenser gesehen werden. Anstatt zu erkennen, dass die Besatzung der Palästinenser im Kern von Israels Problemen liegt – dass sie das gesamte System korrumpiert hat, dass die Besatzung von Menschen über so lange Zeit nicht nur sie entmenschlicht, sondern auch die Besatzer entmenschlicht –, denkt man andersherum drüber nach. Jede Veränderung dieses Systems wird als existenzielle Bedrohung wahrgenommen, die man unterdrücken, töten oder vertreiben muss, weil sie dich zerstören könnten, wenn sie sich erheben.
Dieser Gebrauch von »Nie wieder« als Lizenz für Gewalt gegen andere ist entscheidend, aber man muss noch ein weiteres Element hinzufügen: Ein Teil des Diskurses über den Holocaust in Israel, den viele Menschen nicht verstehen, aber der in Israel völlig offensichtlich ist, ist, dass es bei der Erinnerung an den Holocaust nicht nur darum geht, was die Nazis uns angetan haben, sondern auch darum, wie alle Nationen der Welt zugesehen haben. Niemand hat etwas getan. Wenn wir um unser Überleben kämpfen, hat daher niemand das Recht, uns zu sagen, was wir tun sollen. Zum Teufel mit dem Völkerrecht, zum Teufel mit der UNO, zum Teufel mit all den Linken, Antisemiten und Kritikern, die sagen, dass wir Verbrechen begehen. Sie haben kein Recht, uns etwas zu sagen, nachdem sie während des Holocausts geschwiegen haben.
So wird das in Israel gesehen. Man muss anerkennen, dass ein Weltkrieg gegen Deutschland geführt wurde und Millionen von Soldaten im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland starben. Aber das wird in Israel meist nicht so dargestellt. Es gibt einem eine moralische Lizenz, aber es schützt die Gesellschaft auch davor, auf das internationale rechtliche Rahmenwerk zu achten, das nach dem Holocaust geschaffen wurde, um solche Verbrechen zu verhindern. In Israel kann man anerkennen, dass dieses Rahmenwerk existiert, aber behaupten, dass es nicht auf einen selbst zutrifft. Wenn wir bedroht werden, können wir wegen dem, was im Holocaust geschah, tun, was immer nötig ist. Israel, besonders unter Netanjahu, war sehr erfolgreich darin, die öffentliche Meinung und Politiker in Europa – vor allem in Deutschland –, aber auch in den Vereinigten Staaten von diesem Argument zu überzeugen.
Wie würden Sie das aktuelle Klima an israelischen Universitäten beschreiben, insbesondere im Hinblick auf die Meinungsfreiheit und den Umgang mit Professoren oder Studierenden, die Israels Militäreinsätze in Gaza kritisieren?
Die Lage ist nicht gut und verschlechtert sich weiter. Auch in den Vereinigten Staaten wird es schlimmer. Seit dem 7. Oktober 2023 richtet sich die unmittelbare Repression in Israel gegen palästinensische Staatsbürger Israels. Palästinenser wurden für jegliche Beiträge oder Kommentare, die sie veröffentlichten, ins Visier genommen. Menschen wurden suspendiert, und es wurden Ermittlungen durch die Polizei eingeleitet. In Israel ist keine Nachricht verschlüsselt – egal ob WhatsApp, Facebook-Posts oder sonst etwas, Polizei und Geheimdienst überwachen alles.
Das richtete sich dann auch gegen Professoren. Ein besonders erschreckender Fall ist der von Nadera Shalhoub-Kevorkian, die von der Hebräischen Universität Jerusalem für etwas angegriffen wurde, das sie angeblich in einem Interview gesagt haben soll. Wenn man sich das Interview, das ziemlich lang ist, tatsächlich anhört, wird klar, dass sie völlig falsch dargestellt wurde – aber das spielte für die Universitätsleitung keine Rolle. Der Präsident und der Rektor griffen sie öffentlich an, und sie wurde von der Polizei verhaftet und misshandelt. Die Universität äußerte nur widerwillig Unbehagen über ihre Verhaftung, setzte sie aber weiter unter Druck, bis sie schließlich hinausgedrängt wurde. Es waren nicht nur die Polizei und die Universitätsleitung, die sie ins Visier nahme. Mit wenigen ehrenvollen Ausnahmen schwieg die überwältigende Mehrheit der Fakultät – insbesondere in ihrem eigenen Fachbereich.
