30. Oktober 2023
In Polen hat eine breite Oppositionsallianz gegen die rechtskonservative PiS gesiegt. Die linke Lewica könnte bald Juniorpartner in der neuen Regierungskoalition werden. In dieser Rolle muss sie Einfluss nehmen, damit sich Fehler der früheren neoliberalen Regierungen nicht wiederholen.
Die Führung des neuen Linksbündnisses bei einer Veranstaltung der Neuen Linken am Wahlabend des 15. Oktobers 2023.
IMAGO/EastnewsPolens pro-demokratische Opposition hat (endlich) die Parlamentswahlen gewonnen. Nach Auszählung aller Stimmen kommen die zentristisch-liberale Bürgerkoalition, der christdemokratische Dritte Weg und die linke Lewica gemeinsam auf eine Mehrheit von 248 der 460 Sitze im Unterhaus des Parlaments (Sejm) sowie auf 65 der 100 Sitze im Senat.
Dieser Erfolg vom 15. Oktober wird wohl die Herrschaft der bisherigen rechten Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) beenden. Acht quälende Jahre lang haben die autoritären Tendenzen der PiS die Beziehungen Warschaus zur Europäischen Union belastet und ernste Zweifel an der demokratischen Integrität des polnischen Staates aufkommen lassen. Jetzt wartet das Land mit angehaltenem Atem darauf, wie es weitergeht.
Die Gespräche über die Regierungsbildung könnten zwar noch Wochen, wenn nicht gar Monate in Anspruch nehmen, werden letztendlich aber wohl mit einer Regierungskoalition unter der Führung des zurückgekehrten Ex-Premiers Donald Tusk von der Bürgerkoalition enden. Über jeglichen Verhandlungen schwebt aber der Geist der PiS: Obwohl sie künftig wohl nicht mehr an der Regierungsmacht sein wird, bleibt sie die Partei mit der größten Unterstützung (35 Prozent der Stimmen bei der Wahl). Präsident Andrzej Duda ist zwar symbolisch aus der Partei ausgetreten, steht aber weiter klar hinter der PiS-Politik. Hinzu kommen PiS-treue Führungskräfte in Spitzenpositionen in Justiz und Medien. Wenn die pro-demokratische Koalition zerbrechen sollte und Neuwahlen angesetzt werden, könnte die Rechte im Handumdrehen zurückkehren.
Für die Linke stellt sich jedoch eine andere Frage: Nämlich, ob Lewica in einer neuen Koalition tatsächlich etwas bewirken kann. Sie wäre die erste linke Gruppierung seit 18 Jahren, die an einer polnischen Regierung beteiligt ist – aber sie wäre dies eben auch als Juniormitglied in einer ideologisch sehr heterogenen Koalition.
Tusk und seine Partei – die Bürgerplattform (PO), die größte Fraktion im Wahlbündnis Bürgerkoalition – hatten Polen bereits von 2007 bis 2014 regiert. Damals agierten sie dabei als zuverlässige Neoliberale. In den vergangenen Jahren sind Tusk, die PO und auch die polnischen Wählerinnen und Wähler jedoch in mehreren Fragen – wenn auch nur leicht – nach links gerückt, darunter insbesondere bei Themen wie LGBTQ-Rechte, Zugang zum Schwangerschaftsabbruch und Sozialausgaben.
Die Lewica, ein Bündnis aus der linksliberalen Nowa Lewica (Neue Linke) und der links-sozialdemokratischen Razem (Gemeinsam), war an der vordersten Front dieser Entwicklungen. Mehrere ihrer Kandidatinnen und Kandidaten sowie die Parteiführung waren maßgeblich an den Massenprotesten gegen die strikten Abtreibungsregelungen beteiligt, die es in Polen in den vergangenen Jahren immer wieder gab. Die Proteste waren eine Reaktion auf die Bemühungen der PiS und ihrer handverlesenen Richter, reproduktive Rechte einzuschränken. Einige Lewica-Mitglieder sind lautstarke LGBTQ-Aktivisten. In der Opposition im Parlament hat das Linksbündnis bisher vor allem für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie höhere Sozialausgaben gekämpft.
»Als kleinste Fraktion in einer (potenziellen) neuen Regierung wird die Lewica jeden Vorteil nutzen müssen, den sie bekommen kann.«
Viele von Lewicas Vorschlägen wie die Liberalisierung der polnischen Abtreibungsgesetze, die Trennung von Kirche und Staat sowie eingetragene Partnerschaften als ein absolutes Minimum für LGBTQ-Rechte waren noch vor acht Jahren Forderungen marginalisierter Gruppen. Die erzkonservative PiS-Regierung hat jedoch dazu geführt, dass sich viele Menschen in Polen in derartigen Fragen »radikalisiert« haben. Heute betonen alle pro-demokratischen Oppositionsbündnisse ihre Unterstützung für entsprechende Ansätze, entweder auf ihren offiziellen Kanälen oder in Erklärungen ihrer jeweiligen Parteichefs. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit (58 Prozent) der polnischen Wählerinnen und Wähler eingetragene Partnerschaften unterstützt und ein relativ großer Teil (48 Prozent) auch die volle Gleichstellung und Ehe für alle befürworten würde.
