16. März 2021
Geisterhafte Dörfer, verlassene Bushaltestellen und Klinikschließungen zeigen: der Markt versagt. Die Privatisierungswelle der letzten Jahrzehnte hat Versorgungslücken hinterlassen. Aber quer durchs Land holen sich die Kommunen ihre Grundversorgung zurück.
Die Landflucht der letzten Jahrzehnte ist auch eine Konsequenz der Privatisierung der Grundversorgung.
Mietpreise in Ballungsräumen sind selbst für den Mittelstand kaum noch bezahlbar, Beschäftigte im Gesundheitswesen ackern weit über ihre Belastungsgrenzen und die Expertinnen und Experten prophezeien eine bevorstehende Wirtschaftskrise. Es ist zu riskant, die Grundversorgung weiterhin der privaten Hand zu überlassen – das hat sich gerade während der Pandemie wieder gezeigt. Trotz dieser Warnsignale sorgen Schlagwörter wie Enteignung oder Verstaatlichung bei einigen Menschen immer noch für bebende Nasenflügel und verstörte Blicke. Dabei ist die Rückeroberung der sozialen Infrastruktur schon im Gange.
Die Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co. Enteignen hat dazu beigetragen, dass Enteignungen in der breiten Öffentlichkeit wieder als realistische Praxis wahrgenommen werden. Wie groß der Bedarf ist, zeigen die steigenden Mieten in Großstädten wie Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt. Während das Angebot hier begrenzt ist, steigt die Nachfrage stetig. Die Folge: Kapital konzentriert sich in den Großstädten – da hier die Investitionsbedingungen attraktiver und profitabler sind – und zieht sich aus abgelegenen Gebieten zurück. Das Marktversagen zeigt sich daher im ländlichen Raum anders als in den Ballungszentren.
Durch die geringere Nachfrage wandern Privatunternehmen aus den weniger dicht besiedelten Regionen ab. Die soziale Infrastruktur bricht weg. Geschlossene Kliniken oder verlassene Bushaltestellen zeugen von dieser Entwicklung. Zur Versinnbildlichung der Zerstörung des öffentlichen Raums durch den Neoliberalismus verwies der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher auf eine Szene aus dem Film Children of Men: Durch ein verlassenes Schulgebäude stakst ein Hirsch. Ein überzeichnetes Bild. Aber wer die geisterhaften Stadtzentren von Syke, Nienburg oder Schkeuditz kennt, weiß, dass es beängstigend nah an der Realität ist. Doch auf die Notlage wird reagiert: Laut statistischem Bundesamt ist die Zahl öffentlicher Unternehmen in Deutschland seit 2004 um etwa 8.000 gewachsen. Die Übernahme von privaten Unternehmen samt ihrem Kapital durch die öffentliche Hand ist also alles andere als ein Ausnahmefall, sondern passiert ständig – und zwar häufig im Zuge von Rekommunalisierungen.
Diese führen meist zu weniger Gegenwehr als Vorhaben wie Deutsche Wohnen und Co. Enteignen. Und das hat Gründe. Einerseits müssen Liberale weniger Angst vor einem übermächtigen Staatsapparat haben, wenn Infrastruktur in kommunale Hand wandert – Föderalismus sei Dank. Andererseits kann die Überführung von vormals privatwirtschaftlich organisierten Versorgungsunternehmen in öffentlichen Besitz sehr heilsam sein. Das zeigen einige erfolgreiche Beispiele aus den verschiedensten Regionen des Landes.
Die Kommunalisierungstour führt zuerst nach Peine, genauer gesagt ins Klinikum Peine. Seit Oktober 2020 gehört dieses wieder der Stadt und ihrem Landkreis. Auf der Höhe der Privatisierungswelle hatte die AKH-Stiftung aus Celle im Jahr 2003 das Klinikum gekauft. Durch Sparmaßnahmen, Arbeitsintensivierung und ausbleibende Investitionen wurde der Klinikalltag nicht nur belastender für Belegschaft und Patienten. Auch der finanzielle Erfolg, den man sich von der Privatisierung erhofft hatte, blieb aus. Das Klinikum stand kurz vor der Schließung – miserable Aussichten für alle Beschäftigten, aber auch für die Bewohnerinnen und Bewohner des Peine Landkreises. Doch dann kam es in den Worten des Krankenhausdirektors Wolfgang Jitschin zum »Glücksfall: Nach langem Drängen von Bürgerinnen und Bürgern sowie der Krankenhausbelegschaft entschied sich die Kommune, das kriselnde Krankenhaus zu übernehmen und das Investitionspaket von 30 Millionen Euro zu stemmen. Geht es nach Jitschin, dann »bilden kommunale Krankenhäuser das Rückgrat der medizinischen Versorgung«, doch die Realität sieht anders aus.
