13. Februar 2024
Vor 90 Jahren erschien in Nazideutschland eine Broschüre über die »Kunst des Selbstrasierens«. Doch innen verbarg sich etwas anderes: das Prager Manifest der Exil-SPD, in dem sie zu antifaschistischer Einheit und revolutionärem Kampf aufrief.
Ein Bergarbeiter im Ruhrgebiet beim Rasieren.
Eine Einführung in die »Kunst des Selbstrasierens« versprach eine unscheinbare Broschüre, die Anfang des Jahres 1934 im faschistisch regierten Deutschland auftauchte. Anders als die Tarnung suggerierte, bot die in einer Auflage von 40.000 Stück gedruckte Schrift allerdings keine Hinweise auf »Neue Wege männlicher Kosmetik«. Vielmehr orientierte sie den Leser auf unerwartete Pfade sozialdemokratischer Politik.
Hinter der vermeintlichen Pflegeanleitung verbarg sich das am 28. Januar des Jahres verkündete Dokument über »Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus«, für das der Prager Exilvorstand der SPD verantwortlich zeichnete. Als Tarnschrift an Nazi-Zensoren und Gestapo-Überwachungsstaat vorbeigeschmuggelt, sollte der Text ein Jahr nach Hitlers Machtantritt laut Untertitel Auskunft über die »Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« liefern.
Auch in SPD-Periodika wie der Sozialistischen Aktion oder dem Neuen Vorwärts abgedruckt, fand die Schrift ihren Weg in den antifaschistischen Untergrund im Reich. Sie ging als Prager Manifest in die Geschichte linker Programmtexte ein. Für Peter Steinbach, den Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, war das Dokument der wichtigste Ausgangspunkt »für alle weiteren Diskussionen über antifaschistische Volks-, Aktions- oder ›Einheitsfront‹«. Diese Einschätzung ist historisch-kritisch zu überprüfen.
Bemerkenswerterweise wirken die tarnenden Formulierungen auf den ersten Seiten der Broschüre wie Hinweise auf die damalige Geschichte: So ist die Rede von »schmerzhaften oder blutigen Erfahrungen«, die hinter dem Adressaten lägen, die aber alleine nicht zur adäquaten Urteilsbildung ausreichten. Vielmehr gäbe es »eine reiche Literatur […], die gewissermaßen Theorie und Praxis vermählt«, auf die zurückzugreifen sei.
In diesem Sinne ist es beachtenswert, dass der sozialdemokratische Exilvorstand Rudolf Hilferding mit dem Verfassen des Manifests beauftragt hatte. Hilferding war eine der wirtschaftswissenschaftlichen Kapazitäten der SPD im späten Kaiserreich gewesen. Seine Studie Das Finanzkapital von 1910 bildet den Ausgangspunkt der marxistischen Analyse des staatsmonopolistischen Kapitalismus.
Vom kämpferischen Demokraten Carl von Ossietzky als »Parteiorakel« verspottet, stand Hilferding in der Weimarer Republik unter anderem als zeitweiliger Reichsfinanzminister für die unter dem Stichwort des »kleineren Übels« gepflegte Kompromisspolitik der SPD-Führung. Die Sozialdemokratie gab damals an, sichern zu wollen, was man im Nachgang der Novemberrevolution errungen hatte, stellte in Wahrheit aber genau diese Errungenschaften zur Disposition.
»Dem ›totalen Staat‹ der Faschisten gab die SPD nun die ›totale Revolution, moralische, geistige, politische und soziale Revolution‹ zur Antwort. Dennoch waren viele linke Sozialdemokraten skeptisch.«
Das sinnfälligste Beispiel hierfür ist sicherlich, dass die SPD 1932 die Wiederwahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten als vermeintliche Alternative zu einer Reichspräsidentschaft Hitlers unterstützte: Nur wenige Monate nach der SPD-Kampagne für den Generalfeldmarschall sollte bekanntlich das »kleinere Übel« dem »größeren Übel« die Regierungsgeschäfte übertragen.
In einer ähnlich maßlosen Fehleinschätzung hatte das »Orakel« die Nazi-Bewegung noch im Januar 1933 für geschlagen erklärt – während hinter den Kulissen der reaktionärste Flügel der damaligen Macht- und Wirtschaftseliten bereits die Bildung einer faschistisch-konservativen Koalitionsregierung vorbereitete. In der SPD-Führung war noch immer der Antikommunismus Trumpf, der seit dem Doppelmord an den KPD-Gründungsfiguren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auch tödliche Formen annahm.
Für Hilferding bereitete im angebrochenen Schicksalsjahr 1933 deshalb »der grundsätzliche Kampf gegen die kommunistische Führung […] erst wirklich de[n] Kampfboden […], auf dem die Arbeiterklasse ihre Ziele erreichen kann.« Nur wenig später wurden Sozialdemokraten und Kommunisten massenhaft gemeinsam in den Folterkellern der SA gequält und ermordet.
