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19. September 2025

Der Sozialstaat kann mehr

Unter den Angriffen auf Bürgergeld und Rente werden die Verteidiger des Sozialstaats immer kleinlauter. Dagegen gilt es zu erinnern, dass das grundgesetzliche Versprechen der Sozialstaatlichkeit nie ganz erfüllt wurde, sondern erst erstritten werden muss.

Friedrich Merz und Bärbel Bas bei der Pressekonferenz zu den Ergebnissen des Koalitionsausschusses, Aufnahme vom 3. September 2025.

Friedrich Merz und Bärbel Bas bei der Pressekonferenz zu den Ergebnissen des Koalitionsausschusses, Aufnahme vom 3. September 2025.

IMAGO / Christian Spicker

Als die SPD verkündete, dass Bärbel Bas ins Arbeitsministerium einziehen würde, war dies mit einem kurzen Aufflammen von Hoffnung verbunden. Bas, ausgestattet mit einer klassisch sozialdemokratischen Aufstiegsgeschichte, sollte die Themen Rente und Bürgergeld in der Koalition gegen die Union verteidigen.

Diese Hoffnungen lösten sich allerdings schnell in Luft auf. Es war noch kein Monat vergangen, da hieß es aus dem Arbeitsministerium, man wolle die »mafiösen Strukturen im Bürgergeld« zerschlagen. Kein Wort zu der schikanösen Behandlung von Bürgergeldempfängern oder zu den Aufstockern, die trotz Arbeit auf Unterstützung angewiesen sind.

Flankiert wurde dies mit Stellungnahmen aus dem konservativen Lager, die Empfänger von Sozialleistungen als Schmarotzer darstellten und weitere Kürzungen und Sanktionsverschärfungen forderten. Begründet wird dies oft mit der Gerechtigkeit gegenüber Arbeitenden und der zunehmenden Dysfunktionalität eines Sozialstaats, der sich gesundschrumpfen solle. Diesen trägt man wie eine Monstranz vor sich her, während man zugleich seine Substanz politisch attackiert.

Der politischen Linken gelingt es in diesen Auseinandersetzungen nicht, aus der Defensive herauszukommen – zu beschäftigt ist man damit, den aktuellen Zustand zumindest abzusichern. Massenwirksame Konzepte, was der Sozialstaat anderes sein könnte als ein purer Leistungserbringer, sind rar. Dem liegt ein fehlendes historisches Verständnis für den Sozialstaat und dessen transformative Kraft zugrunde. Die rechtlichen Grundlagen für ein sozialeres Deutschland sind vorhanden, sie müssen nur erkannt werden.

Kampf um den »sozialen Rechtsstaat«

Zwar wird die Sozialstaatlichkeit immer wieder relevant – etwa bei Verschärfungen beim Bürgergeld (Stichwort 40 Prozent Untergrenze für Leistungskürzungen) oder wenn Jens Spahn die einschlägigen Artikel aus dem Grundgesetz direkt streichen will – eine konsistente inhaltliche Diskussion unterbleibt jedoch. Auf das Verhältnis von Staat, sozialem Auftrag und politischem Prozess wird nicht ernsthaft eingegangen. Dabei war genau dieses Verhältnis einst Gegenstand einer der wegweisenden rechtspolitischen Auseinandersetzungen der jungen Bundesrepublik, die heute großenteils in Vergessenheit geraten ist.

Im Zentrum dieser Auseinandersetzung standen die beiden Rechtswissenschaftler Ernst Forsthoff und Wolfgang Abendroth. Deren Biografien stehen beispielhaft für den gesellschaftlichen Konflikt, der sich Ende der 1940er / Anfang der 50er Jahre durch die noch junge Republik zog: demokratisch-sozialer Aufbruch oder kapitalistische Restauration.