Ich schrieb der Universität einen offenen Brief, dass sie ihrer eigenen Institution Schande bereitet haben. Meiner Ansicht nach sollte niemand mit dieser Universität als Institution kooperieren, zumindest nicht, bis diese Personen, also der Präsident der Hebräischen Universität Asher Cohen und ihr Rektor Tamir Shaefer, abgesetzt worden sind. Dasselbe gilt für die Ben-Gurion-Universität. Ich sollte dort einen Vortrag halten, aber rechte Aktivisten unterbrachen ihn, und die Universität unternahm nichts. Im Gegenteil, der Rektor der Universität, Chaim Hames, behauptete, dass sie mit dem Abbruch meines Vortrags die Meinungsfreiheit schützen würden. So gehen sie auch mit anderen Fakultätsmitgliedern um.
Was man verstehen muss, ist, dass – anders als in Deutschland, Österreich oder den USA – Studierende an israelischen Universitäten tendenziell rechter eingestellt sind als das Lehrpersonal. Es gibt natürlich einige, die sehr moderat sind, aber insgesamt sind die Studierenden nationalistischer als ihre Professoren. Viele von ihnen leisten auch Dienst in den Reservestreitkräften der IDF.
Die Universitäten in Israel sind größtenteils öffentlich und daher von der rechtsradikalen Regierung abhängig, die sie finanziert. Besonders extrem sind die Positionen des Bildungsministers. Die Lehrenden hingegen haben sich größtenteils bemüht, sich aus dem politischen Konflikt herauszuhalten und den Kopf einzuziehen. Das hat zu einer Art freiwilliger »Gleichschaltung« an israelischen Universitäten geführt.
Einige Professorinnen und Professoren versuchen, diesem Druck standzuhalten. Viele von ihnen kenne ich schon lange, und sie tun ihr Bestes, um sich gegen ihre Universitätsleitungen zu stellen. Aber, wie sie mir erklärten, machen sie sich auch Sorgen um ihre eigenen Studierenden. Wenn man über sensible Themen wie den Holocaust, die Nakba oder ähnliche Fragen unterrichtet, muss man damit rechnen, dass manche Studierende die Vorlesung heimlich aufzeichnen. Diese Aufnahme kann dann auf einem rechten Nachrichtensender landen – und das kann zur Suspendierung oder sogar zur Entlassung führen.
In letzter Zeit wurden Akademiker in den USA wie Mahmoud Khalil verhaftet, weil sie sich öffentlich gegen Israels Vorgehen in Gaza ausgesprochen haben. Sie selbst lehren an einer US-amerikanischen Universität. Wie schätzen Sie das politische Klima an US-Hochschulen für Wissenschaftler seit der Präsidentschaft Trumps ein? Und wie unterscheidet sich die Atmosphäre verglichen zu Bidens Amtszeit?
Ich bin seit 1989 an amerikanischen Universitäten tätig, und ich habe es noch nie so schlimm erlebt. Die Trump-Administration hat die Situation erheblich verschärft, aber wie Sie sagten, begann es schon früher. Es begann während der Proteste auf den amerikanischen Campus, hauptsächlich im Frühjahr 2024. Die Reaktion der Universitätsverwaltungen sowie der Regierung in Washington war rasant. Sehr schnell entstand ein Diskurs, dass das Demonstrieren für Palästina, die Unterstützung von Palästinensern oder das Protestieren gegen israelische Maßnahmen in Gaza als antisemitisch betrachtet wurde. Dies wurde der dominierende Diskurs zu einer Zeit, als Biden den Krieg mit einem Fingerschnippen hätte beenden können, dies jedoch ablehnte und ihn stattdessen unterstützte.
