23. April 2025
Vor wenigen Monaten rief Abdullah Öcalan die PKK überraschend dazu auf, ihre Waffen niederzulegen. Ob es einen gerechten Frieden geben wird, hängt jetzt nicht nur vom Willen des türkischen Staates ab.
Das kurdische Neujahrsfest Nowroz stand im Zeichen der Friedensbotschaft von Abdullah Öcalan, Diyarbakir, 21. März 2025.
Abdullah Öcalan veröffentlichte am 27. Februar einen historischen »Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft«. Darin fordert er die PKK auf, einen Kongress einzuberufen, um ihre Auflösung und die Niederlegung der Waffen zu beschließen, und betont, dass die Türkei in eine neue Phase der demokratischen Transformation eintreten müsse, die alle gesellschaftlichen Identitäten anerkennt. Die Nachricht darüber wurde weltweit mit Hoffnung, aber auch mit Skepsis aufgenommen.
Die PKK hat Öcalans Appell grundsätzlich akzeptiert und einen Waffenstillstand erklärt. Solch einseitige Waffenstillstände hat die kurdische Guerilla seit 1993 bereits mehrfach ausgerufen, wobei der türkische Staat immer auf ähnliche Schritte warten ließ. Dieses Mal flog die Türkei allein im März mindestens 118 Angriffe auf die PKK im Nordirak und setzte seine Repressionen gegen die kurdische Zivilgesellschaft in der Türkei fort. Auch die Angriffe auf die Oppositionspartei CHP, wie die Festnahme von Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoğlu, erfolgen unter dem Vorwand, die kurdische Freiheitsbewegung zu unterstützen.
Die Kurdinnen und Kurden erwarten vom Erdoğan-Regime konkrete Schritte für einen Friedensprozess: Das betrifft insbesondere die Freilassung Öcalans, einen beiderseitigen Waffenstillstand sowie verfassungsrechtliche Garantien für demokratische Reformen und die Rechte der Kurden und anderer Minderheiten. Ob das in einer von Recep Tayyip Erdoğan regierten Türkei möglich ist, erklärt der Co-Vorsitzende der linken DEM-Partei, Tuncer Bakirhan, im Gespräch mit JACOBIN.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nannte Öcalans Vorstoß eine »Möglichkeit für einen neuen historischen Schritt« – gleichzeitig nimmt er weiter Medienschaffende, Anwälte und Friedensaktivistinnen fest und auch die Bombardierungen im Nordirak dauern an. Es wirkt nicht, als hätte die türkische Regierung seit dem einseitigen Waffenstillstand konkrete Schritte Richtung Demokratisierung unternommen. Geht es Erdoğan wirklich darum, Frieden mit den Kurden zu schließen oder hat er andere Absichten?
Seit dem historischen Aufruf ist mehr als ein Monat vergangen. Normalerweise steht ein solcher Schritt am Ende eines Prozesses, wie zwischen 2013 und 2015. Damals sind dem Friedensprozess Diskussionen und Dialoge vorausgegangen. Aber jetzt kommt der Aufruf als erster Schritt, der einen wichtigen historischen Wendepunkt darstellt. Es gibt viele Erwartungen, aber bisher keine konkreten Entwicklungen. Neben Vertrauen braucht es nun Sicherheit und Garantien.
Wir dürfen diesen Prozess nicht als tagespolitisches Ereignis betrachten; er hat geopolitische, strategische und historische Bedeutung. Die Entwicklungen werden nicht nur von Absichten, sondern auch vom politischen Klima bestimmt. Natürlich sind gute Absichten auch das Ergebnis einer korrekten Betrachtung. Heute ist Präsident Erdoğan an der Macht und er wird den Prozess mit seiner politischen Perspektive steuern. Der Prozess läuft langsam, weil verschiedene Interessen balanciert werden müssen, aber wir glauben, dass bald eine Entscheidung für ihn ansteht: Will er Frieden oder nicht? Wird er die gesellschaftlichen Forderungen nach einer Lösung respektieren oder ignorieren?
Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben und tun unser Möglichstes. Wir glauben, dass sich dieser Prozess entwickeln kann, aber sein Fortschritt hängt davon ab, dass unsere Erwartungen von der Regierung erfüllt werden. Wenn sie keine Schritte unternimmt, steigt die Skepsis und ich denke, die Regierung ist sich dessen bewusst.
Warum hat sich Öcalan gerade jetzt – in einer Phase, in denen Erdoğans Macht gefestigter denn je erscheint – für diesen Schritt entschieden?