Bisher bleiben die kommunalen Krankenhäuser in Deutschland in der Unterzahl. So waren 2018 rund 38 Prozent aller deutschen Kliniken im Besitz von privaten Trägern, während die öffentlichen nur rund 28 Prozent ausmachten. Hier zeigen sich die Folgen des Privatisierungstrends der unter der Regierung Helmut Kohls seinen Höhepunkt fand. Doch auch in der Folge wurde weiter nach dem Vorbild des »schlanken Staates« gehandelt. Für die Gesundheitsversorgung bedeutet das: Kliniken, die nicht profitabel sind, machen dicht. Dieses Schicksal ereilte zwischen 1991 und 2019 landesweit etwa 500 von ihnen. Doch spätestens seit der Corona-Pandemie dürfte klar geworden sein, dass jedes Krankenhaus buchstäblich lebensnotwendig ist. Axel Burgdorf, ehemaliger Betriebsratschef am Klinikum Peine und Gründer der Initiative »Wir für das Klinikum Peine«, freut sich vor allem, dass durch die Rekommunalisierung in Peine die Arbeitsplätze der Belegschaft gesichert werden konnten und die Menschen weiter eine Klinik in der Nähe haben. Das ist abseits der deutschen Großstädte nämlich keine Selbstverständlichkeit.
Die Ära der Klinikschließungen ist jedoch noch lange nicht beendet, da Effizienz- und Produktivitätssteigerung immer noch die bestimmenden Faktoren in der Organisation des Gesundheitswesens sind. Einen Trend hin zur öffentlichen Gesundheitsversorgung kann auch Axel Burgdorf noch nicht erkennen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass menschennahe Dienstleistungen weniger profitabel sind und sich der Wert einer Dienstleistung auch dann noch an seiner Gewinnmarge bemisst, wenn es dabei um Leben und Tod geht. Für Burgdorf ist klar, dass wir eine andere Perspektive auf das Sozialwesen brauchen: »Würden wir seit zwanzig Jahren statt Börse vor Acht, Soziales vor Acht sehen, dann würde sich auch unser Gesellschaftsbild ein wenig ändern. Und das ist es, was wir in jedem Fall brauchen. Gesundheitsversorgung vor Ort braucht auch eine veränderte Wahrnehmung.«
Auch die Müllentsorgung im Thüringer Ilm-Kreis blieb von den Privatisierungswellen der 1990er Jahre nicht verschont. Erschwerend kam hier hinzu, dass nach der Wende im Zuge der Treuhand besonders schonungslos privatisiert wurde: Große Anteile der Müllentsorgung, des öffentlichen Nahverkehrs oder der Energieversorgung waren betroffen. Das Credo lautete damals: Weniger Belastung für die Kommunen und niedrigere Preise für die Kunden und Kundinnen durch den Wettkampf am freien Markt. Doch als diese Effekte ausblieben, bekam das Vertrauen in die Privatwirtschaft erste Risse. Auch im Ilm-Kreis.
»Die Kosten für die Anwohnerinnen und Anwohner konnten seitdem sogar leicht gesenkt werden«
Seitdem wurden in Thüringen Energieversorgung, öffentliche Nahverkehrsbetriebe, sogar Kindertagestätten nach und nach in die öffentliche Hand zurückgeführt. Eine Studie zur Rekommunalisierungspraxis in Thüringen zeigt, wie aktiv die Bürgerinnen und Bürger im Ilm-Kreis an der öffentlichen Gestaltung der Grundversorgung mitwirken. Beim Bürgerentscheid zur Frage, ob die Müllentsorgung des Landkreises wieder durch die öffentliche Hand geregelt werden soll, stimmten 70,3 Prozent von ihnen mit Ja. »Es gibt hier einen Bedarf, wieder verstärkt Leistungen durch den Staat erbringen zu lassen, da gehören die Kommunen dazu. Weil die Leute dort ein höheres Maß an Vertrauen haben und weil sie davon ausgehen, dass es so eine demokratische Steuerung von Prozessen und Entscheidungen gibt«, sagt Frank Kuschel. Er ist Autor der Studie und wohnt selbst im Ilm-Kreis.
