25. September 2023
Die Proteste in Frankreich diesen Sommer waren eine Revolte gegen Polizeigewalt und Racial Profiling. Für die linke Abgeordnete Danièle Obono ist es höchste Zeit, dass man gegen den strukturellen Rassismus aufbegehrt.
Danièle Obono auf einer Kundgebung des linken Bündnisses NUPES im März 2023.
IMAGO / Le PictoriumIn Frankreich kam es in diesen Sommer zu Riots und Protesten, nachdem die Polizei den siebzehnjährigen Nahel Merzouk in einem Arbeiterviertel des Pariser Vororts Nanterre erschossen hatte. Ein weit verbreitetes Video zeigte, wie ein Polizist den französisch-algerischen Teenager bei einer Verkehrskontrolle aus nächster Nähe erschoss. Die Tragödie war der jüngste Fall von Polizeibrutalität in Frankreich – und insbesondere von übermäßiger Gewaltanwendung gegen junge nicht-weiße Männer.
Während der Mord zunächst eine Diskussion über polizeiliche Überwachung und rassistische Kontrollen auslöste, verlagerte sich die Aufmerksamkeit der nationalen Medien schnell auf die Unruhen, bei denen es auf den Straßen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Ordnungskräften und jungen Menschen kam. In Marseille starb ein 27-Jähriger kurz nachdem er von einer durch die Polizei abgefeuerten Kugel getroffen worden war, und ein 22-Jähriger erlitt einen Schädelbruch durch zwei Polizisten.
Nachdem die Staatsanwaltschaft im letztgenannten Fall ein Ermittlungsverfahren einleitete und einen Beamten wegen des Verdachts auf kriminelle Handlungen festnehmen ließ, gingen die Polizeigewerkschaften in die Offensive, forderten die Freilassung ihres Kollegen und riefen aus Protest zu einer inoffiziellen Arbeitsniederlegung auf. Unter Missachtung des Gesetzes und der bestehenden Gerichtsverfahren erklärte der französische Polizeichef daraufhin, dass Polizeibeamte, von seltenen Ausnahmen abgesehen, »nicht ins Gefängnis gehören«. Der Innenminister und Hardliner Gérald Darmanin unterstrich seine Unterstützung für diese Äußerungen – und versprach, die Forderungen der Polizei zu berücksichtigen.
Über dieses alarmierende Klima sprach JACOBIN mit Danièle Obono, die seit 2017 für La France Insoumise in der Nationalversammlung sitzt. Obono vertritt einen Bezirk im Nordosten von Paris und ist auch Mitglied des Rechtsausschusses des Parlaments, der für die Polizei zuständig ist. Sie sprach über Rassismus, Polizeibrutalität und die Mittel dagegen.
Gibt es ein Problem mit strukturellem Rassismus bei der französischen Polizei?
Ja, es gibt strukturellen Rassismus in Frankreich, in der französischen Gesellschaft und in ihren Institutionen, vor allem in der Polizei, die eine besondere Geschichte hat. In dieser Geschichte spielt insbesondere die Beziehung zu bestimmten Bevölkerungsgruppen eine Rolle, die mit der kolonialen und postkolonialen Erfahrung zusammenhängt. Außerdem gibt es eine zunehmende Tendenz unter verschiedenen Regierungen, die Polizei als Instrument der sozialen und politischen Unterdrückung einzusetzen. Dies verschärft die bereits bestehenden Tendenzen dieser Institution, exzessiv Gewalt anzuwenden und die Rechtsstaatlichkeit zu missachten. Das gilt in besonderem Maße für ihr Verhalten gegenüber diskriminierten Gruppen.
In den letzten Monaten haben wir Revolten erlebt, die mit dem Mord an einem jungen Mann nach einer Verkehrskontrolle begannen. Dieser Fall reiht sich ein in eine Serie von Todesfällen junger, nicht-weißer Männer, die bei Konfrontationen mit der Polizei ums Leben kamen, vor allem weil sie sich angeblich weigerten, einer polizeilichen Anordnung Folge zu leisten. In Frankreich gab es in diesem Zusammenhang bereits mehrere Todesfälle. Das ist nicht nur ein Einzelfall. Es handelt sich um ein System. Das hängt auch mit einem Gesetz zusammen, das am Ende der Präsidentschaft von François Hollande verabschiedet wurde. Wie Studien zeigen, hat dieses Gesetz zur Folge, dass Polizistinnen und Polizisten, wenn sie sich bedroht fühlen, vermehrt Schusswaffen einsetzen.