In vielerlei Hinsicht hat Lewica dazu beigetragen, das Overton-Fenster in Polen leicht nach links zu verschieben. Insgesamt ist das aber ein schwacher Trost angesichts der eigenen Wahlergebnisse, die für das Linksbündnis schlechter ausfielen als erwartet: Lewica erhielt 8,6 Prozent der Stimmen (gegenüber 12,6 Prozent bei der Wahl 2019) und ist damit nicht mehr die dritt- sondern nur noch die viertstärkste Fraktion im polnischen Parlament.
Dennoch bleibt das Bündnis eine starke politische Kraft und bietet Hoffnung für die Linke. Die Verluste von Lewica kamen übrigens ausschließlich von der Nowa Lewica, also dem eher Mitte-links orientierten Flügel des Bündnisses. Im Gegensatz dazu konnte die weiter links stehende Razem sowohl im Sejm als auch im Senat mehr Sitze für sich erobern: Von vormals sechs der 49 Lewica-Sitze im Sejm steigerte sie sich auf sieben von 26 – ein Zuwachs von fünfzehn Prozentpunkten gegenüber 2019. Noch deutlicher ist die Situation im Senat, wo Razem nun zwei von neun Lewica-Sitzen hält (nachdem sie vor vier Jahren keinen einzigen errungen hatte).
Das größere Gewicht von Razem innerhalb der Lewica wird sich zweifellos auf die künftige Ausrichtung des Bündnisses auswirken. Es wird sich wahrscheinlich weiter in Richtung einer kohärent-linken Ideologie bewegen, die aber natürlich weiterhin die liberaleren und sozialistischen Fraktionen des Bündnisses miteinander verknüpfen und zusammenhalten muss. Wie dies in der Praxis aussehen wird, ist derzeit unklar, aber es könnte vor allem eine starke Betonung von Sozialhilfeprogrammen und Wohnungsbau geben. Gerüchte aus den Koalitionsverhandlungen deuten bereits darauf hin, dass Lewica das Bildungsministerium sowie ein noch nicht geschaffenes Ministerium, das sich mit der polnischen Wohnungskrise befassen soll, für sich beanspruchen wird.
Als kleinste Fraktion in einer (potenziellen) neuen Regierung wird die Lewica jeden Vorteil nutzen müssen, den sie bekommen kann. Ihre politische Stärke wird von der unbestrittenen Popularität ihrer Ideen, dem Charisma ihrer Führungsriege und ihrer Fähigkeit, als einheitlicher Block zu agieren, abhängen.
Lewica sollte darüber hinaus versuchen, die guten Beziehungen zu außerparlamentarischen Gruppen zu nutzen, um den Druck auf ihre zukünftigen Koalitionspartner zu erhöhen. Die Gewerkschaften, die gegen die PiS-Regierung gestreikt haben, wünschen sich Verbündete im Parlament, die ihren Forderungen Nachdruck verleihen. Aktivistinnen und Aktivisten für reproduktive und/oder LGBTQ-Rechte haben ebenfalls klare Forderungen – und eine nachweisliche Erfolgsbilanz bei der Mobilisierung der Bevölkerung. Vor allem wollen sie ihre Agenda vorantreiben; die Protest-Motivation entspringt nicht nur einer grundsätzlichen Abneigung gegenüber der konservativen PiS. In jedem Fall könnten derartige Bewegungen für Lewica ein potenzielles Reservoir an dringend benötigter politischer Masse im Hintergrund darstellen.
Dennoch muss realistischerweise anerkannt werden, dass Lewica nicht in der Lage sein wird, alle linken Positionen kompromisslos zu vertreten, ohne dass dadurch die Regierungskoalition gefährdet würde. Das Bündnis wird sich stets auf einem schmalen Grat bewegen müssen. So könnte die Linke in der Regierung einerseits Gefahr laufen, von den Launen seiner größeren Partner erdrückt zu werden. Andererseits ist sie aber für die Bildung einer funktionierenden Regierung unerlässlich. Dies gilt insbesondere für den Sejm, wo Lewicas 26 Stimmen entscheidend für die Gesetzesentwürfe der Koalition sein können. Ohne Lewicas Unterstützung müssten sich Tusks PO und der Dritte Weg auf die Duldung der konservativen oder gar der rechtsradikalen Abgeordneten verlassen.
Lewicas beste Aussichten, eine Tusk-geführte Regierung zu beeinflussen, dürfte es bei Themen geben, bei denen es ohnehin schon eine breite Übereinstimmung zwischen den möglichen Koalitionspartnern gibt, wie etwa in Sachen Bildung oder bei der Trennung von Kirche und Staat.
