04. August 2021
Megakonzerne wie Amazon und Walmart setzen auf zentrale Wirtschaftsplanung. Zeit, sie unter demokratische Kontrolle zu bringen.
Alles minutiös geplant: Lagerarbeiter in einem Fulfillment-Center von Amazon.
Ein Jahrhundert nach der Russischen Revolution geht ein Gespenst um im Westen – ein Gespenst, das vom Economist auf den Namen »Millenial-Sozialismus« getauft wurde. Aber was genau meinen wir dieses Mal mit Sozialismus? Eine bloße Neuauflage des US-amerikanischen New-Deal-Liberalismus oder der skandinavischen Sozialdemokratie? Öffentliche Gesundheitsversorgung und starke Gewerkschaften? Oder – wie es sich der ehemalige Labour-Schattenkanzler John McDonnell in Großbritannien ausmalte – ein Aufblühen von Genossenschaften? Aber vor allem ist dabei die Frage, in welchem Verhältnis Markt und Wirtschaftsplanung stehen sollen. Immerhin ist das der Punkt, an dem die Reifen der in Arbeiterselbstverwaltung produzierten Autos auf die vom Staat verlegten Straßen treffen.
Schon Friedrich Engels schrieb, dass staatliches Eingreifen in die Wirtschaft keine gute Definition für Sozialismus sei: »Wäre die Verstaatlichung des Tabaks sozialistisch, so zählten Napoleon und Metternich mit unter den Gründern des Sozialismus.« Umso besser, dass sich gegenwärtig an ganz anderer, unerwarteter Stelle eine neue und ungemein interessante Debatte über die Rolle von Märkten und Wirtschaftsplanung entspinnt.
Jack Ma, der Gründer der chinesischen Alibaba Group – einem der größten und teuersten Unternehmen der Welt – vertritt die Ansicht, dass die Wirtschaftsplanung in der Sowjetunion und der frühen Volksrepublik China an der ungenügenden Informationslage scheiterte. Nach seiner Vorhersage könnten wir dank künstlicher Intelligenz und der schieren Menge der uns verfügbaren Daten in den nächsten drei Jahrzehnten endlich eine funktionierende Planwirtschaft aufbauen.
Unterdessen geschieht durch den Übergang vom aktiven zum passiven Investment in den letzten Jahren etwas erstaunlich »Kommunistisches«: Eine Investorin, die zum Beispiel Aktien einer Fluggesellschaft oder eines Telekommunikationsunternehmens hält, will, dass dieses eine Unternehmen die Konkurrenz überflügelt – sie will dessen Gewinne, wenn auch nur vorübergehend, auf Kosten anderer steigen sehen. Eine Investorin, die Anteile an sämtlichen Fluggesellschaften oder Telekommunikationsunternehmen besitzt, wie es bei einem passiv verwalteten Indexfonds der Fall ist, verfolgt hingegen völlig andere Ziele. Dabei spielt Konkurrenz eine weitaus kleinere Rolle. So imaginiert etwa der Bloomberg-Kolumnist Matt Levine einen langsamen Übergang von den heutigen Indexfonds, die einfache Anlagestrategien verwenden, hin zu einer Zukunft mit immer besseren Investitionsalgorithmen, sodass die Finanzmärkte schließlich »langfristig zu perfektem Wissen tendieren werden, also zu einer Art zentraler Planung – realisiert durch den besten aller Kapitalverteilungsroboter«.
In unserem Buch The People’s Republic of Walmart zeigen wir, wie entgegen der Argumentation von historischen Vertretern der freien Marktwirtschaft wie Friedrich Hayek und Ludwig von Mises eine geplante Wirtschaft für Millionen von Produkte und Dienstleistungen mit unendlich komplexen Lieferketten und zahlreichen nichtpreislichen Informationsgehalten nicht nur möglich ist, sondern auch unglaublich gut funktioniert.
Zugegeben, Walmart ist eine grauenhafte Organisation voller arbeitsrechtlicher Missstände und ausgesprochen dröger und entfremdeter Arbeit – dennoch ist das Unternehmen aufgrund seiner Funktionsweise und seiner schieren Größe eine interessante Fallstudie zur Umsetzbarkeit wirtschaftlicher Planung. Walmart, das größte Unternehmen der Welt, verfügt über mehr Beschäftigte als jedes andere Privatunternehmen; es ist der drittgrößte Arbeitgeber der Welt nach dem US-Verteidigungsministerium und der chinesischen Volksbefreiungsarmee. Wäre Walmart ein Land, hätte seine Wirtschaft in etwa die Größe der Schweiz.