Der Druck auf die Universitätsverwaltungen in den USA kam sowohl von oben, von der politischen Führung, als auch von ihren Spendern und Aufsichtsräten. Das Geschäftsmodell amerikanischer Universitäten unterscheidet sich stark von dem, was man in Deutschland findet. Viele dieser Universitäten sind Elite–Institutionen und sind stark auf ihre Spender angewiesen, in geringerem Maße auch auf Studiengebühren. Diese Spender, die historisch die Idee einer liberalen, offenen und vielfältigen Universität unterstützten, begannen bereits, sich in Richtung einer rechtspopulistischeren Denkweise zu bewegen. Aber als das Thema Antisemitismus aufkam, begannen die Spender, ihre immense Macht zu nutzen, um Druck auf die Universitätsverwaltungen auszuüben. Sie setzten sich für eine polizeiliche Vollstreckung ein, um die Proteste zu beenden, und die Universitäten gaben dann Anweisungen, um sicherzustellen, dass solche Proteste nicht wieder stattfinden würden, wobei sowohl Studenten als auch Fakultätsmitglieder diszipliniert wurden. Dies geschah bereits, bevor Trump an die Macht kam. Bis zum Herbst 2024 gab es deutlich weniger Demonstrationen, und die Universitäten waren relativ ruhig.
Dann kam die Trump-Administration und ging noch einen Schritt weiter, indem sie Einschüchterung mit der Zurückhaltung von Geldmitteln kombinierte. Dies umfasste das Einbehalten von Geldern für Forschung, Laborbau und mehr. Während dies nicht direkt mit Gaza zu tun hatte, ging es darum, staatliche Mittel zu nutzen – etwas, das die Biden-Administration nicht tat, wie zum Beispiel das Abschieben von Menschen. Es betrifft nicht nur diejenigen mit Visa, sondern auch Green-Card-Inhaber, die normalerweise fast den gleichen Status wie Staatsbürger haben, abgesehen vom Wahlrecht. Green Cards werden entzogen für das Protestieren gegen israelische Aktionen oder die Unterstützung der palästinensischen Sache. Unter Trump war es legal, Israels Handlungen in Gaza zu unterstützen, während die Kritik daran einen zum Ziel machte. Zum Beispiel wurde eine Tufts-Universitätsstudentin von sechs verdeckten Beamten in Somerville, Massachusetts, einen Kilometer von meinem Zuhause entfernt, einfach verhaftet, weil sie ein Meinungsstück gegen Israels Aggression in Gaza mitverfasste hatte.
Ich habe so etwas auf den Universitätscampusen noch nie gesehen. Das akademische Establishment versucht, den Kopf einzuziehen, ähnlich wie in Israel.
Felix Klein, der Bundesbeauftragte für Antisemitismus, lobte die Umsiedlungspläne von Donald Trump für den Gazastreifen. Ihre Positionen sind fast das Gegenteil der deutschen Staatsräson: Sie beschreiben Israels Handlungen in Gaza als Völkermord, während der ehemalige Kanzler Olaf Scholz diese Anschuldigung als absurd abtut. Felix Klein hält es für antisemitisch, Israel als Apartheidstaat zu bezeichnen, während Sie behaupten, dass Israel tatsächlich Apartheid betreibt.
Ich weiß nicht, auf welcher Grundlage diese deutschen Politiker und Bürokraten ihre Annahmen treffen, weil sie keine Fakten vorlegen – sie machen einfach nur Aussagen. Felix Klein ist besonders bizarr. Er behauptet, dass allerlei Juden und Israelis antisemitisch seien, während er gleichzeitig sich selbst als den Beschützer der Juden in Deutschland darstellt.