Das Entsorgungsunternehmen Remondis gab infolge des Bürgerentscheids seine Anteile ab. Seitdem ist der kommunale Ilmenauer Umweltdienst (IUWD) verantwortlich für die Reinigung des Landkreises. Die Kosten für die Anwohnerinnen und Anwohner konnten seitdem sogar leicht gesenkt werden und die Belegschaft der IUWD ist nun in sicheren, tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen. Geht es nach Frank Kuschel, ist das Beispiel aus dem Ilm-Kreis ein Wegweiser: »Ich bin überzeugt, dass das zunehmen wird. Wir haben gerade im ländlichen Raum erhebliche Versorgungslücken. Als Folge von Marktversagen. Das betrifft nicht nur medizinische und staatliche Leistungen, sondern auch Grundversorgung, Gaststätten und so weiter. Und selbst da gibt’s inzwischen Debatten, ob dieses Marktversagen nicht durch staatliches Handeln kompensiert werden muss.«
Die Debatte wird auch am Rheinufer geführt. Koblenz hat seinen öffentlichen Nahverkehr bereits in kommunale Hand zurückgeholt. Bad Kreuznach auch. Der Kreis Mainz-Bingen will nachziehen. Die Insolvenz von ansässigen privaten Busunternehmen war ein Warnsignal für die Region. Denn was bringen Debatten über Nachhaltigkeit, Individualverkehr und Landflucht, wenn das einzige Busunternehmen, das die Vorstadt mit dem Zentrum verbindet, auf einmal Insolvenz anmeldet und einknickt? Wie kommen die Kids dann zur Schule? Öffentlicher Nahverkehr gehört ebenso zur Grundversorgung, wie Warmwasser oder Schulbildung.
Erst Ende 2020 übernahm die Stadt die Koblenzer Verkehrsbetriebe (koveb) – zu einer Zeit, in der die Verkehrsbetriebe pandemiebedingt kaum ausgelastet waren. Statt Sparkurs, Linienschließungen und Stellenabbau werden in Koblenz nun aber fünfzig neue Busfahrerinnen und Fahrer eingestellt. Außerdem wird der Fahrplan erweitert. Kritikerinnen und Kritiker fragen, wie sich das rechnen soll. Diese Zwischenrufe bestätigen, wie absurd die Diskussion um eine private Organisation der Grundversorgung ist. Öffentliche Krankenhäuser, Entsorgungsunternehmen und Verkehrsbetriebe können natürlich Gewinne abwerfen. Aber wenn sie es nicht tun, stehen sie nicht unmittelbar vor dem Ende und die Versorgung bleibt gesichert. Ob sie sich rechnet oder nicht.
Eine Grundversorgung und Daseinsvorsorge, die für alle gilt und zugänglich ist, liegt noch in weiter Ferne. Aber an vielen Orten wächst der Widerstand. Bei der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. Enteignen sprechen sich zehntausende Menschen dafür aus, dass ein Dach über dem Kopf kein Spekulationsobjekt, sondern ein Grundbedürfnis ist. Die Scheinwerfer mögen nicht auf den Ilm-Kreis, das Klinikum Peine oder Koblenz gerichtet sein. Aber auch hier entscheiden Bürgerinnen und Bürger, Kommunen und ihre Politiker und Politikerinnen, dass Wohnraum, Müllentsorgung, Gesundheitsversorgung, öffentlicher Nahverkehr, Kinderbetreuung oder Wasserversorgung nicht dem Markt überlassen werden dürfen.
Die Einzelbeispiele mögen wie verschwindend kleine Schritte auf dem Weg zu einem fernen Ziel wirken, aber all die Bürgerinitiativen, Volksentscheide und Kampagnen zeigen, dass der Kampf quer durch die Republik aufgenommen wird. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Menschen sich keine Sorgen um ihren Zugang zu lebensnotwendigen und Dienstleistungen machen wollen. Sie wollen auch mitbestimmen, wenn es um ihre Grundversorgung geht: All die Versorgungsunternehmen und Betriebe, die wieder in öffentliche Hand wandern, sind keine zufälligen Erscheinungen, sondern Zeichen der Zeit. Sie zeugen davon, dass die Tage des scheinbar alternativlosen Kapitalistischen Realismus – um es mit Mark Fishers Worten zu sagen – gezählt sind. Viele Menschen in Peine, Koblenz, dem Ilm-Kreis und an zahllosen anderen Orten haben erfahren, dass der Markt ihre Grundbedürfnisse eben nicht regelt – und daraus die richtigen Schlüsse gezogen. Die Rückeroberung ist schon im Gange.