Das hat sowohl interne als auch externe Ursachen. Eine der größten Stärken Öcalans ist es, globale Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Region frühzeitig zu erkennen. Wir sehen aktuell, wie die Nachkriegsordnung von 1945 zusammenbricht, der Nahe Osten wird neu geordnet, Europa steckt in der Krise und der asiatisch-pazifische Raum brodelt. Der Trumpismus löst eine neofaschistische Welle aus und stellt politische Gewissheiten infrage. Öcalan handelt, weil er überzeugt ist, dass die alten Regeln nicht mehr gelten und ein Wandel notwendig ist.
Es ist normal, dass sich eine Bewegung, die seit fünfzig Jahren aktiv ist, insbesondere nach den Ereignissen vom 7. Oktober und ihren Folgen, neu positioniert und eine neue politische Ausrichtung findet. Öcalan will geopolitische Sackgassen überwinden. Dazu eine Anekdote: Ein Kommandeur der Befreiungsbewegung der Tamilen in Sri Lanka nannte den Fall der Berliner Mauer als Grund für die sri-lankisch-tamilischen Friedensverhandlungen in den 1990er Jahren. Auf die Frage, was Berlin mit Sri Lanka zu tun habe, antwortete er: »Wenn wir heute nicht handeln, werden wir unter dieser Mauer begraben«.
Der Fall der Mauer symbolisierte das Ende einer Epoche. Heute erleben wir wieder den Fall solcher Mauern. Öcalan betont, dass diejenigen, die sich rechtzeitig politisch, sozial und mental auf den Zeitgeist einstellen und alte Gewohnheiten ablegen, nicht unter den Trümmern begraben werden. Ich denke, dass wir diese Veränderungen in Zukunft besser verstehen werden.
Sie sind gemeinsam mit einer DEM-Partei-Delegation zu Öcalan auf die Gefängnisinsel Imrali gereist. Dort befindet sich Öcalan seit 26 Jahren in Isolationshaft. Er hatte bis Oktober 2024 seit 43 Monaten keinen Kontakt zur Außenwelt. Neben ihm befinden sich noch drei weitere Gefangene auf der Insel. Was waren Ihre Eindrücke von dem Treffen auf der Imrali? Wie ist der gesundheitliche und psychische Zustand der Gefangenen?
Bei unserer Ankunft erlebten wir Öcalan und seine Genossen gefasst, zuversichtlich und entschlossen. In unserem stundenlangen Gespräch betonte er, warum ein demokratischer Wandel in der Welt, der Region und speziell in der Türkei unverzichtbar ist. Trotz der Totalisolation nutzte er die letzten zehn Jahre für intensives Studium und politische Arbeit. Seine Analyse zur Notwendigkeit von Frieden und demokratischer Transformation in der Türkei war tiefgründig, und er hatte klare Vorstellungen von den erforderlichen Schritten.
»Die Türkei befindet sich heute in einem vielschichtigen Krisengeflecht. Die zentrale Ursache dieser Krisen ist die Weigerung, die kurdische Frage zu lösen.«
Was den Gesundheitszustand betrifft: Sowohl Öcalan als auch seine Mitgefangenen waren in guter körperlicher und geistiger Verfassung.
Im Namen des »Anti-Terror-Kampfes« wurde nicht nur Öcalan, sondern tausende Kurdinnen und Kurden hinter Gitter gebracht, der Krieg über die Grenzen der Türkei hinaus ausgedehnt und eine ganze Gesellschaft ihrer kulturellen und politischen Rechte beraubt. Seit Jahrzehnten ist diese Kurdenfeindlichkeit auch in der türkischen Gesellschaft stark verwurzelt. Wie kann in diesem Kontext überhaupt Frieden entstehen?
Die Türkei befindet sich heute in einem vielschichtigen Krisengeflecht. Die zentrale Ursache dieser Krisen ist die Weigerung, die kurdische Frage zu lösen. Diese jahrzehntelange Blockade behindert nicht nur die Demokratisierung, sondern erschöpft auch unsere wirtschaftlichen Ressourcen.
Mit seinem Friedensappell bietet Öcalan eine historische Chance zur Überwindung der Krise. Die kurdische Gesellschaft hat bei den Newroz-Feiern am 21. März durch ihre massenhafte Teilnahme deutlich gemacht, dass sie diesen Aufruf unterstützt – es war quasi ein Referendum. Auch die Mehrheit der politischen Kräfte in der Türkei haben ihre Zustimmung signalisiert. Die Gesellschaft ist bereit für den Frieden und es gibt einen starken Konsens. Aber die Regierung hat bisher keinen konkreten, vertrauensbildenden Fahrplan vorgelegt und lässt die Erwartungen der Menschen unbeantwortet.