Wenn Felix Klein die Zwangsvertreibung unterstützt, verliert er jegliche moralische Autorität. Mir war nicht bewusst, dass er das unterstützt hat, aber wenn dem so ist, ist es unvertretbar. Diese Handlung zu unterstützen, stellt einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Auch wenn er behauptet, die Zwangsumsiedlung nicht zu unterstützen, ist die Realität, dass die israelische Regierung die Menschen dazu anregt, zu gehen. Und wie ermutigen sie die Menschen, zu gehen? Indem sie ihre Häuser bombardieren und ihre Nahrungsversorgung abschneiden. Felix Kleins Unterstützung hierfür ist völlig inakzeptabel, und er hätte längst entlassen werden müssen.
Angesichts des Endes des Waffenstillstands und der erneuten Eskalation des Krieges in Gaza, welche möglichen Wege sehen Sie, um diesen Krieg zu beenden? Welche Rolle sollte die internationale Gemeinschaft in diesem Prozess spielen?
Zuerst möchte ich sagen, dass es keinen Krieg gibt. Es ist eine falsche Bezeichnung, von einem Krieg zu sprechen. Die Hamas hat noch etwas Kontrolle über die Bevölkerung, auch durch die Durchsetzung von Exekutionen, aber sie hat keine wirkliche militärische Präsenz mehr. Wahrscheinlich hat sie noch ein paar tausend Männer, größtenteils neu rekrutiert, die leichte Waffen tragen. Die IDF ist eine moderne Armee mit modernen Flugzeugen, Panzern und Kanonenbooten, die von den USA und Deutschland geliefert werden. Dies ist eine Besatzung durch die IDF, die darauf abzielt, Gaza zu übernehmen. Es wird natürlich Widerstand geben, aber es wird ein Guerillawiderstand sein. Das Ziel ist es, Gaza vollständig zu kontrollieren und durch diese Kontrolle die Bevölkerung zur Flucht zu zwingen. Das Problem ist, dass es keinen Ort gibt, wohin sie gehen können. Ägypten, das einzige Nachbarland mit einer Grenze, will sie nicht aufnehmen.
Inzwischen wendet die IDF Gaza-ähnliche Taktiken im Westjordanland an und hat laut den neuesten Berichten bereits das Flüchtlingslager in Jenin vollständig zerstört. Es ist jetzt eine Geisterstadt. Zwischen 30.000 und 40.000 Palästinenser wurden bereits vertrieben. Die IDF bereitet sich darauf vor, dasselbe in anderen Lagern zu tun, beginnend im nördlichen Teil des Westjordanlands und sich schließlich auf andere Gebiete auszubreiten. Siedler, die von der Armee unterstützt werden, führen wöchentliche Pogrome durch, insbesondere in den Hügeln von Hebron.
Es gibt keinen Grund für die Siedler, damit aufzuhören, es sei denn, es gibt massiven internationalen Druck. Derzeit gibt es keine interne Dynamik in Israel, die dies stoppen würde. Die einzige schwache Hoffnung auf Veränderung innerhalb Israels kommt von Berichten, dass viele Reservisten sich weigern, wieder ihren Einheiten beizutreten. Einige tun dies aus politischen Gründen, aber ich würde sagen, das ist eine Minderheit, da sie glauben, dass es sich um einen politischen Krieg handelt, um Netanjahu an der Macht zu halten. Viele Menschen, denke ich, tun dies aus persönlichen Gründen, weil sie ihre Familien, ihre Jobs und ihr Einkommen verlieren. Aber die IDF muss nicht so viele Leute einberufen. Sie hat Jets, die alle vollständig von den USA geliefert werden. Dafür braucht man keine riesige Anzahl von Menschen. Obwohl einige Reservepiloten kürzlich ihre Mitpiloten aufgerufen haben, das Bombardement von Gaza zu stoppen, sehe ich nicht, dass das passiert. Die Mehrheit wird weitermachen.