Ernst Forsthoff, seit 1933 Professor an der Universität in Frankfurt am Main (später Hamburg, Königsberg, Wien und Heidelberg) und ein Schüler Carl Schmitts, profitierte maßgeblich vom Aufstieg der Nationalsozialisten und war in den ersten Jahren seines Wirkens damit befasst, dem Terror der NSDAP ein legitimes Gewand zu verleihen. Obwohl er im Entnazifizierungsverfahren 1946 als »Belasteter« eingestuft wurde, blieb er bis zu seiner Emeritierung auf seinem Heidelberger Lehrstuhl.

Das Gegenstück dazu bildet der Sozialist Wolfgang Abendroth. Dieser war in den 1920er Jahren Mitglied mehrerer kommunistischer Organisationen (KJVD, KPD, KPO, Rote Hilfe Deutschlands) und in der Zeit des Nationalsozialismus im Widerstand (bei der Organisation Neu Beginnen) aktiv. Nach der Machtergreifung konnte er sein Jurastudium in Deutschland nicht vollenden und schrieb seine Dissertation daher in der Schweiz. Nachdem er durch die Gestapo festgenommen wurde und eine Haftstrafe verbüßt hatte, wurde er als Teil einer Strafdivision in Griechenland stationiert. Dort desertierte er zur griechischen Volksbefreiungsarmee. Nach dem Ende des Kriegs gelangte er über Potsdam, Halle, Leipzig, Jena und Wilhelmshaven an einen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl der Universität Marburg. Eine Berufung an eine juristische Fakultät wurde ihm wie anderen kritischen Juristen verwehrt.

Ebenso gegensätzlich wie ihre persönlichen Hintergründe waren aber auch ihre Auffassungen darüber, wie die Formulierung des »sozialen Rechtsstaats« im Grundgesetz verstanden werden sollte. Ihre Positionen kollidierten auf der Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtler im Jahr 1953. Abendroth, frisch in deren Vorstand gewählt, wollte das Hauptreferat halten, das allerdings unterbunden und stattdessen von Forsthoff übernommen wurde.

»Für Wolfgang Abendroth waren die politischen Freiheitsrechte des Grundgesetzes und der Sozialisierungsartikel die Instrumente der demokratischen Gesellschaft, um die Transformation zum sozialen Rechtsstaat durchzuführen.«

Dieser vertrat die Position, dass es sich bei der Formel des sozialen Rechtsstaats lediglich um einen politischen Programmsatz ohne tatsächliche Rechtswirkung handelte. Beeinflusst vom Rechtspositivismus behauptete Forsthoff, eine Rechtsordnung wäre primär eine Gewährleistungsordnung. In dieser könnte nur gewährleistet werden, was bereits gesellschaftlich besteht. Die Verfassung würde damit auf die Stabilisierung der bürgerlichen Eigentumsordnung zielen. Dadurch wäre jeglichem progressiv-transformativen Anspruch des Grundgesetzes der Riegel vorgeschoben.

Abendroth ließ sich jedoch nicht beirren und äußerte seine Position in mehreren Diskussionsbeiträgen auf der Tagung. Dabei verband er die Elemente der Rechts- und Sozialstaatlichkeit unmittelbar mit dem Bestand der Demokratie. Diese Kombination sei als die Grundlage der Staatlichkeit und somit als ein der gesamten Rechtsordnung vorrangiger Rechtsgrundsatz zu verstehen. Im Gegensatz zu Forsthoff war Abendroth nicht der Meinung, dass der Sozialstaat schon verwirklicht ist, sondern dass gerade diese Verwirklichung noch zu leisten sei. Dieser müsste sich an dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit orientieren, das Prinzip der Demokratie auf die Wirtschaft- und Eigentumsordnung ausdehnen und diese umgestalten. Die politischen Freiheitsrechte des Grundgesetzes und der Sozialisierungsartikel wären die Instrumente der demokratischen Gesellschaft, um diese Transformation durchzuführen.