»Ich denke, dass Riots eine Form der politischen Aktion sind. Am Bastille-Tag habe ich getwittert: ›Heute feiern wir den erfolgreichsten Riot in der politischen Geschichte unseres Landes.‹«
All diese Elemente erklären diese extremen Spannungen im Land sowie die Tatsache, dass die Polizei und der Polizeichef fast nach Belieben handeln. Diese Angelegenheit hat im Ausland nicht so viel Aufmerksamkeit erregt, aber es ist äußerst bedenklich, wenn der Generaldirektor der nationalen Polizei sagt, dass die Polizei im Grunde über dem Gesetz stehen sollte und dass sie sich bestimmten rechtlichen Verfahren nicht unterziehen muss.
Das ist vielleicht nur eine Frage der Semantik. Aber ich habe das Wort »Riot« verwendet und Du hast »Revolte« gesagt. Ist diese Unterscheidung wichtig?
Ich denke, dass Riots eine Form der politischen Aktion sind. Ich habe am Bastille-Tag getwittert: »Heute feiern wir den erfolgreichsten Riot in der politischen Geschichte unseres Landes.« Das ist eine Grundlage unserer Republik und unserer Institutionen. Ich wollte auch aufzeigen, wie diejenigen sich in Widersprüche verstricken, die den Bastille-Tag mit einem sehr rechten, nationalistischen Diskurs feiern und dabei vergessen, dass es sich um einen Riot handelte, bei dem öffentliche Gebäude zerstört wurden. Doch so wurde unser Land begründet. Diejenigen, die sich auflehnen, folgen also einer langen französischen Tradition. Sie sind keineswegs »auf ihre ethnischen Ursprünge zurückgeworfen«, wie Bruno Retailleau [der Chef der rechten Fraktion Les Républicains im Senat] sagte.
Aber es stimmt, wir haben beschlossen, von »Revolten« zu sprechen, da die Verwendung des Begriffs »Riot« im aktuellen politischen und medialen Diskurs verunglimpfend und entpolitisierend ist. Wir sprechen von Revolten, um zu unterstreichen, dass es sich um ein politisches Phänomen handelt und dass wir uns in einem politischen Moment befinden.
Ich persönlich bin der Meinung, dass Riots politisch sind und dass wir sie als eine Aktionsform mit einer populären Geschichte verteidigen sollten.
Wie Du erwähntest, hat sich der Polizeichef auf die Seite der Polizeigewerkschaften gestellt, die behaupten, dass Polizistinnen und Polizisten »nicht ins Gefängnis gehören«. Radikalisieren sich derzeit die Polizei und ihre Gewerkschaften?
Ja. Ich gehöre dem Rechtsausschuss an und wir beschäftigen uns dort mit der Frage der Polizei. Wir haben im Juli eine Anhörung mit den Generalinspektoren der Gendarmerie und der nationalen Polizei durchgeführt. Ich habe eine Notiz erhalten, aus der hervorgeht, dass die Zahl der Sanktionen wegen unangemessenen Verhaltens seit den Gelbwesten-Protesten drastisch zurückgegangen ist. Dieser Trend lässt sich politisch erklären: Die Behörden brauchten die Polizei, und zur Zeit der Gelbwesten war die Polizei die einzige Unterstützung, die ihnen noch blieb. Das war ein Wendepunkt im Lager Macrons – um es ganz offen zu sagen: Sie haben der Polizei freie Hand gelassen.
Es gibt die spezifische Frage der Polizeigewalt und die spezifische Frage des strukturellen Rassismus. Aber es gibt auch die allgemeinere Frage nach der Polizei an sich. Umfragen zeigen, dass ein großer Teil der Polizeikräfte für die extreme Rechte stimmt. Ihre Gewerkschaftsorganisationen sind ebenfalls rechtsextrem und befördern einen Diskurs, der über die Verteidigung ihrer Partikularinteressen hinausgeht.
»Die politische Führung fürchtet sich vor der Institution der Polizei, weil sie von ihr abhängig ist und ohne sie zusammenbrechen würde.«
2021 organisierten sie eine Kundgebung zur Unterstützung von Kollegen, die im Dienst angegriffen worden waren. Sie protestierten vor der Nationalversammlung und riefen im Wesentlichen dazu auf, mit der Verfassung zu brechen. Auf der Kundgebung sagte der Vorsitzende einer Polizeigewerkschaft: »Das Problem der Polizei ist das Justizsystem.« Das ist eine aufrührerische Äußerung über unsere Institutionen. Und dennoch war unter anderem der Innenminister anwesend, um seine Unterstützung zu bekunden.
