ABO
Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

06. Dezember 2025

Janine Wissler: Wir stützen nicht die Regierung, wir stützen die Rente

Die Linksfraktion hat sich mit der Enthaltung beim Rentenpaket nicht zur »Erfüllungsgehilfin« der Regierung gemacht. Sie hat ihr Versprechen gehalten, dass kein Gesetz, das das Leben der Menschen erleichtert, an der Linken scheitern wird. Eine Replik.

Janine Wissler spricht bei der Plenarsitzung im Bundestag, 5. Dezember 2025.

Janine Wissler spricht bei der Plenarsitzung im Bundestag, 5. Dezember 2025.

IMAGO / Andreas Gora

Im Bundestagswahlkampf verteilte Die Linke wie immer ein Kurzwahlprogramm. Es endete mit einem Versprechen: »Wir werden keinem Gesetz zustimmen, das dich ärmer macht.« Im Umkehrschluss heißt das, dass wir kein Gesetz verhindern, dessen Scheitern dich ärmer macht.

Im Oktober hat Die Linke dem Paketboten-Schutz-Gesetz der Bundesregierung und der Entfristung der darin enthaltenen Regelungen zugestimmt. Dieses Gesetz reicht nicht ansatzweise aus, um die Arbeitsbedingungen in der Paketbranche zu verbessern, es enthält aber einige sinnvolle Regelungen. Nun hat die breite Öffentlichkeit abseits der direkt Betroffenen von diesem Gesetz nicht allzu viel mitbekommen, weil es ohne viel Berichterstattung, zu später Stunde und mit breiter Mehrheit verabschiedet wurde. Wäre jemand auf die Idee gekommen, der Linken vorzuwerfen, dass wir der Bundesregierung einen Gefallen tun und die schwarz-rote Koalition stützen, weil wir einem Gesetz zustimmen, das das Leben von Paketzustellern etwas erleichtert? Wohl kaum.

Genauso sind wir an das Rentenpaket rangegangen. Wir haben den Inhalt geprüft, als es ins Parlament eingebracht wurde, und das war lange bevor der Streit in der Union öffentlich entbrannte und die Mehrheit im Parlament für das Gesetz infrage stand. Für uns war die entscheidende Frage beim Rentenpaket die gleiche wie beim Paketboten-Schutz-Gesetz: Trägt es dazu bei, Lebensbedingungen zu verbessern oder nicht? Werden Millionen heutige und zukünftige Rentnerinnen und Rentner dadurch ärmer oder nicht?

»Die Auseinandersetzung verläuft nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen oben und unten.«

Viele haben in den letzten Tagen gefragt: Warum enthält sich Die Linke beim Rentenpaket? Habt ihr damit nicht Merz geholfen? In einem Artikel von Jonas Thiel in Jacobin wurde Die Linke aufgrund der Enthaltung sogar als »Erfüllungsgehilfe« der Bundesregierung bezeichnet. Ich halte das für eine falsche Herangehensweise.

Kein Generationen-, sondern ein Verteilungskonflikt

Die Junge Union, Arbeitgeberverbände und neoliberale Ökonomen haben wochenlang gegen das Rentenpaket getrommelt. Es sei zu teuer und gehe zulasten der Jüngeren. Die Geschichte kennt man: Immer weniger Junge müssten immer mehr Alte »durchfüttern«, das sei nicht gerecht, also müssten die Renten gekürzt und das Rentenalter erhöht werden. Das ist Quatsch. Die Auseinandersetzung verläuft nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen oben und unten. Die Junge Union ist nicht Anwältin der jungen Beschäftigten, sondern Anwältin der Arbeitgeber, die sich aus der Finanzierung der Rente herausstehlen wollen. Es geht nicht darum, ob die 25-Jährige der 70-Jährigen etwas »gönnt«, sondern darum, wie viel von der erarbeiteten Wertschöpfung in Löhnen und Renten landet – und wie viel als Profit abgeschöpft wird.

Beim Rentenpaket I geht es im Kern um zwei Punkte: die Stabilisierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent und die Ausweitung der Mütterrente. Beides sind kleine Schritte, die Altersarmut nicht wirksam bekämpfen und das Rentensystem zukunftssicher machen. Das Rentenniveau müsste deutlich höher liegen. Die Absenkung von 53 auf 48 Prozent, durchgesetzt unter Rot-Grün, war ein Fehler, den heute viele mit zu niedrigen Renten bezahlen. Die Linke will das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent anheben und eine solidarische Erwerbstätigenversicherung, in die alle einzahlen – auch Beamte, Abgeordnete und Selbstständige. Davon ist die aktuelle Reform weit entfernt. Deshalb haben wir dem Gesetz nicht zugestimmt.