Ein solcher sozialer Wandel war für Abendroth aber keineswegs eine rechtlich verbriefte Gewissheit. Das Grundgesetz ließ ihn lediglich zu – politisch erkämpft und umgesetzt werden müsse er trotzdem von den Organisationen der Arbeiterbewegung. Eine Schlüsselrolle spielten für ihn dabei die Gewerkschaften und deren Kämpfe um das politische Streikrecht und das Betriebsverfassungsgesetz.

Im Verlauf der 1950er erwies sich Abendroths Konzeption eines demokratisch-sozialen Deutschlands allerdings weder als mehrheitsfähig innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft noch als politisch realistisch. Die Aufbruchstimmung der jungen Republik verblasste, eine rechtskonservative CDU regierte und die Machtstellung des alten Kapitalismus wurde restauriert. Forderungen nach einer Sozialisierung der Schlüsselindustrien wurden zunehmend unpopulär, die Gewerkschaften verloren die Auseinandersetzung um das Betriebsverfassungsgesetz sowie den politischen Streik (Abendroth und Forsthoff steuerten in dem Gerichtsverfahren konkurrierende Rechtsgutachten bei) und die KPD wurde verboten.

In den folgenden Jahrzehnten setzte sich innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft eine »vermittelnde« Ansicht zum Sozialstaat durch. Diese bejahte zwar den verfassungsrechtlichen Charakter des Sozialstaats, schwächte allerdings dessen Kerngedanken erheblich ab. Der Gesetzgeber ist demnach zu einer bestimmten sozialpolitischen Aktivität wie der Existenzsicherung und bestimmten sozialen Sicherungssystemen verpflichtet, die ökonomische Ordnung wird allerdings nicht infrage gestellt. Stattdessen streiten sich deutsche Sozialrechtler etwa darüber, wie viele Prozente des menschenverachtenden Bürgergeldbetrags gestrichen werden können oder ob die aktuelle sozialpolitische Entwicklung als Umbau oder Abbau des Sozialstaats verstanden werden kann. Die gesellschaftliche Ordnung, die den Sozialstaat und dessen Maßnahmen erst erforderlich macht, wird dabei nicht einmal thematisiert.

Umso wichtiger ist es, an ambitioniertere Auslegungen des Grundgesetzes zu erinnern. Abendroths Vision eines demokratisch-sozialen Deutschlands ließ sich in den 1950ern nicht verwirklichen, zeigt aber das politische Potenzial auf, das ein Verfassungsverständnis haben kann, das nicht in reiner Herrschaftsverwaltung besteht, sondern den sozialen Fortschritt sucht. Um dies in politische Praxis umzusetzen, benötigt die politische Linke allerdings massenwirksame Konzepte, um konkrete Lebensfragen wie Miete, Rente, Pflege oder Energieversorgung neu zu verhandeln – Konzepte, über die sie aktuell nicht verfügt.

Bei der Rente in die Offensive kommen

Gut illustrieren lässt sich dies am Dauerbrenner Rente. Seit mehreren Jahrzehnten ist man sich einig, dass die aktuelle gesellschaftliche Organisation der Rente für einen Großteil der Bezieher nicht für einen gerechten Lebensstandard im Alter sorgen wird. Die Gründe hierfür sind vielfältig und erstrecken sich von niedrigen Löhnen bis zur demografischen Krise. Zur Lösung dieses Problems haben die konservativen und liberalen Parteien den Kapitalmarkt erkoren. Private Angebote wurden staatlich subventioniert, während die gesetzlichen Renten zurückgebaut und unattraktiver gemacht wurden.

Den Parteien der politischen Linken fiel als Reaktion darauf nicht viel ein. Gebetsmühlenartig wird seitdem wiederholt, dass das Rentenalter auf keinen Fall weiter steigen dürfe und das Rentenniveau stabil bleiben müsse – ein reiner Abwehrkampf, der auf Dauer nicht zu gewinnen ist. Die Bevölkerung verliert angesichts des medialen Dauerfeuers das Vertrauen in die gesetzliche Rente inklusive Umlagesystem und auch ihre Verteidiger schwenken angesichts von Perspektivlosigkeit auf moderate Verschärfungen um. Auch wenn die Co-Vorsitzende der Linken, Ines Schwerdtner, ihren Ausrutscher bezüglich einer moderaten Erhöhung des Renteneintrittsalters schnell wieder korrigierte, ist durchaus vorstellbar, dass die Linke in Zukunft tatsächlich von ihrer aktuellen Linie abrückt.

»Eines der Hauptargumente für die Transformation der gesetzlichen Rente in den 1950ern war, dass Altersversorgung in modernen Industriegesellschaften nur über Umverteilung gesichert werden kann.«

Dieser Trend kann nur durch eine gesellschaftliche Neuverhandlung der Rente durchbrochen werden. Genauso wie das Umlageverfahren in den 1950ern einen Bruch mit dem Bismarckschen Rücklageverfahren darstellte und gegen den Widerstand von Banken, Versicherungen und der Arbeitgeberlobby durchgesetzt wurde, muss jetzt ein Bruch mit der aktuellen Rentenpolitik erfolgen. Dabei soll die Rentenpolitik Adenauers keineswegs glorifiziert, sondern der transformative Charakter des Umlagesystems verdeutlicht werden: Eines der Hauptargumente für die Transformation der gesetzlichen Rente in den 1950ern war, dass Altersversorgung in modernen Industriegesellschaften nur über eine Beteiligung der Renterinnen und Rentner am Wirtschaftsertrag, also über Umverteilung, gesichert werden kann.

Es ist nun Aufgabe der politischen Linken, diesen Kerngedanken ins Gedächtnis zu rufen und der allgemeinen Lethargie eine Alterssicherung entgegenzuhalten, die nicht an den Ausgaben rumdoktert, sondern die gesellschaftlichen Ressourcen mobilisiert, Vermögensverhältnisse umbaut und die soziale Leistung merklich verbessert.

Anhand der Berliner Mietenbewegung kann sehr gut nachvollzogen werden, wie eine Wohnungspolitik, die in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten von lediglich regulatorischen Markteingriffen dominiert wird, innerhalb kürzester Zeit in eine Debatte um Eigentum und Verteilung umschlagen kann. Als das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2021 mit Berufung auf die Gesetzgebungskompetenz des Bundes (eine rein formale Begründung) den Mietendeckel kippte, entzündete sich an der Wut über diese Entscheidung in die bereits begonnene Kampagne für einen Volksentscheid zur Enteignung der Deutsche Wohnen und anderen Immobilienkonzernen.

Diese stellte nicht auf technische Regelungen wie Mietendeckel, Mietenbremse oder zeitliche Begrenzungen bestimmter Umlagen ab, sondern problematisierte privates Eigentum von Wohnraum. Dieser sollte mit Berufung auf den oben genannten Vergesellschaftungsartikel enteignet werden. Am Ende stimmten über 1 Million Wählerinnen und Wähler für den Volksentscheid und eine Expertenkommission bestätigte die Rechtmäßigkeit der Forderung. Doch die schwarz-rote Koalition in Berlin verschleppt die Umsetzung und das entsprechende Gesetz versauert in den Gremien der Landesverwaltung.

Diese Erfahrung gilt es für andere Politikfelder nutzbar zu machen. Sozialstaatliche Fragen müssen konsequent aus einer Klassenperspektive gedacht werden, die die Eigentumsverteilung problematisiert. Die Sozialstaatlichkeit des Grundgesetzes, verstanden als transformativer Auftrag, könnte diese Entwicklung flankieren.

Spyro Marasovic ist Rechtswissenschaftler und freier Journalist mit dem Themenschwerpunkt Rechtspolitik.