Wir beobachten auch, wie sich die Polizei in Bezug auf die bestehenden Leitplanken und Richtlinien zunehmend autonom macht. Zugleich fürchtet sich die politische Führung vor dieser Institution, weil sie von ihr abhängig ist und ohne sie zusammenbrechen würde. Nur die Gewalt der Polizei hat es ihr erlaubt, soziale Bewegungen zu unterdrücken. Sie hat nichts anderes mehr, was sie gegen die Anfechtung ihrer Politik schützen könnte.
All dies zeigt den Zustand der Institutionen der Fünften Republik: den fortgeschrittenen Verfall dieser Institutionen und auch die faschistische Gefahr. Es gibt einen großartigen Artikel von Frédéric Lordon über die »Polizeirepublik« und das Abdriften in den Faschismus. Ich denke, wir müssen diese Gefahr sehr ernst nehmen, wir sehen ein Symptom dieses Prozesses.
Sie sprechen über zwei verschiedene, aber miteinander verbundene Dinge: die Frage der Polizeigewalt und den Rassismus innerhalb der Polizei. Was sollte getan werden, um diese Probleme zu bekämpfen?
Bevor ich darauf antworte, möchte ich erstmal hervorheben, was wir bereits getan haben. Zunächst einmal haben wir die Dinge beim Namen genannt. Letztes Jahr wurde Jean-Luc Mélenchon heftig kritisiert, weil er sagte: »Die Polizei tötet.« Das ist natürlich wahr, aber es war politisch bedeutsam. Der Gedanke ist, dass wir dieser Institution eine äußerst bedeutsame Macht gegeben haben – die Macht, zu töten. Aber unter welchen Bedingungen? Und halten sie sich an das Gesetz? Es scheint, dass dies oftmals nicht der Fall ist. Diese Feststellung hilft zu erkennen, dass es bei der Polizei Funktionsstörungen gibt – ein Problem der Befehlsgebung, ein Problem des Verhaltens, ein Problem des Rassismus.
Aber es geht nicht nur darum, was wir sagen, sondern auch darum, dass wir an der Seite der Menschen stehen, die leiden. Wir haben an Demonstrationen zur Unterstützung der Familien von Opfern von Polizeigewalt teilgenommen – sei es das Comité Adama oder das Kollektiv Vies Volées – und heute ist selbst das in Frankreich nicht so einfach. Wir wurden daran gehindert, zu protestieren und unser Recht auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen. Während der Revolten und Riots haben wir daran mitgearbeitet, eine breite Koalition mit mehr als hundert Organisationen aufzubauen. Das ist ziemlich beispiellos, denn es umfasst sowohl traditionelle Organisationen der sozialen Bewegung – die ziemlich weiß sind, um es grob auszudrücken – als auch Kollektive der Familien der Opfer, die überwiegend aus nicht-weißen Menschen bestehen.
»Wir stehen an der Seite der Menschen, die für ihre Rechte und ihr Leben kämpfen.«
Wir waren in der Lage, dies zu tun, und wir hatten auch die Glaubwürdigkeit, dies zu tun, weil wir zuvor diese Position bezogen hatten. Wir hatten uns stark gemacht und gesagt: »Polizeigewalt existiert.« Wir stehen an der Seite der Menschen, die für ihre Rechte und ihr Leben kämpfen – denn für diejenigen, die das Ziel dieser Praktiken sind, geht es um Leben und Tod.
Das Bündnis fordert auch, das Gesetz von 2017 aufzuheben, das die Rechtsgrundlage für die Anwendung tödlicher Gewalt durch die Polizei erweitert hat. Aber was ist mit anderen Forderungen, wie die polizeilichen Ausweiskontrollen abzuschaffen, die unverhältnismäßig viele nicht-weiße Menschen betreffen?
In der letzten Sitzung der Nationalversammlung haben wir einen Gesetzentwurf eingebracht, der Quittungen für Ausweiskontrollen zulässt. Es handelt sich nicht um ein Verbot solcher Kontrollen. Doch auch das ist eine Forderung, die seit Jahren von Betroffenengruppen erhoben wird und bis auf die Zeit von François Hollande zurückgeht. Dies war einer der Vorschläge, die er angekündigt hatte, aber nach seiner Amtszeit nie umgesetzt hat. Es ist eine Forderung, die von den Menschen kommt, die am meisten betroffen sind.
