09. April 2025
2015 begannen humanitäre Organisationen Flüchtende auf dem Mittelmeer zu retten. Seither hat sich nicht nur das Klima gegenüber Migrantinnen und Migranten verschärft – auch die zivile Seenotrettung wird immer weiter erschwert.
»Am Ende gilt nach wie vor, was auch die Sea-Watch-Pioniere schon wussten: Humanitäre Seenotrettung ist und bleibt ein Notpflaster.«
Ende März 2015 wurde im Museumshafen von Hamburg-Harburg ein kleiner blauer Fischkutter auf den Namen MS Sea-Watch getauft. Aufgerüttelt durch mehrere katastrophale Bootsunglücke im Mittelmeer und empört über das Ende der italienischen Seenotrettungsoperation Mare Nostrum, hatten einige engagierte Bürger beschlossen, den europäischen Staaten bei der Seenotrettung unter die Arme zu greifen. »Sinn und Zweck der Aktion soll sein, Flüchtlingen in Not Ersthilfe zu leisten, […] und ggf. die italienische Seenotrettung zu alarmieren«, hieß es in einem ersten Aufruf.
Die Gründerväter der Organisation – ja, alles Männer – hielten es für selbstverständlich, dass staatliche Behörden intervenieren würden, wenn man sie nur laut genug auf die humanitäre Katastrophe im zentralen Mittelmeer aufmerksam machte. Schließlich hatte sich Vater Staat selber in den Vorjahren den entsprechenden humanitären Anstrich verpasst.
In einem merkelwürdigen »Wir schaffen das!«-Moment (allerdings zwei Jahre vor Angela), hatte die italienische Regierung Ende 2013 die großangelegte Seenotrettungsoperation Mare Nostrum gestartet. Über 150.000 Menschen wurden durch den gemeinsamen Großeinsatz von Marine, Zoll und Küstenwachen binnen eines Jahres gerettet. Dann wurde der militärisch-humanitäre Korridor (in einem weiteren Vorgriff auf die deutsche Willkommenskultur vom Sommer 2015) mangels größerer europäischer Beteiligung kurz und unzeremoniell wieder stillgelegt.
Und nicht nur das: Über die folgenden Jahre zogen sich italienische und andere europäische Militärs sukzessive aus dem von Bootsunglücken geplagten Meeresgebiet vor Libyen zurück. Gleichzeitig statteten sie libysche Milizionäre und Warlords mit Booten, Trainings und Finanzen aus, um flüchtende, migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter auf See abzufangen und in Libyen einzukerkern. In meinem vergangene Woche erschienenen Buch Kein Land in Sicht: 10 Jahre zivile Seenotrettung im Mittelmeer zeichne ich den langen, verworrenen Weg nach, den das Verhältnis von Staat, NGOs und Flüchtenden seither hinter sich gebracht hat.
Wie sehr sich der Wind an den nördlichen Ufern des Mittelmeeres gedreht hat, ist im direkten Vergleich zu 2015 so offensichtlich wie erschreckend: Aus »Wir schaffen das!« und »Willkommenskultur« wurde »Abschiebeoffensive« und »Remigration«; die humanistische Verantwortung des Mare Nostrum (»Unser Meer«) wich der kalten Berechnung des »Migrationsmanagements«. Während sich die Lebens- und Arbeitsverhältnisse in Europa rapide verschlechtern, hat es ein kleiner, aber gut organisierter Teil der Gesellschaft geschafft, dass selbst bedeutende Teile der 2015 noch humanistisch gestimmten rot-grünen »Mitte« geflüchtete und migrantisierte Menschen heute als politisches Hauptproblem betrachten – und nicht etwa die rabiate Sparpolitik der eigenen politischen Vertretenden zugunsten einer ausufernden Militarisierung, die ebenso eskalierende Klimakrise, oder den Aufstieg einer neuen globalen Hightech-Oligarchie. Auf dem Mittelmeer hat dieser diskursive Windwechsel ganz konkrete, zum Teil tödliche Konsequenzen.