Polnische Lehrkräfte haben wiederholt gegen die PiS-Regierung protestiert. Sie beschweren sich unter anderem über niedrige Gehälter, unzureichende Lehrmittel sowie Lehrplanänderungen, die ihrer Meinung nach darauf abzielen, die Schülerschaft im Sinne der PiS zu »indoktrinieren«. Die Bürgerkoalition, der Dritte Weg und Lewica haben in ihren Wahlprogrammen alle gefordert, die Gehälter der Lehrerinnen und Lehrer um 20 bis 30 Prozent zu erhöhen und dafür zu sorgen, dass die Bildungsausgaben einen bestimmten Prozentsatz des polnischen BIP nicht unterschreiten dürfen.
»Lewica muss ihren Platz in Polens neuer Regierung finden.«
Es gab auch einen populären Vorstoß, die staatliche Finanzierung des katholischen Katechismusunterrichts zu beenden, der zwar von kirchlich bestellten Lehrern erteilt wird, aber in staatlichen Schulen stattfindet. In den vergangenen Jahren hat eine wachsende Zahl der Polinnen und Polen ihren Unmut über die ihrer Ansicht nach zu engen Kontakte zwischen der PiS und der katholischen Kirche geäußert. Im Zuge der Proteste gegen die Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch und der anhaltenden Missbrauchsskandale sind Rufe nach einer klareren Trennung zwischen Kirche und Staat lauter geworden. In dieser Frage sind sich die PO, der Dritte Weg und Lewica ebenfalls weitgehend einig.
Sollte Lewica das Bildungsministerium übernehmen, könnte das Bündnis nicht nur an der Umsetzung seiner Vorschläge aus der Oppositionszeit arbeiten, sondern würde auch stellvertretend für (hoffentlich positiven) Wandel in diesem Bereich stehen. Gleiches gilt für das Wohnungswesen.
Als kleinster Koalitionspartner läuft Lewica aber immer Gefahr, dass eigene Erfolge in der Öffentlichkeit nicht bemerkt oder gewürdigt werden, während sie stets eine Mitschuld für eventuelle Misserfolge der Regierung tragen würde. Ein bis zwei eigene Ressorts sind daher sehr wichtig für Lewica, um die Regierungspolitik möglichst deutlich (und öffentlichkeitswirksam) zu beeinflussen.
Bei den Koalitionsverhandlungen könnte Lewica auch versuchen, linke Positionen zur Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und zu LGBTQ-Rechten einzubringen. Tatsächlich sind diese beiden Punkte wichtige Themen für Lewica. Der wohl bekannteste Politiker des Bündnisses – Robert Biedroń – ist einer der wenigen offen homosexuellen Politiker in Polen, und sowohl Nowa Lewica als auch Razem haben enge Kontakte zu LGBTQ- und feministischen Gruppen, die sich gegen die Abtreibungsregelungen engagieren.
Während des Wahlkampfs haben die liberale PO und sogar der christlich geprägte Dritte Weg ebenso wie Lewica Reformen der Gesetze zu Schwangerschaftsabbruch und eingetragenen Lebenspartnerschaften gefordert. Allerdings muss man einräumen, dass keines dieser beiden Themen für die erstgenannten Parteien sonderlich wichtig wäre. Es liegt somit an Lewica, den Druck aufrechtzuerhalten, um die zukünftige Regierung zum Handeln zu zwingen. Den größten Einfluss in der Regierung könnte Lewica vermutlich in der schon angesprochenen Bildungs- sowie in der Wohnungspolitik ausüben. Wenn sie es darüber hinaus schafft, die Regierungskoalition dazu zu zwingen, ihre Wahlversprechen in Bezug auf Schwangerschaftsabbruch und eingetragene Partnerschaft zu erfüllen, wäre das zweifellos ein riesiger Erfolg.
Lewica muss ihren Platz in Polens neuer Regierung finden. Im Wahlkampf wurde bereits klar, dass es dem linken Bündnis gelungen ist, die politische Diskussion und die Erwartungen der Wählerinnen und Wähler in Polen zu prägen. Zeitgleich scheint sich auch bei Donald Tusk einiges verändert zu haben. Die acht tristen Jahre in der Opposition haben für einen (freilich sehr zaghaften) Schwenk nach links bei ihm und seiner PO gesorgt. So hat er sich nicht nur öffentlich für reproduktive Rechte und gleichgestellte Lebenspartnerschaften stark gemacht, sondern zielt vor allem auf Reformen, mit denen die EU-Mittel, die Polen aufgrund des »Illiberalismus« der PiS bisher vorenthalten wurden, zugänglich gemacht werden sollen. Auch in Bezug auf diese Reformen sind sich Lewica und Tusk weitgehend einig. Für die linke Allianz geht es nun darum, ihn weiter in eine progressive(re) Richtung zu drängen.
Das Regieren wird sicherlich eine neue Herausforderung für Lewica. Die Unterstützerinnen und Unterstützer des Bündnisses zeigen sich aber zuversichtlich, dass sie diese Herausforderung meistern kann – auch als Teil einer solch heterogenen Koalition.
Roman Broszkowski ist freiberuflicher Journalist. Er befasst sich vor allem mit Mittelost- und Osteuropa.