»Die heutige Wirtschaft geht bereits weitgehend geplant und nicht spontan vonstatten – doch sie ist auch ein Ort weitreichender Herrschaft, von der wir uns nach wie vor zu befreien haben.«
Natürlich verkauft Walmart seine Waren auf dem Markt. Im Kapitalismus gehen Preise nach wie vor in den Planungsprozess von Unternehmen und Staaten ein. Zusätzlich zu Preisen verfügen Unternehmen heute jedoch über eine exponentiell wachsende Menge an Informationen, welche direkt über die Präferenzen der Menschen oder den Verbrauch von Ressourcen Aufschluss geben. Schon heute können wir zum Beispiel gleichzeitig CO2-Emissionen beim Warentransport und finanzielle Kosten minimieren. Wie wir Dinge zueinander in Beziehung setzen – etwa Baumwolle zu Stahl oder todlangweilige Plackerei zu Kunst –, ist eine schwierige Frage, aber es zeugt von einer Armut an Vorstellungskraft, wenn man denkt, dass nur Märkte über diese multidimensionalen Vergleichsmaßstäbe entscheiden können und nicht auch wir selbst, auf demokratische Weise.
Walmart betreibt intern eine groß angelegte Wirtschaftsplanung ohne eine direkte Vermittlung durch Märkte – und das in einem Maßstab, der Hayek zum Schäumen brächte. Denn nach innen ist das Unternehmen – wie fast alle großen und kleinen Firmen – eine diktatorische Planwirtschaft: Manager sagen den Beschäftigten, was sie zu tun haben, Abteilungen setzen die Vorgaben um, die sie von oben bekommen, und Waren fließen auf Befehl.
Inmitten des Marktes ist Walmart damit eine »Insel bewusster Macht«, wie Keynes’ Mitarbeiter D. H. Robertson es ausgedrückt hat, und eine »Insel der Tyrannei«, wie der Sozialtheoretiker Noam Chomsky es umformulierte. Der Kapitalismus verschleiert sowohl den planerischen als auch den disziplinären Charakter dessen, was innerhalb eines Unternehmens vor sich geht. Der Markt mag frei sein, doch Arbeit ist ständige Unfreiheit. Die heutige Wirtschaft geht bereits weitgehend geplant und nicht spontan vonstatten – doch sie ist auch ein Ort weitreichender Herrschaft, von der wir uns nach wie vor zu befreien haben. Wenn uns dies gelingt, wird es unsere Planungs- und Produktionsweisen tiefgreifend verändern.
Die Wirtschaftsplanung von Walmart reicht über seine eigenen vier Wände hinaus. Expertinnen und Experten auf den Gebieten der Handelssysteme und der Unternehmensplanung führen den Erfolg des logistischen Wunderwerks Walmart darauf zurück, dass das Unternehmen zu den ersten gehörte, die Innovationen wie kontinuierliche Nachlieferungen, lieferantengesteuerten Bestand und Computerisierung sowie Vertrauen, Offenheit, Zusammenarbeit und Informationstransparenz entlang der gesamten Lieferkette umgesetzt haben.
Walmarts geplante »Festigung« seiner Lieferkette steht im Gegensatz zu der Katastrophe, die das Einzelhandelsunternehmen Sears erlebte. Dessen CEO Edward Lampert war ein solcher Fan der libertären Ikone Ayn Rand, dass er bei seiner Übernahme des Unternehmens einen Binnenmarkt einführte, in dem verschiedene Abteilungen untereinander konkurrierten, was zur Geheimhaltung von Informationen, zur Verdopplung von Arbeitsprozessen, zu Chaos und schließlich zum Bankrott führte. Leider wird die Einführung solcher »Binnenmärkte« jedoch bis heute nicht als Irrweg anerkannt, sondern stattdessen regelmäßig im öffentlichen Sektor eingeführt. Gegenwärtig trägt dieser Ansatz unter anderem zum Niedergang von Großbritanniens öffentlichem Gesundheitssystem NHS bei.
Der Zusammenbruch von Sears verblasst jedoch im Vergleich zu weitaus existenzielleren Fällen von Marktversagen. So gehen der Welt derzeit wirksame Antibiotika aus, weil die Pharmariesen – wie unter anderem die Centers of Disease Control in den USA und der ehemalige Chief Medical Officer in Großbritannien gewarnt haben – vor etwa dreißig Jahren aufgrund mangelnder Rentabilität weitgehend aus dem Geschäft der antimikrobiellen Forschung ausgestiegen sind. Von einem Rückfall in die Medizin des viktorianischen Zeitalters sind wir ohne diesen antimikrobiellen Schutz nur noch wenige Jahrzehnte entfernt.
Nach zwanzig Jahren der Klimadiplomatie berichtete der Ölkonzern BP zudem vor einigen Jahren, dass sich der nicht-fossile Anteil am Energiemix seit 1998 kaum verändert habe. Im Angesicht der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel stehen wir demnach still. Das liegt daran, dass eine Marktwirtschaft, wenn man sie sich selbst überlässt, ungeachtet des bedrohlichen Szenarios eines Treibhauses Erde immer weiter fossile Brennstoffe fördern wird.