Was jetzt fehlt, ist der politische Wille, den gesellschaftlichen Konsens in aktives Handeln umzusetzen. Eine weitere Verzögerung des Lösungsprozesses würde die bestehenden Krisen nur vertiefen. Der entscheidende Schritt für die Türkei ist es, diese historische Chance zu nutzen und einen dauerhaften Frieden zu schaffen.
Als in den letzten Jahren immer wieder Zwangsverwalter in kurdischen Kommunen durch die türkische Regierung eingesetzt wurden, gab es keinen größeren Widerstand der türkischen Opposition. Wie bewerten Sie die jüngste Verhaftung des CHP-Oberbürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, und die darauf folgenden landesweiten Proteste?
Wir kennen den Raub des demokratischen Willens und die Zwangsverwaltungen in der Türkei seit 1979. Unsere politische Tradition kämpft seit 47 Jahren gegen das Unrecht, das gewählten Politikern widerfährt, und wir haben unermessliche Opfer gebracht. Ich erwähne das, weil wir als Partei die Debatten um die Istanbuler Stadtverwaltung und die Verhaftung Imamoğlus gut nachvollziehen können.
Dieses inszenierte Justizkomplott dient nicht nur der Ausschaltung eines politischen Rivalen, sondern zeigt auch die Grenzen der Willkürherrschaft gegenüber der Bevölkerung auf. Der Prozess begann mit der Ernennung des Zwangsverwalters im Bezirk Esenyurt, wo wir bereits gewarnt haben, dass Imamoğlu das eigentliche Ziel ist. Hinter diesen Schritten steckt der Plan, die CHP vollständig zu neutralisieren. Aber dass die Menschen so massiv auf die Straße gehen würden, war nicht einkalkuliert.
»In einem Klima, in dem schon kleine Kritik an der Regierung zu Verhaftungen führt, wird Friedensarbeit systematisch sabotiert.«
Die Proteste sind völlig legitim. Die Menschen vertrauen weder der Justiz noch dem politischen System. Wir unterstützen die demokratischen Forderungen und wehren uns gegen Zwangsverwaltungen, politische Operationen und Angriffe auf die Demokratie. Die Regierung sollte die demokratischen Proteste nicht kriminalisieren, sondern auf die Forderungen der Bevölkerung hören und ihren Willen respektieren. Wir kämpfen gegen die Entrechtung der Bevölkerung und die Inhaftierung von Oppositionellen, Journalisten, Akademikern und Jugendlichen und arbeiten für eine starke Basis für Frieden und eine demokratische Gesellschaft.
Ihre Partei hat mehrere Treffen mit politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei abgehalten. Gibt es Hoffnung für demokratische Bündnisse?
Wir haben drei wichtige Gesprächsrunden mit politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Gruppen und Berufsverbänden geführt. Dabei zeigte sich ein starker Wille zur Konfliktlösung, aber auch große Besorgnis über undemokratische Praktiken. In einem Klima, in dem schon kleine Kritik an der Regierung zu Verhaftungen führt, wird Friedensarbeit systematisch sabotiert.
Die Unzufriedenheit der Mehrheit mit dem Status quo eröffnet jedoch Chancen für demokratische Allianzen. Eine Schlüsselrolle könnte dabei der 2011 als Plattform unterdrückter Gruppen gegründete Demokratische Kongress der Völker (HDK) spielen. Als Zusammenschluss von Arbeitern, Frauen, Jugendlichen und anderen marginalisierten Gruppen ist der HDK als Träger solcher Allianzen prädestiniert, steht aber seit 2015 unter massivem Druck. Die Verhaftung Dutzender Mitglieder in den letzten zwei Monaten zeigt, dass der Staat seine Mobilisierungskraft fürchtet.
Der HDK kann die demokratischen Kräfte zusammenführen, gemeinsame Widerstandsstrategien gegen die Repression entwickeln und die gesellschaftliche Veränderungsenergie bündeln. Die Sehnsucht nach Veränderung ist da – jetzt braucht es ein organisiertes Dach, um sie in Kraft zu verwandeln.
Kann auch die CHP eine Rolle bei der Demokratisierung der Türkei spielen?
Die CHP ist die älteste Gründungspartei der Türkei und erhielt bei den letzten Wahlen die meisten Stimmen. Historisch war sie Teil des Problems – sowohl in der kurdischen Frage als auch bei der Blockade demokratischer Reformen. Heute könnte sie der Schlüssel zur Lösung sein, wenn sie die globalen und regionalen Risiken erkennt und deren Auswirkungen auf die Türkei richtig bewertet.