»Wenn die neoliberale Kampagne erfolgreich gewesen wäre, wäre die Verteidigung sozialer Rechte noch schwieriger.« 

Trotz dieser grundsätzlichen Kritik halten wir die Stabilisierung des Rentenniveaus auf 48 Prozent für notwendig, um ein weiteres Abrutschen zu verhindern. Denn das würde Altersarmut verschärfen – besonders für Frauen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien. Auch die Ausweitung der Mütterrente ist kein großer Wurf, verbessert aber die Lage für viele konkret und schließt eine Gerechtigkeitslücke. Für Menschen, die in Armut leben, sind 20 Euro mehr im Monat keine technische Kleinigkeit, sondern der Unterschied, ob am Monatsende noch ein Einkauf drin ist oder nicht.

Deshalb haben wir das Gesetz nicht abgelehnt, sondern haben uns enthalten, damit die Stabilisierung des Rentenniveaus nicht scheitert. Wenn die neoliberale Kampagne erfolgreich gewesen wäre, wäre die Verteidigung sozialer Rechte noch schwieriger.

Kein Gesetz, das real hilft, darf an der Linken scheitern

Entscheidungen im Bundestag haben direkte Folgen. Hier geht es um die Frage, ob Menschen im Alter die Heizung aufdrehen oder in kalten Wohnungen frieren, ob sie ihre Enkel zum Eis einladen können oder ob sie Flaschen sammeln müssen, um die Miete zu zahlen. Vor diesem Hintergrund gibt es eine einfache Richtschnur: Kein Gesetz, das das Leben der Menschen real verbessert – auch wenn es nur ein kleiner Schritt ist – darf an uns scheitern.

So sind wir beim Mindestlohn verfahren. Der gesetzliche Mindestlohn war und ist zu niedrig und schützt nicht zuverlässig vor Armut. Trotzdem wäre es absurd gewesen, seine Einführung deshalb abzulehnen. Ja, er reicht nicht – aber der Mindestlohn und jede Erhöhung helfen Millionen konkret, die vorher deutlich weniger hatten. Genauso ist es bei der Rente. Die Linke will das Rentenniveau deutlich erhöhen und das System umbauen. Aber sie kann niemandem erklären, warum sie ein Gesetz zu Fall bringen will, das zumindest verhindert, dass die Renten weiter sinken. Sie kann nicht erklären, warum ihre Stimmen dazu beitragen sollten, dass es (zukünftigen) Rentnerinnen und Rentnern schlechter geht.

Auch die öffentliche Stimmung spricht eine klare Sprache: Fast drei Viertel der Bevölkerung befürworten die Haltelinie, allen voran die Erwerbstätigen, und bei den Wählerinnen und Wählern der Linken sind es sogar etwa 80 Prozent. Die Angst vor Altersarmut ist groß, und sie ist berechtigt. Deshalb lehnt Die Linke das Rentenpaket nicht ab. Sie enthält sich, damit die Stabilisierung des Rentenniveaus keinesfalls an ihr scheitert. Und diese Entscheidung ist unabhängig davon, ob die Regierung ihre eigene Mehrheit zusammenbekommt oder nicht.

Unabhängigkeit heißt, nach Inhalten zu entscheiden

Der zentrale Vorwurf lautet nun: Mit dieser Enthaltung mache sich Die Linke zur Mehrheitsbeschafferin für eine schwarz-rote Regierung. Sie verliere ihre Unabhängigkeit, wenn sie ein Gesetz nicht ablehnt, das nicht aus ihrer eigenen Feder stammt. Das klingt radikal, ist aber inhaltlich schwach. Damit verheddert man sich in einer Parlamentslogik, die die Auswirkungen auf das reale Leben von Menschen ausblendet und aus dem Blick verliert. Wäre eine linke Partei wirklich dann am unabhängigsten, wenn sie grundsätzlich gegen alle Vorlagen stimmt, die nicht von ihr kommen? Oder nicht eher dann, wenn sie jede Vorlage daran misst, ob sie den Status quo verbessert, ob sie soziale Rechte stärkt oder schwächt?