So rettete das Sea-Watch Rettungsboot Aurora am 4. März dieses Jahres 32 Menschen von einer Hochsee-Gasplattform, die ziemlich genau zwischen Sfax (Tunesien), Zuwara (Libyen) und der italienischen Insel Lampedusa liegt. Die Flüchtenden waren zuvor drei Tage auf der Plattform gestrandet gewesen. Sämtliche Anrainerstaaten hatten sich geweigert, ihnen zu helfen – und das, obwohl selbst der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen die zuständige Leitstelle in Malta angewiesen hatte, einen Rettungseinsatz in die Wege zu leiten. Es grenzt an ein Wunder, dass nur eine Person (bereits beim Besteigen der Plattform) ums Leben kam.
»Die zivile Seenotrettung agiert im Graubereich der europäischen Zivilisation – dementsprechend fallen auch die staatlichen Maßnahmen gegen sie bisher vergleichsweise milde aus.«
Im September letzten Jahres hatte eine ähnlich lang verzögerte Rettungsaktion Italiens, nur wenige Seemeilen vor Lampedusa, 21 Menschen an Bord eines manövrierunfähigen Bootes das Leben gekostet. In der Zeit zwischen diesen beiden Vorfällen eilten die großen Seenotrettungsorganisationen Sea-Watch, SOS Humanity, SOS Mediterranee, Sea-Eye und Louise Michel über 1.500 Menschen in Seenot zu Hilfe. Ärzte ohne Grenzen haben ihren Rettungseinsatz mit dem Großschiff Geo Barents aufgrund der jüngsten Welle repressiver Gesetzgebung in Italien eingestellt. Und während Elon Musk Sea-Watch auf X zur »kriminellen Organisation« erklärte, war es ausgerechnet die Regierung der postfaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die zweimal mehr bewies, dass ihr internationales wie nationales Recht gepflegt am Amtssitz vorbeigeht.
Denn während Meloni – wie Trump, nur schlauer – die Axt an die Fundamente der bürgerlichen italienischen Demokratie ansetzt, gelang ihrer Regierung bereits im Januar ein Punktsieg über die italienische Justiz: Letztere hatte den libyschen Militär- und Polizeichef Osama Al Masri Njeem am 19. Januar in Turin festgesetzt, nachdem der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) am Tag zuvor einen Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte. Der Vorwurf: »Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, einschließlich Mord, Folter, Vergewaltigung« im Polizeigefängnis Mitiga.
In dem Gefängniskomplex auf dem Flughafengelände von Tripolis sind neben (teils politischen) Gefangenen der vom Westen gestützten, islamistisch orientierten Regierung in Tripolis auch immer wieder auf der Flucht abgefangene oder bei Protesten und Razzien entführte Migrantinnen und Migranten eingesperrt. Zahlreichen Berichten zufolge soll Al Masri dort nicht nur Folter und Gewaltakte gegen Inhaftierte befohlen, sondern diese auch regelmäßig selber ausgeführt haben.