»Wenn dieser Prozess den Beginn einer neuen Ordnung markiert, die auf Demokratie, Frauenbefreiung und Gerechtigkeit basiert, dann sind es die Kräfte, deren Interessen davon beeinträchtigt werden, die ihn zum Scheitern bringen wollen.«
Deshalb stehen wir seit Beginn des Friedens- und Demokratieprozesses im Dialog mit der CHP. Wenn die CHP einen Schritt nach vorne macht, könnte dies ein wichtiger Faktor sein, um die Regierung zu zwingen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die Türkei zu demokratisieren.
Kurdische Akteure, die türkische Opposition und die internationale Gemeinschaft haben sich allesamt positiv zu dem Prozess geäußert. Der Generalsekretär der UN Antonio Guterres begrüßte die Entscheidung als einen »Hoffnungsschimmer«. Der Präsident der kurdischen Autonomieregion im Irak, Nêçîrvan Barzanî, verkündete den Aufruf »voll und ganz« zu unterstützen. Ähnliches erklärte der CHP-Vorsitzende Özgür Özel. Welche Kräfte könnten jedoch an einer Sabotage des möglichen Friedensprozesses interessiert sein? Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft für den Erfolg dieses Prozesses?
Der Friedens- und Demokratisierungsprozess erhält stärkere Unterstützung als frühere Initiativen, und die geopolitischen Bedingungen sind günstig für seinen Erfolg.
Wenn dieser Prozess den Beginn einer neuen Ordnung in der Region markiert, die auf Demokratie, Frauenbefreiung und Gerechtigkeit basiert, dann sind es die Kräfte, deren Interessen davon beeinträchtigt werden, die ihn zum Scheitern bringen wollen. Solche Kräfte gibt es sowohl in der Türkei als auch in der Region und unter den globalen Mächten. Überall dort, wo Interessen an antidemokratischen Regimen und an der Ausbeutung von Frauen und der Arbeit bestehen, besteht die Gefahr der Sabotage.
Die internationale Gemeinschaft trägt eine große Verantwortung für den Fortgang des Prozesses. Entscheidende Schritte zur Förderung von Frieden und Stabilität in der Türkei und im Nahen Osten sind die Unterstützung demokratischer Kräfte, die für Frauenbefreiung einstehen, und die Ermutigung aller Parteien, den Frieden voranzutreiben. Eine solche Entwicklung würde auch westliche Staaten und Gesellschaften positiv beeinflussen.
In vielen Friedensprozessen weltweit – etwa bei den Oslo-Gesprächen 2009 zwischen der PKK und dem türkischen Staat – gab es vermittelnde oder garantierende Drittparteien. Öcalans Aufruf erwähnt dies nicht. Wie soll der Erfolg dieses Prozesses politisch und rechtlich abgesichert werden?
Öcalan gestaltet den Lösungsansatz entsprechend den spezifischen Bedingungen der Türkei und stützt den Frieden auf ihre innere Dynamik. Der nachhaltige Erfolg des Prozesses hängt nicht nur vom Willen des türkischen Staates und Verhandlungen ab, sondern auch von der gesellschaftlichen Akzeptanz, der aktiven Beteiligung der Bevölkerung und der demokratischen Akteure. Dieser Ansatz könnte ein einzigartiges Beispiel für Friedensprozesse weltweit sein.
Der Friedensprozess zielt darauf ab, Lösung durch das Zusammenwirken von politischem Willen, gesellschaftlicher Versöhnung und Verfassungs- und Rechtsreformen zu garantieren. Anders als in Oslo wird nicht auf vermittelnde internationale Garantiemächte gesetzt, sondern der gemeinsame Wille der demokratischen Institutionen, der politischen Parteien und der Zivilgesellschaft in der Türkei als Grundpfeiler des Prozesses angesehen.
Entscheidend für den Erfolg dieses Modells ist, dass alle Seiten ehrliche Anstrengungen unternehmen und die internationale Gemeinschaft den Prozess unterstützt, auch wenn sie nicht direkt als Vermittlerin auftritt.
Öcalan spricht in seinem Aufruf vom 27. Februar mit Bezug auf Kritik am Realsozialismus von einer »Schwächung der grundlegenden Bedeutung der PKK« und von »übermäßiger Wiederholung«. Was will er damit sagen?
Er sagt, dass die »alten« marxistisch-leninistischen Formen nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus nicht in der Lage sind, das emanzipatorische Potential des Sozialismus sichtbar zu machen. Sein Wunsch, »das unvollendete Werk von Marx zu vollenden«, ist kein Bruch mit dem Marxismus, sondern der Versuch, ihn neu zu analysieren und mit zeitgemäßen Perspektiven zu verbinden.