Jonas Thiel beruft sich auf einen Artikel des US-amerikanischen Marxisten Hal Draper, der vor der Politik des »kleineren Übels« warnt. Seine Ausführungen im Kontext der Abstimmung zum Rentenpaket anzuführen, halte ich allerdings für irreführend. In seinem Artikel von 1967 geht es um die Frage, ob sich Linke auf die Seite der Kandidaten der Demokraten schlagen sollen, um einen Republikaner als vermeintlich größeres Übel zu verhindern. Dabei zieht er Parallelen zu Deutschland 1932, als die SPD Hindenburg unterstützte, um Hitler zu verhindern, was bekanntermaßen damit endete, dass das vermeintlich »kleinere Übel« dem größeren an die Macht verholfen hat.

Draper kommt darüber hinaus zu dem Schluss, dass sich auch das »kleinere Übel« als schlimmer entpuppen kann, als das, was man verhindern wollte, und führt die Kriegsführung des Demokraten Johnson in Vietnam an. Aus deutscher Perspektive kann man anfügen, dass es ein Kanzler der SPD war, der mit der Agenda 2010 den größten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik durchsetzte – woran ein Konservativer aufgrund der großen Gegenwehr möglicherweise gescheitert wäre.

»Wenn wir für einen Mindestlohn, die Abschaffung von Studiengebühren oder mehr Mittel für Soziales stimmen, tun wir das, weil wir das für richtig halten und nicht aufgrund irgendwelcher parlamentarischer Tauschgeschäfte und Deals.« 

Die Ablehnung einer Politik des »kleineren Übels« heißt aber nicht, dass man in einer konkreten Sachfrage einen Schritt in die richtige Richtung nicht blockiert. Hinzu kommt: Die Stabilisierung des Rentenniveaus und eine steuerfinanzierte Mütterrente sind Bestandteil des linken Wahlprogramms. Es wäre kaum glaubwürdig, gegen Maßnahmen zu stimmen, die den eigenen programmatischen Forderungen entsprechen, weil eine Regierung sie in unzureichender Form aufgreift.

Der Vorwurf, dass wir einer Regierung ohne »eine Gegenleistung« zu einer Mehrheit verhelfen würden, ist schräg – und bringt uns in gefährliches Fahrwasser. Wenn wir für einen Mindestlohn, die Abschaffung von Studiengebühren oder mehr Mittel für Soziales stimmen, tun wir das, weil wir das für richtig halten und nicht aufgrund irgendwelcher parlamentarischer Tauschgeschäfte und Deals. Wenn man damit anfängt, seine Zustimmung zu sinnvollen Gesetzen von »Gegenleistungen« abhängig zu machen, dann ist der Weg nicht mehr weit, dass man auch irgendwann schlechten Gesetzen zustimmt, weil man dafür etwas »bekommt«.

Auf diese Logik sollten wir uns nicht einlassen. Unser Handeln in Parlamenten sollte sich an unserem Programm ausrichten, darauf, das Kräfteverhältnis zugunsten der arbeitenden Klasse zu verändern und das Leben der Menschen zu verbessern.

Verantwortung gegenüber den Betroffenen, nicht gegenüber der Taktik

Die Linke bleibt dabei: Das heutige Rentenniveau ist zu niedrig. Die Absenkung von 53 auf 48 Prozent war ein politischer Fehler. Eine solidarische Rentenversicherung, in die alle Erwerbstätigen einzahlen, bleibt das Ziel. Doch gerade weil die Lage ernst ist, kann sie es sich nicht leisten, Opposition mit Symbolik zu verwechseln. Eine linke Partei wird nicht dadurch glaubwürdig, dass sie jedes unzureichende Gesetz grundsätzlich ablehnt. Sie wird glaubwürdig, wenn sie für grundsätzliche Veränderungen kämpft – und gleichzeitig verhindert, dass es den Menschen hier und heute noch schlechter geht.

Die Linke kann den Menschen nicht erklären, dass sie ihre Rente bewusst aufs Spiel setzt, damit eine Regierung schlecht aussieht. Sie kann ihnen aber erklären, warum sie ein Gesetz nicht ablehnt, das eine weitere Verschlechterung verhindert, obwohl es nicht weit genug geht.

Wir stützen nicht die Regierung. Wir stützen die Rente, so unzureichend dieser eine Schritt auch ist. Bei der Abstimmung ging es nicht um Merz, Spahn und die Berliner Polit-Bubble, sondern um Millionen Menschen im Land, die auf jeden Euro angewiesen sind. Ihnen sind wir verpflichtet. Genau deshalb geben wir unser Wahlversprechen nicht auf, sondern nehmen es ernst: Wir werden keinem Gesetz zustimmen, das dich ärmer macht. Und wir werden kein Gesetz zu Fall bringen, dessen Scheitern dich ärmer macht.

Janine Wissler ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag.