27. Juli 2022
In der Gastronomie fehlen Fachkräfte. Das liegt nicht nur an Pandemie und Inflation, sondern vor allem an den niedrigen Löhnen.
Anstatt Löhne und Konditionen zu verbessern, soll die Personallücke mit Saisonkräften überbrückt werden. Rostock, 7. Juli 2022.
In einem Neuköllner Restaurant sind die Plastiktische gut besetzt, eine gehetzte Kellnerin bringt auffällig große Schnitzel und Bier raus, räumt leere Teller ab. Neue Gäste begrüßt sie mit einer Entschuldigung: »Es kann ein wenig dauern, in der Küche ist heute nur eine Person. Tut mir leid«, sagt Sabine, die eigentlich anders heißt, aber ihren Namen an dieser Stelle lieber nicht lesen möchte. Ob die Personallage hier ebenso schwierig sei wie in all den anderen Läden, frage ich. Sie lacht. »Es ist eine Katastrophe. Vor der Pandemie waren wir fünfzehn Leute hier. Jetzt sind wir noch zu dritt.«
Rund 400.000 Beschäftigte haben dem Gastgewerbe laut Deutschem Hotel- und Gaststättenverband, kurz DEHOGA, zwischen 2019 und 2021 den Rücken gekehrt. Sebastian Riesner, Geschäftsführer des Bereichs Berlin-Brandenburg von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) erklärt: »Schon vor der Pandemie gab es zu wenig Fachkräfte in der Gastronomie. Bundesweit hatten wir rund 1 Millionen sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse. Das sind Menschen, die kein Kurzarbeitergeld bekommen haben, die sind jetzt nicht mehr da«. Viele arbeiten heute im Lebensmitteleinzelhandel und anderen Bereichen des Dienstleistungssektors.
Viele Ladenbesitzer und Servicekäfte scheuen sich, über das fehlende Personal und die Aushänge in ihren Schaufenstern zu sprechen. Zu groß ist die Angst, das eigene Geschäft mit schlechter PR zu torpedieren. »Es ist natürlich schwierig, zuzugeben, dass auch im eigenen Laden rechts und links die Leute weggebrochen sind«, bestätigt auch Sebastian Riesner von der Gewerkschaft. Schlechte Arbeitsbedingungen, Wochenendschichten und vor allem Niedriglöhne sind dabei nicht das Problem einzelner Arbeitgeber. Nein, das ganze Hotel- und Gaststättengewerbe habe sich laut Riesner seinen Ruf als »Niedriglohnbranche« verdient.
Wie schwer es ist, erfahrenes Personal zu finden, weiß Felicitas Sonnenberg aus eigener Erfahrung. Sie leitet ein Kreuzberger Restaurant, kaum zwei Kilometer von Sabine und den Schnitzeln entfernt. Beide teilen dieselben Probleme: »Wir fragen uns mittlerweile: Wie schaffen wir es, die Menge an Menschen zu bedienen, die zu uns kommen«. Außerdem mache sie »ohne Ende Überstunden«. Auch Schließtage habe es bereits gegeben, weil nicht genug Personal verfügbar war.
Bewerberinnen und Bewerber gebe es zwar schon, allerdings fehlten vor allem Menschen mit Praxiserfahrung in der Gastronomie – Fachkräfte also. Für sie ist die Stellensuche dementsprechend einfach, einen Vorteil können sie aus dieser eigentlich komfortablen Verhandlungsposition aber selten schlagen. So erklärt eine Servicekraft des Restaurants, sie habe im Handumdrehen drei Jobangebote bekommen und sich dann für das sympathischste Team entschieden. Bezahlung und Arbeitszeiten seien überall ähnlich gewesen: Knapp über dem Mindestlohn, viele Spät- und Wochenendschichten.
Die NGG fordert deshalb Lohnerhöhungen. »Es braucht jetzt einen Paradigmenwechsel in der Branche: hin zu guter Arbeit«, sagt Riesner. Nur so ließe sich die Personallücke schließen. Als Kunde müsse man sich deshalb an steigende Preise gewöhnen. Aber Riesner warnt: »Es ist nicht damit getan, dass sich der Mindestlohn ab Oktober auf 12 Euro erhöht.«
Im schattigen Hof des Restaurants listet Felicitas Sonnenberg zuständige Servicekräfte, Tischnummern und Reservierungen auf ihrem Klemmbrett. Die Planung, sagt sie, werde durch die Erhöhung des Mindestlohns komplizierter als zuvor. »Ich kann die Minijobber nur noch einmal die Woche eintragen. Der Personalmangel wird dadurch eher verschärft. Das stellt uns vor Probleme.« Außerdem werde es zu Spannungen kommen, weil gelernte Kräfte mehr Geld verlangen als nur den Mindestlohn. »Natürlich freue ich mich, dass es für die meisten mehr Geld gibt. Aber was ist mit denen, die eigentlich mehr verdienen sollten als eine ungelernte Servicekraft?«, sagt sie. Die Umsätze eines mittelständischen Restaurants reichten schlicht nicht aus, um deutlich höhere Löhne zu stemmen.
Vom »Gejammere« über Planungsprobleme mit Minijobstellen will Riesner hingegen nichts hören. »Die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse führen zu Altersarmut und werden nicht als Nebentätigkeiten angesehen, sondern von den Unternehmen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit genutzt.« Ziel der NGG sei es deshalb, geringfügige Beschäftigungsverhältnis komplett abzuschaffen. Das ist ein ehrbares Ziel. Doch was wird aus den Läden und Restaurants, wenn tatsächlich bald die Kunden ausbleiben, weil das Schnitzel durch steigende Löhne, Energiekosten und Ladenmieten zum Luxusgut geworden ist?
Schon im Mai gaben rund 81 Prozent der Deutschen in einer YouGov-Umfrage an, aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten auf Dinge zu verzichten, 45 Prozent von ihnen auf Restaurant- und Barbesuche. Sowohl die Restaurantleiterin Sonnenberg als auch der Gewerkschafter Riesner rechnen damit, dass sich dieser Trend durch weitere Preissteigerungen noch verschärfen und bei den Gaststätten noch deutlich spürbarer wird. Dabei hatte Felicitas Sonnenberg gerade gehofft, dass sich die Kundenzahlen wieder normalisieren.
Genau wie Riesner wünscht sich auch die Restauranleiterin, dass die Regierung der Gastronomie zur Seite steht. Vorschläge dazu gibt es: Die Politik könnte beispielsweise bei der Mehrwertsteuer ansetzen. Diese wurde im Zuge der Pandemie für servierte Speisen von 19 auf 7 Prozent herabgesetzt. Das entlastet Kundinnen zwar, doch die Reduzierung soll zum Ende des Jahres auslaufen. Schnitzel, Pizza und Co. würden dadurch wieder teurer werden. Einige Gastronomen sehen schon die nächste Katastrophe auf sich zurauschen. Die Ampel streitet deshalb derzeit über eine Verlängerung Mehrwertsteuersenkung.
Weitere Versuche der Bundesregierung, direkt auf die Personalnot in der Gastronomie zu reagieren, fallen dürftig aus. So schlugen Arbeitsminister Hubertus Heil und Innenministerin Nancy Faeser (beide SPD) unlängst einen erleichterten Zugang für ausländische Fachkräfte in die deutsche Gastronomie vor. Eine ähnliche Regelung hatte es zuvor für Flughafenmitarbeitende gegeben. Insbesondere Türkinnen und Türken sollten dadurch an die deutschen Flughafenschalter gelockt werden. Am Bosporus machte die deutsche Anwerbungsoffensive große Schlagzeilen. Von 4.000 bis 6.000 Euro Monatslohn war die Rede. »Viele Arbeiter dachten, dass sie nach Deutschland auswandern und dort bleiben würden«, erklärt Türkei-Korrespondent Emre Eser im Programm der Deutschen Welle.
Doch die Realität sieht anders aus. »Es ist keine dauerhafte Einwanderung nach Deutschland«, bekräftigte Arbeitsminister Heil. Die türkischen Arbeitskräfte sollen an den deutschen Flughäfen lediglich bis maximal drei Monate eingesetzt werden. Für die hiesige Urlaubssaison erhalten sie bis zu 6.000 Euro, Unterkünfte sollen die Unternehmen stellen. Doch unterdessen läuft der Tourismus in der Türkei – einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes – gerade ebenso auf Hochtouren. Ein Vorschlag wie dieser wirft insofern mehr Probleme auf, als er löst.
Denn was geschieht, wenn die ausländischen Arbeiterinnen wieder ausreisen müssen, weil ihre befristeten Verträge auslaufen? Werden sich die Gewerkschaften der Interessenvertretung dieser »Saisonarbeiter« annehmen? Steht ihnen mit Abschiebung, Ausbeutung und Rassismus womöglich ein ähnliches Schicksal bevor wie den sogenannten Gastarbeitern der 1970er Jahre? Und wie sieht es bei so kurzfristigen Lösungen mit ganz praktischen Herausforderungen wie Sprachbarrieren aus?
Die Kreuzberger Restaurantleiterin Felicitas Sonnenberg hält von dem Vorschlag wenig. »Wir haben schon jetzt viele Bewerber und Bewerberinnen, die kaum oder wenig Deutschkenntnisse haben. In der Gastronomie führt das oft zu Problemen.« Auf den Personalmangel an den Flughäfen ist sie sowieso schlecht zu sprechen. »Ich verstehe nicht, wieso Milliarden in diese Unternehmen gepumpt wurden, um dann doch so viele Menschen zu entlassen«, sagt sie.
Auch Gewerkschaftssekretär Riesner, der in der gesamten Gastronomie für gute Arbeit sorgen will, hält nicht viel von dem Vorschlag, die Branche Jahr für Jahr mit billigen Saisonarbeitskräften über Wasser zu halten. Im Gegenteil, seine Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel in der Gastronomie wird durch dieses Festhalten an Niedriglöhnen und unsicheren Arbeitsverhältnissen eher getrübt.
Dass beim Flughafenpersonal und in den Gaststätten nun große Personallücken klaffen, verdeutlicht, dass wir es nicht einfach mit einer branchenspezifischen Kündigungswelle zu tun haben, sondern dass Menschen den Niedriglohnsektor verlassen. Jüngst hat die Gewerkschaft Ver.di das verbliebene Bodenpersonal der deutschen Flughäfen zum Streik aufgerufen, schließlich haben die verbliebenen Fachkräfte momentan alle Argumente auf ihrer Seite. Sie sind nicht nur die letzten, die einen völligen Kollaps des Flugverkehrs verhindern können, sie können auch beweisen, dass sich die Personallücke ohne Lohnsteigerungen und bessere Arbeitsbedingungen nicht schließen wird.
Jetzt liegt es an den Gewerkschaften, die Parallelen zwischen Gastronomie und Flugverkehr zu erkennen. Statt Anwerbeabkommen für ausländische Saisonarbeitskräfte zu ersinnen, sollten sie sich der Frage widmen, ob nicht jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, um den Bedingungen und Gehältern des gesamten Niedriglohnsektors den Kampf anzusagen.