Wir befürworten auch die Idee, mit Zonen ohne Ausweiskontrollen zu experimentieren. Die Frage ist doch: Was bezwecken Ausweiskontrollen? Warum führen wir Ausweiskontrollen durch, und sollten sie nicht eher die Ausnahme als die Regel sein? Rechtlich gesehen sollten sie die Ausnahme sein, aber sie sind für bestimmte Beamte in bestimmten Vierteln zur Regel geworden. Und das ist ein Problem.
Wenn Quittungen für Ausweiskontrollen ausgegeben werden müssen, dann können wir diese Praxis besser zu überwachen. Dort, wo dieses Instrument probiert wurde, wie in Spanien, hat sich gezeigt, dass die polizeilichen Ermittlungen dadurch verbessert und Spannungen zwischen Polizei und Bevölkerung abgebaut wurden.
Ist die französische Linke repräsentativ genug für die Bevölkerung, die sie zu verteidigen vorgibt?
Unserer Fraktion gehören neun der zwölf Abgeordneten an, die im Departement Seine-Saint-Denis [das die nordöstlichen Vororte von Paris umfasst] gewählt wurden. Wir vertreten also die Bevölkerungsgruppen, die von diesen Missständen betroffen sind.
Aber das eigentliche Problem ist, dass die offizielle, institutionelle Linke in Frankreich, wie in vielen Ländern, insgesamt eine hauptsächlich weiße und männliche Linke ist sowie aus der Mittel- bis Oberschicht stammt. Es besteht eine Kluft zwischen den Menschen, die von diesen Fragen betroffen sind, und denjenigen, die sie vertreten. Dennoch haben sich die Dinge etwas weiterentwickelt. Ich bin nicht mehr eines von wenigen schwarzen Mitgliedern unserer Fraktion, sondern wir sind einige mehr geworden.
»Wir können als Bewegung nicht die Arbeiterklasse vertreten, wenn diejenigen, die das Wort ergreifen und Machtpositionen innehaben, im Wesentlichen weiße Menschen aus der Mittelschicht sind.«
Das ist nicht nur ein Problem der politischen oder elektoralen Linken. Wenn man sich die Gewerkschaften anschaut, sind sie auch nicht sehr repräsentativ für die Arbeiterbewegung im weitesten Sinne, die heute extrem multikulturell ist. Wenn man sich die großen NGOs ansieht, sind sie sehr, sehr weiß. Es gibt eine Reihe von Barrieren in Bezug auf die Repräsentation.
Das ist etwas, woran wir auch gearbeitet haben. Wir können als Bewegung nicht die Arbeiterklasse vertreten, wenn diejenigen, die das Wort ergreifen und Machtpositionen innehaben, im Wesentlichen weiße Menschen aus der Mittelschicht sind. Wir müssen daran arbeiten, eine Bewegung aufzubauen, die den Menschen nützt, die sich engagieren wollen. Das ist unser Ziel. Wir wollen La France Insoumise und die [linke Koalition] NUPES mit diesem Ziel weiter aufbauen.
Eines der Dinge, die ich sehr gut finde, ist das Ausbildungsprogramm des Institut La Boétie [eines Think Tanks, der mit La France Insoumise verbunden ist]. Bei der Rekrutierung haben wir versucht, bestimmte Verzerrungen zu korrigieren: geografische Ungleichgewichte, Geschlechterparität, aber auch sozioökonomische Kategorien. Wir wollten sicherstellen, dass die Teilnehmenden etwas repräsentativer für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind – auch wenn wir von Perfektion noch weit entfernt sind – und die verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründe widerspiegeln.
Dies ist eine bewusste Anstrengung, die wir unternehmen. Das bedeutet nicht, dass wir Quoten vorschreiben, denn das ist nicht unsere Art zu denken. Das Ziel ist es, dass Menschen in die Führungspositionen dieser Bewegung kommen, die das Land besser repräsentieren. Ich denke, das ist ein gutes Beispiel für unsere Versuche, strukturellen Rassismus und Diskriminierung zu korrigieren, die viele davon abhalten, sich zu engagieren und zu politischen Führungspersönlichkeiten zu werden.
Danièle Obono ist Abgeordnete in der französischen Nationalversammlung für La France Insoumise.