02. Dezember 2024
Die Sozialdemokraten stellen den gescheiterten Olaf Scholz erneut als Kanzlerkandidat auf. Ihre Entscheidung zeigt vor allem eins: dass die Parteiführung lieber das Risiko eines Wahldesasters eingeht, als sozialdemokratische Politik zu machen.
Olaf Scholz während der Ankündigung seiner Kanzlerkandidatur im Willy-Brandt-Haus, Berlin, 25. November 2024.
Die erneute Nominierung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten der SPD verdeutlicht den anhaltenden Rechtsruck der Partei. Trotz wachsender innerparteilicher Kritik und sinkender Umfragewerte hält die SPD-Führung an ihrem neoliberalen Kurs fest, der sich durch eine weitgehende Anpassung an marktwirtschaftliche Prinzipien und eine zurückhaltende soziale Reformpolitik auszeichnet. Diese Entscheidung signalisiert, dass die Parteispitze weiterhin auf Kontinuität und Stabilität setzt, anstatt eine grundlegende Neuausrichtung hin zu einer stärker sozialdemokratisch geprägten Politik anzustreben.
Die SPD-Führung ignoriert damit die Kritik der Basis, die sich einen Linkskurs wünscht. Viele Parteimitglieder und Wählerinnen und Wähler beklagen, dass sich die Partei zu weit von ihren sozialdemokratischen Wurzeln entfernt hat und fordern eine Rückbesinnung auf klassische linke Positionen. Die Parteiführung scheint diese Stimmen jedoch weitgehend zu überhören und setzt stattdessen auf einen moderaten, wirtschaftsfreundlichen Kurs.
Dies führt zu Frustration und vertieft die Kluft zwischen Parteiführung und Basis. Besonders deutlich wird dies in der Diskussion um die erneute Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz, die von vielen als Fortsetzung des bisherigen Rechtskurses interpretiert wird. Die mangelnde Berücksichtigung linker Forderungen könnte die SPD weiter Wählerstimmen und Glaubwürdigkeit kosten.
Die Ampel-Koalition hat unter der Führung von Olaf Scholz zentrale soziale Reformvorhaben nur halbherzig umgesetzt, während gleichzeitig Unternehmensinteressen und marktliberale Konzepte Vorrang genießen. In seiner Regierungserklärung im Oktober 2024 forderte Scholz beispielsweise eine wirtschaftsfreundliche Politik und betonte die Notwendigkeit der Modernisierung. Dies ähnelt eher der Politik der Agenda-Jahre als klassischen sozialdemokratischen Positionen.
Lange Zeit wurde Lindners Kurs als Finanzminister von Olaf Scholz gestützt. Dieser setzte den Fokus auf Haushaltskonsolidierung und die Einhaltung der Schuldenbremse. Von der öffentlichen Debatte einerseits und der FDP andererseits getrieben, ließen Scholz und Arbeits- und Sozialminister Heil zu, dass das Bürgergeld wieder mit verschärften Regeln sanktioniert wurde.
»In der SPD gibt es eine Sehnsucht nach Erlöserfiguren.«
Rentenkürzungen lehnt Scholz zwar ab, es fehlen jedoch weitreichende Initiativen zur Frage, wie die Renten künftig steigen könnten, um Altersarmut einzudämmen oder zu beseitigen.
Dies manifestiert sich beispielsweise in einer zurückhaltenden Mindestlohnerhöhung, unzureichenden Maßnahmen zur Bekämpfung von Altersarmut und einer Steuerpolitik, die Großunternehmen und Vermögende weiterhin begünstigt.
Die Energiewende und Klimaschutzmaßnahmen werden vorrangig unter Aspekten der Wirtschaftlichkeit betrachtet, während soziale Abfederungen und gerechte Übergangslösungen für einkommensschwache Gruppen nur am Rande berücksichtigt werden.