»Wirtschaftsplanung allein reicht nicht aus. Sie muss auch wirklich demokratisch sein.«
Gute Nachrichten für die Umwelt kamen hingegen in den meisten Fällen von nicht-marktwirtschaftlichen Interventionen. Dass das Problem des Ozonabbaus so gut wie gelöst ist, haben wir nicht dem Markt oder unserem persönlichen Verzicht auf Kühlschränke oder Haarspray zu verdanken, sondern der staatlichen Regulierung. Ebenso sind die Regulierung, die Infrastruktur des öffentlichen Sektors und die vermeintlich ineffiziente Sünde der staatlichen Innovationsförderung verantwortlich für die erfolgreiche Eliminierung von saurem Regen und die Zunahme des weltweiten Baumbestands um 7 Prozent in den letzten 35 Jahren.
Aus diesem Grund ist der Green New Deal mit seinem Fokus auf robustem Planen und Handeln im öffentlichen Sektor anstelle von Marktoptimierung so wichtig. Der Emissionshandel in Kalifornien trägt weniger zur dortigen Treibhausgasreduzierung bei als die klassische, imperative Command-and-Control-Regulierung. Ebenso geht die größte einmalige Emissionsreduktion in Nordamerika auf die Entscheidung der Regierung der kanadischen Provinz Ontario zurück, alle ihre neunzehn Kohlekraftwerke stillzulegen.
Die Lehre aus diesen Erfolgen und Misserfolgen ist Folgendes: Wenn etwas profitabel ist, wird es auch weiterhin produziert werden, wie schädlich es auch sein mag, solange es zu keiner nicht-marktwirtschaftlichen Intervention kommt – also zu wirtschaftlicher Planung. Ebenso wird etwas, das unprofitabel ist, ohne Planung nicht produziert werden, wie nützlich es auch sein mag.
Gleichzeitig ist die weit verbreitete Skepsis gegenüber Bürokratien ohne Rechenschaftspflicht sowie willkürlichen, autoritären Freiheitsbeschränkungen begründet. Walmart mag ein Wunderwerk der Logistik sein – aber es ist auch eines von vielen privaten Feudalreichen in unserem Wirtschaftssystem. Wirtschaftsplanung allein reicht nicht aus. Sie muss auch wirklich demokratisch sein.
Was den Systemen von Walmart und Amazon (oder auch Foxconn und Daimler) gemein ist, ist nicht nur Planung in riesigem Maßstab, sondern auch ein völliger Mangel an Demokratie. Mehr als die Hälfte der Teilzeitarbeitskräfte bei Walmart gibt an, dass sie nicht genug Geld haben, um ihre Grundbedürfnisse zu decken, und viele der Beschäftigten des gewerkschaftsfeindlichen Unternehmens sind auf Lebensmittelmarken angewiesen, um über die Runden zu kommen. Arbeitende in den Fulfillment-Centern von Amazon pinkeln in Flaschen, weil sie fürchten müssen, für Toilettengänge gefeuert zu werden – denn sie werden ständig mithilfe von Armbändern getrackt, die ihre Vorgesetzten über jede vergeudete Millisekunde in Kenntnis setzen. An den heißesten Tagen des Jahres hält Amazon Rettungssanitäter vor seinen Warenlagern bereit, um von der Hitze erschöpfte Beschäftigte zu behandeln. Der CEO von Amazon, Jeff Bezos – dieser schnurbartlose, kahle Stalin des Online-Einzelhandels – herrscht über einen panoptischen, unfreien Überwachungskapitalismus.
Wir müssen unsere enormen Produktivkräfte für bessere Zwecke einsetzen – und genau das können wir auf politischem Wege erreichen. Da es uns der technische Fortschritt nun erlaubt, nicht mehr darüber zu streiten, ob Planung möglich ist, sondern stattdessen zu diskutieren, wie wir planen wollen, muss echte demokratische Kontrolle der Wirtschaftsplanung auf der Ebene sowohl von Regierungen als auch von Unternehmen die nicht verhandelbare Grundlage unserer politischen Vision sein.
Leigh Phillips ist Wissenschaftsjournalist und der Autor von Austerity Ecology & the Collapse-Porn Addicts (Zero Books, 2015).
Michal Rozworski forscht zu Gewerkschaften und bloggt auf Political Eh-conomy.
Leigh Phillips ist Wissenschaftsjournalist und EU-Korrespondent. Er ist Autor des Buchs Austerity Ecology & the Collapse-Porn Addicts (Zero Books, 2015).
Michal Rozworski forscht zu Gewerkschaften und bloggt auf »Political Eh-conomy«.