Nachdem der berühmt-berüchtigte Küstenwach-Gangster Abdurrahman »Al Bija« Milad im September 2024 einem Attentat zum Opfer fiel, ist Al Masri das neue Gesicht der brutalen libysch-europäischen Kooperation zur Einlagerung und Abschreckung unerwünschter migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter. Al-Jazeera zitiert den geflüchteten Menschenrechtsaktivisten und Mitiga-Überlebenden David Yambio mit den Worten: »Ich habe seine Kriegsverbrechen gesehen. Ich habe gesehen, wie er Menschen tötete.«
Nun erstmal nichts von Al Masri zu sehen bekommen wird das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Nach einer kleinen Europareise, die ihn erst nach Deutschland, dann auf einem Juventus-Turin-Spiel und anschließend in den nächstgelegenen Polizeigewahrsam führte, kooperierten wohl mehrere Ministerien und (Geheim-)Dienste, um den Kriegsverbrecher-Cop zu befreien und im Regierungsflieger zurück nach Tripolis zu eskortieren. Dort wurde er wie ein Held neben seinem Flughafen-Folterknast empfangen. In Italien liefen gleichzeitig die Ermittlungen gegen Meloni, Innenminister Matteo Piandedosi und Justizminister Carlo Nordio an, wegen Beihilfe zu Al Masris Verbrechen. »Um aber mit dem Prozess fortzufahren, wäre eine Ermächtigung durch das Parlament erforderlich«, erklärt die Seenotrettungs-Anwältin Lucia Gennari, »und die wird wohl kaum erteilt.«
Wenige Tage nach Elmasrys unheimlicher Heimkehr wurden Mitglieder der italienischen Seenotrettungsorganisation Mediterranea durch den Medienkonzern Meta darüber informiert, dass ihre Smartphones Ziel eines Angriffes mit hochentwickelter Spionagesoftware geworden waren. »Graphite« heißt das digitale, trojanische Pferd, es wurde von der israelischen Firma Paragon Solutions entwickelt, die sie nach eigenen Angaben »der US-Regierung und anderen staatlichen Geheimdiensten verbündeter Länder« zur Verfügung gestellt hat. Über 90 zivile Whatsapp-User in ganz Europa waren von ähnlichen Angriffen betroffen.
Neben den Mobiltelefonen der beiden Mediterranea-Mitgründer Luca Casarini und Beppe Caccia wurde auch das ihres Schiffspriesters (und damit eines engen Vertrauten des Papstes) gehackt. Außerdem die Handys von Menschenrechtsaktivist David Yambio (der damit in Kontakt zum IStGH stand) und eines Journalisten des Nachrichtenportals Fanpage, der sich kritisch mit der italienisch-libyschen Zusammenarbeit in der Migrationsabwehr befasst hatte. Die italienische Regierung wies reflexhaft jede Verantwortung von sich. Paragon Solutions kündigte trotzdem, wenige Tage später, seinen Vertrag mit Italien, wegen eines Verstoßes gegen die »ethischen Richtlinien« des Unternehmens, die den Einsatz gegen die Zivilgesellschaft untersagen.
Gegenüber dem Rest der zivilen Seenotrettung – derzeit immerhin vierzehn aktive NGOs mit fünfzehn Schiffen und drei Suchflugzeugen – hält sich die italienische Regierung mit allzu offenen Rechtsbrüchen bislang zurück. Nach Jahren des Experimentierens verschiedener italienischer Regierungen mit zahlreichen Methoden der Behinderung ziviler Rettungskräfte scheinen Meloni und ihr Innenminister Piantedosi ganz zufrieden mit der aktuellen Kombinationslösung: Während das auf den Sicherheitsdekreten des rechtsradikalen Innenministers Matteo Salvini von 2018 und 2019 aufbauende »Piantedosi-Dekret« die operationellen Möglichkeiten der zivilen Rettungskräfte massiv einschränkt, kostet eine Neuauflage der »Distant Ports Policy« des Sozialdemokraten Marco Minniti von 2017 die Rettungsschiffe erhebliche Summen an Treibstoff und hält sie aus dem Einsatzgebiet vor der libyschen Küste heraus.
»Große Rettungsschiffe werden gezwungen, mit teils verschwindend kleinen Gruppen und trotz weiterer Seenotfälle in der Umgebung nach Norden abzudrehen.«
Das nach seinem Urheber benannte »Piantedosi-Dekret« wurde direkt nach dem Amtsantritt der Regierung Ende 2022 erlassen. Es zwingt Rettungskräfte – in einer eleganten Umkehrung deren eigener Forderung nach sicheren Häfen zur Anlandung Überlebender – nach jeder Rettung unverzüglich einen italienischen Hafen anzusteuern. Große Rettungsschiffe, die auf längere Patrouillenfahrten und die Aufnahme mehrerer hundert Überlebender ausgelegt sind, werden gezwungen, mit teils verschwindend kleinen Gruppen und trotz weiterer Seenotfälle in der Umgebung nach Norden abzudrehen. Sollten sie dem nicht nachkommen, blühen saftige Strafgelder und Schiffs-Beschlagnahmungen, die aufgrund der Verankerung des Dekretes im Administrativrecht, ohne Gerichtsverfahren sofort vollstreckt werden können.