Die Außenpolitik unter Scholz ist spätestens seit der russischen Invasion in die Ukraine geprägt von einer deutlichen Hinwendung zu NATO-Positionen und einer verstärkten Militarisierung. Mit der Ankündigung erheblicher Aufrüstungsmittel durch ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und einer Steigerung der Verteidigungsausgaben vollzog Scholz eine markante Abkehr von der traditionellen deutschen Zurückhaltung in Militärfragen. Gleichzeitig zeigt sich in der Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine eine konsequente Unterstützung westlicher Bündnisinteressen. Die bisherige Zurückhaltung bei der Diskussion über Taurus-Marschflugkörper verdeutlicht indes eine gewisse Vorsicht, möglicherweise motiviert durch die Sorge vor einer weiteren Eskalation des Konflikts und einer möglichen direkten militärischen Konfrontation mit Russland. Wer heute an die ehemalige Friedenspartei SPD der Ära Willy Brandts erinnert, wird inzwischen als Ewiggestriger diffamiert.
Die beiden derzeitigen SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken stützen die erneute Kandidatur von Scholz. Beide waren auch für das Zustandekommen seiner ersten Kandidatur mitverantwortlich. Man sitzt gemeinsam im selben Boot auf stürmischem See. Lars Klingbeil verfolgt mit seinem Festhalten an Olaf Scholz als Kanzlerkandidat eine Strategie, die sowohl auf seine eigene Position in der SPD als auch seine zukünftigen Karrierechancen ausgerichtet ist. Zunächst geht es ihm darum, seinen Machterhalt in der Partei zu sichern und zu verhindern, dass potenzielle Konkurrenten wie Boris Pistorius an ihm vorbeiziehen. Gleichzeitig spekuliert Klingbeil möglicherweise auf eine bedeutende Rolle in einer künftigen Regierung, sei es unter Scholz oder sogar in einer möglichen Koalition unter Friedrich Merz, wo er die Chance auf das Amt des Vizekanzlers und Ministers hätte. Letztlich versucht Klingbeil durch seine öffentliche Unterstützung für Scholz, die SPD geschlossen zu halten und innerparteiliche Konflikte zu vermeiden.
Saskia Esken präsentiert sich zwar öffentlich als Vertreterin des linken Parteiflügels und plädiert für soziale Gerechtigkeit und stärkere Umverteilung, im Zweifel haben jedoch auch für sie Machtinteressen den Vorrang. Esken hat sie sich frühzeitig auf Scholz festgelegt, und ein Abrücken von dieser Position könnte ihre eigene Führungsrolle in Frage stellen. Esken scheint einen innerparteilichen Machtkampf umgehen zu wollen, der ihre Position als Parteivorsitzende gefährden könnte. Durch die Unterstützung von Scholz signalisiert sie hingegen Kontinuität und Stabilität, was ihr hilft, ihre eigene Stellung in der Partei zu festigen.
In der SPD gibt es eine Sehnsucht nach Erlöserfiguren. Lange Zeit bediente Kevin Kühnert diese Sehnsucht. Mit seinem Amt als Generalsekretär vertrat er allerdings zunehmend die Positionen des alten Establishments. Auch von seinem Nachfolger Miersch sind keine wesentlichen Veränderungen zu erwarten.
»Die SPD schwankt zwischen dem Versuch, traditionelle sozialdemokratische Werte zu vertreten, und dem Bemühen, in der politischen Mitte wählbar zu bleiben.«
Eine Kandidatur von Boris Pistorius wäre ebenfalls als Fortsetzung des Rechtskurses der SPD zu betrachten. Pistorius stammt aus dem eher konservativen Niedersachsen, war unter dem SPD-Parteirechten Stephan Weil lange ein Hardliner-Innenminister und vertritt in seiner Rolle als Verteidigungsminister eine eher rechte Sicherheitspolitik: Pistorius hat sich bereits vor seinem Amtsantritt für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben und eine Stärkung der Bundeswehr eingesetzt.
Die Diskussion um Pistorius als möglichen Kanzlerkandidaten zeigt die tiefe Krise der SPD und der gesellschaftlichen Linken insgesamt. Denn dass die Jusos ausgerechnet Sympathien für Pistorius bekundeten und das Forum DL21 sich erst gar nicht in die Debatte einbrachte, muss als Hinweis darauf verstanden werden, dass es der Parteilinken innerhalb der SPD insgesamt weiterhin nicht gelingt, sich in einem Maße zu organisieren, um eigene überzeugende Personalvorschläge zu unterbreiten. Die Partei schwankt zwischen dem Versuch, traditionelle sozialdemokratische Werte zu vertreten, und dem Bemühen, in der politischen Mitte wählbar zu bleiben. Allerdings beginnt das Boot zu kentern. Es versinkt nach rechts.