»Es gibt eine gemeinsame Bemühung zur ethnischen Säuberung und zur Konsolidierung des Apartheid-Regimes, mit einer zunehmenden Erosion dessen, was an Demokratie in Israel noch übrig ist.«
Wenn das so weitergeht, wird Israel sich zu einem ganzheitlichen Apartheidstaat entwickeln. Wie Sie wahrscheinlich wissen, baut Netanjahu aktiv alle demokratischen Schutzvorkehrungen ab. Er hat bereits den Leiter des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet entlassen, was nicht gerade eine liberale Organisation ist, aber dieser hatte Ermittlungen gegen Netanjahu geführt. Er versucht auch, den Generalstaatsanwalt loszuwerden, und hat bereits den Stabschef ersetzt. Es ist klar, dass er darauf fokussiert ist, seinen eigenen Erhalt zu sichern. Meine Vermutung ist, dass bei den Wahlen im Herbst 2026 diese so organisiert werden, dass Netanjahus Sieg garantiert ist. Das könnte beinhalten, dass palästinensische Bürger Israels das Wahlrecht entzogen wird oder ihr Wahlrecht eingeschränkt wird, was einen erheblichen Einfluss hätte, da sie 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Das Einzige, was das ändern könnte, wäre eine äußere Intervention, und die einzige Intervention, die einen Unterschied machen würde, wäre jene der USA. Netanjahu und Trump folgen jedoch einem ähnlichen Handbuch, was nach Netanjahus Rückkehr von einem Besuch in Washington deutlich wurde, als er begann, die Kontrollen seiner Regierung umzugestalten. Trump hat natürlich bereits die Kontrolle des US-amerikanischen Justizsystems über die Verwaltung geschwächt. Sofern Trump seine Haltung nicht ändert, was ich nicht sehe, ist von den USA nicht viel zu erwarten. Wenn die USA ihre Politik ändern, würde das auch Europa beeinflussen, wobei Deutschland eine entscheidende Rolle spielen würde. Aber basierend auf dem, was ich von Leuten wie Merz gehört habe, sehe ich nicht, dass Deutschland seine Politik signifikant ändert, um Druck auf Israel auszuüben.
Ich bin nicht optimistisch. Es gibt eine gemeinsame Bemühung zur ethnischen Säuberung und zur Konsolidierung des Apartheid-Regimes, mit einer zunehmenden Erosion dessen, was an Demokratie in Israel noch übrig ist, selbst für israelische Juden. Langfristig glaube ich nicht, dass das funktionieren wird, aber es könnte noch zwei Jahrzehnten dauern, bis es implodiert.
Was hoffen Sie, dass Ihr Buch speziell in der deutschsprachigen Debatte bewirken wird? Gibt es bestimmte Narrative oder Tabus, die Sie herausfordern möchten?
Das Wichtigste, was die deutsche Öffentlichkeit verstehen muss, ist, dass Kritik an den aktuellen politischen Maßnahmen Israels nicht anti-israelisch, nicht anti-zionistisch und sicherlich nicht antisemitisch ist. Ich glaube, dass die derzeitige Führung Israels, die lange Zeit von westlichen Regierungen wie der deutschen unterstützt wurde, der israelischen Gesellschaft und ihrer Zukunft schadet. Es schadet tatsächlich Israel.
Viele Deutsche, besonders ältere Generationen, fühlen immer noch eine moralische Verantwortung gegenüber Israel. Wenn man sich um Israel sorgt, muss man seine Regierung dazu drängen, ihre Politik zu ändern, um weiteren Schaden sowohl für das israelische Volk als auch für die Palästinenser zu verhindern. Israel muss gezwungen werden, eine andere Lösung zu suchen – eine Lösung, die es den 7 Millionen Juden und 7 Millionen Palästinensern, die zwischen dem Jordan und dem Meer leben, ermöglicht, das Land zu teilen. Es geht hier nicht um den sogenannten israelisch-palästinensischen »Konflikt« – dieser Begriff ist irreführend. Es geht um die israelische Besatzung der Palästinenser, und diese muss auf gerechte Weise gelöst werden, wobei die Würde aller beteiligten Menschen gewährleistet werden muss.
Omer Bartov, 1954 in Israel geboren, ist Professor of Holocaust and Genocide Studies an der Brown University in Providence. Er zählt zu den führenden Historikern des Holocaust in Osteuropa.