Im zweiten Schritt werden den Schiffen nicht die naheliegenden Häfen Siziliens zugewiesen, sondern oft Orte so weit entfernt wie Civitavecchia (bei Rom), Ravenna, oder gar Genua. Bis zu fünf Tage tuckern die großen Rettungskreuzer so mit kleinen Gruppen Geflüchteter an Bord die italienische Küste hinauf, verpulvern zehntausende Euro in Treibstoff und müssen die gleiche Strecke erst wieder zurückfahren, bevor sie in den nächsten Einsatz gehen können. Das heißt, wenn sie nicht aufgrund einer der vielen weiteren repressiven Richtlinien erstmal eine Weile festgesetzt werden.
Diese administrative Zwickmühle ist es, die Ärzte ohne Grenzen dazu brachte, den Einsatz mit einem der größten Schiffe der Flotte, dem 76-Meter-Koloss Geo Barents, aufzugeben und sich auf die Suche nach anderen Konzepten zur humanitären Hilfe auf See zu machen. Wie lange die anderen großen Organisationen unter dem doppelten Druck von Verwaltung und Ökonomie weiter operieren können, wird sich zeigen. Eine interessante Alternative ist derzeit sicherlich die sogenannte »Mini Fleet«; Organisationen wie das Compass Collective, r42 und Resqship, unterstützen Menschen auf der Flucht mit kleinen, deutlich weniger betriebskostenintensiven Segelbooten.
Am Ende gilt nach wie vor, was auch die Sea-Watch-Pioniere im Hamburger Museumshafen 2015 schon wussten: Humanitäre Seenotrettung ist und bleibt ein Notpflaster. Solange sich an den Eigentumsverhältnissen nichts ändert, werden sich die reichen Staaten Europas weiter von der Masse armer, entwurzelter Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem globalen Süden abschotten und dabei vor kaum einer Grausamkeit zurückschrecken. Die zivile Seenotrettung agiert hierbei im Graubereich der europäischen Zivilisation – dementsprechend fallen auch die staatlichen Maßnahmen gegen sie (bisher) vergleichsweise milde aus.
Wie außerhalb dieses Graubereiches agiert wird, das zeigt die Anklageschrift gegen Osama Al Masri Njeem. Dass diese Barbarei einkalkuliert ist, zeigt seine Freilassung. Und noch etwas lässt sich an Al Masris Europa-Urlaub gut nachvollziehen: Die Frage der Bewegungsfreiheit entscheidet sich weder an der »weißen Weste«, welche die Rechten so gern von allen Migrantinnen und Migranten verlangen, noch entlang von Hautfarben oder originär rassistischen Kategorien. Sie entscheidet vor allem zwischen oben und (einem rassifizierten) unten.
»Natürlich muss die Seenotrettung weitergehen«, erklärt dementsprechend auch der abgehörte Menschenrechtler und Vorsitzende von Refugees in Libya David Yambio in seinem Beitrag zum Reflexionsband Kein Land in Sicht: »Aber die Retter:innen müssen sich auch mit dem großen Problem auseinandersetzen und dabei helfen, es zu dekonstruieren. Wir müssen uns die Handelsbeziehungen ansehen, die bereits einen ausgeprägten Kolonisierungsprozess darstellen.«
Chris Grodotzki berichtete weltweit über Umweltkonflikte, Flucht und Migration, bevor er für Sea-Watch Medienarbeit und Rettungseinsätze koordinierte. Aktuell schreibt und fotografiert er wieder frei.