»Ein Sozialismus, der den Kampf der Frauen ignoriert, bleibt unvollständig und kann den politischen Anforderungen der Gegenwart nicht gerecht werden.«
Öcalan kritisiert die »übermäßige Wiederholung«, weil er glaubt, dass eine flexible und lebendige Bewegung wie die PKK nicht in ideologischer Stagnation verharren sollte. Eine Bewegung, die sich mit alten Diskursen begnügt und nicht auf neue gesellschaftliche Realitäten reagiert, bleibt bei Worten und Parolen stecken. Kurz gesagt, er meint, dass die Mission der Organisation nicht mit alten Werkzeugen fortgesetzt werden kann, da sie sonst an Bedeutung verlieren wird.
In seinem Brief an Frauen vom 8. März geht er auch weiter auf sein Sozialismusverständnis und die Rolle der Frauenbefreiung ein.
Für Öcalan ist die Frauenfrage zentral, weil der Kampf der Frauen zur Avantgarde des antikapitalistischen Widerstands wird. Ein Sozialismus, der den Kampf der Frauen ignoriert, bleibt unvollständig und kann den politischen Anforderungen der Gegenwart nicht gerecht werden.
Darüber hinaus zeigt das Beispiel Rojava, dass ein von Frauen geführter Kampf dem Friedens- und Transformationsprozess, auf den Millionen Menschen in der Region warten, eine große Dynamik verleihen und das Schicksal der Region grundlegend verändern kann.
Es gab zahlreiche Versuche, den Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung friedlich zu lösen. Der letzte Friedensprozess wurde 2015 vom türkischen Staat abgebrochen und führte zu einer neuen Welle der Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung. Was ist heute anders als früher?
Die größte Herausforderung von Friedensprozessen ist ihre Fragilität. Oft bleibt gerade die Partei, die über einen größeren Handlungsspielraum verfügt, hinter den Erwartungen zurück. Ein Beispiel dafür ist wieder Sri Lanka, wo Chandrika B. Kumaratunga, Präsidentin von 1994 bis 2005 und am Friedensprozess mit den Tamilen beteiligt, drei Hauptgründe für das Scheitern der Verhandlungen nennt: Eine nicht überzeugte oder nicht eingebundene Opposition, das Fehlen einer gesellschaftlichen Unterstützung, die den Prozess auch bei Unterbrechungen trägt, und die Tatsache, dass die Friedensfrage nicht der Initiative Einzelner überlassen werden darf. Diese Punkte sind sehr aufschlussreich und entscheidend.
In der Türkei gibt es heute große Unterschiede zu früheren Friedensprozessen. Die politische Arena ist stärker eingebunden. Mit Ausnahme einiger radikaler ultranationalistischer Randgruppen unterstützen alle politischen Kräfte den Friedensprozess und haben dies auch öffentlich erklärt. Neu ist auch, dass mit dem Vorsitzenden der MHP, Devlet Bahçeli, auch nationalistische Kräfte an der Spitze des Prozesses stehen. Von besonderer Bedeutung ist die aktive Rolle des Parlaments, das als zentrale Instanz für eine Lösung anerkannt wird. Darüber hinaus gibt es eine breite gesellschaftliche Unterstützung für den Friedens- und Lösungsprozess, und die Menschen fordern den Frieden lauter denn je.
In der nächsten Phase werden wir unsere Anstrengungen verstärken, um den Aufruf von Öcalan umzusetzen, die Forderung nach Frieden in der Gesellschaft zu verankern und unsere Rolle in den Verhandlungen wahrzunehmen. In den letzten Wochen haben wir an 139 Orten rund 60.000 Menschen getroffen, die nun von Haus zu Haus und von Straße zu Straße gehen, um die Friedensbemühungen und Lösungswege zu verbreiten.
Frieden ist kein Prozess von Sieg oder Niederlage; was dieses Land am dringendsten braucht, ist ein würdevoller Frieden. Die gegenwärtige Situation ist weder regional noch global haltbar. Im neuen Jahrhundert brauchen wir eine freie Gesellschaft und eine freie kurdische Identität.
Dass die Kurden die Lösung in Ankara suchen, muss richtig verstanden werden. Die chronische Kurdenfeindlichkeit und -verleugnung des türkischen Staats muss der Vergangenheit angehören. Ich bin überzeugt, dass unsere Bemühungen für den Aufbau einer demokratischen Türkei – einer demokratischen Republik – erfolgreich sein werden.
Tuncer Bakırhan ist Co-Vorsitzender der linken DEM-Partei und war Teil der Delegation, die Öcalan am 27.2. auf der Gefängnisinsel Imrali besucht hat.