Im Januar 1934 sendete Hilferding entsprechend anderslautende Signale aus dem Prager Exil. In dem von ihm verfassten Manifest hieß es nun: »Ob Sozialdemokrat, ob Kommunist, ob Anhänger der zahlreichen Splittergruppen, der Feind der Diktatur wird im Kampf durch die Bedingungen des Kampfes selbst der gleiche sozialistische Revolutionär. Die Einigung der Arbeiterklasse wird zum Zwang, den die Geschichte selbst auferlegt.«
War das Verhältnis der beiden Arbeiterparteien KPD und SPD während der Weimarer Zeit meist am besten als das »feindlicher Brüder« beschrieben, nahmen sich die aus Hilferdings Feder stammenden Formulierungen fast schon wie Anläufe zu einer Parteienverschmelzung aus. In der Tat war von der »Mission« der »deutschen Sozialdemokratie« die Rede, »die Arbeiterklasse in einer politischen Partei des revolutionären Sozialismus zu vereinigen«. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal hergestellten antifaschistischen Aktionseinheit zwischen Kommunistinnen und Sozialdemokratinnen war dies bei Verkündigung alles andere als naheliegend.
Realistischer erschien das Streben der SPD nach einer »Front aller antifaschistischen Schichten«. Beabsichtigt wurde, »die Bauern, die Kleingewerbetreibenden, die Kaufleute, die durch die Versprechungen der Nationalsozialisten betrogen sind, […] die Intellektuellen, die unter dem gegenwärtigen Regime ein bisher unvorstellbares Maß der Unterdrückung und Entwürdigung erleiden, zum gemeinsamen Kampf mit der Arbeiterklasse auf[zu]rufen.« Dies gemahnte zumindest in Ansätzen bereits an die spätere Volksfront-Konzeption der Kommunisten.
Letztere reagierten zunächst allergisch auf die neuen Töne aus Prag. Das nach der tschechoslowakischen Hauptstadt benannte Manifest wurde in der von der Kommunistischen Internationale herausgegebenen Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung als »konterrevolutionäres, gegen die proletarische Revolution gerichtetes Dokument« abgetan. Mit Erklärungen dieser Art zollte man zunächst noch der Sozialfaschismusthese Tribut, mit der zuvor die Sozialdemokratie zum Hauptgegner erklärt wurde und die das Sektierertum befördert hatte.
»Das Regime der Nazis bedeutete laut Prager Manifest ›eine unerhörte Steigerung der sozialen Gegensätze, ein neues Erhitzen des Kessels bei gewaltsamer Verschließung aller Ventile.‹«
Der italienische Kommunist Palmiro Togliatti charakterisierte die Sozialfaschismusthese im Rückblick als den schwerwiegendsten Fehler der Komintern. Auf dem von ihm mitgeprägten VII. Weltkongress der einstigen »Weltpartei« sagte man sich endgültig davon los. Auf der Brüsseler Konferenz vom Oktober 1935, die die Resultate des letzten Komintern-Treffens auf die Ebene der KPD-Politik herunterbrechen sollte, hieß es denn auch im Referat Wilhelm Florins, dass man nun bereit sei, »wesentliche Teile des [Prager] Manifestes vom Januar 1934 […] als Grundlage für den einheitlichen Kampf für gemeinsame Forderungen« anzunehmen.
Auch die Herzen der im Manifest genannten »Anhänger der zahlreichen Splittergruppen« flogen der SPD-Führung nicht ohne Weiteres zu. Gemeint waren hiermit die Vertreterinnen und Vertreter linkssozialistisch orientierter Gruppierungen, die sich zum Teil bereits in der Schlussphase der Weimarer Republik von der Politik der SPD-Führung abgewandt hatten. Das Manifest verlautbarte in scharfem Kontrast zu dieser Politik, dass es »[i]m Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur […] kein[en] Kompromiß [gibt], […] für Reformismus und Legalität keine Stätte [ist]«. Dem »totalen Staat« der Faschisten gab die SPD nun die »totale Revolution, moralische, geistige, politische und soziale Revolution« zur Antwort. Dennoch waren viele linke Sozialdemokraten skeptisch.
Im Vergleich zu den Kommunisten schienen sie mitunter noch schwerer zu besänftigen zu sein: »In vielen illegalen sozialdemokratischen Gruppen und in Teilen der Emigration wurde […] bezweifelt, ob sich die SPD vom Reformismus befreit hätte, der von jenen für das Scheitern [1932/33] verantwortlich gemacht wurde«, schreibt der Politologe Johannes Klotz. Wolfgang Abendroth, ebenfalls Politikwissenschaftler (und ehemals Partisan), bezeichnet das Prager Manifest in seiner Schrift Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie entsprechend auch als den Versuch des Exilvorstandes, »seine Autorität bei den illegalen Gruppen in Deutschland wiederher[zu]stellen«.
Diese Vorbehalte von linkssozialistischer wie kommunistischer Seite lassen sich jedoch nicht einzig auf Sektierertum zurückführen. Das Manifest selbst dokumentiert einen – in der historischen Gesamtschau flüchtig gebliebenen – Moment der Selbsterkenntnis. So wird es als »schwere[r] historische[r] Fehler« der SPD bezeichnet, dass sie in der Novemberrevolution 1918 »den alten Staatsapparat fast unverändert« übernommen hatte.
Die Partei hatte sich »von vornherein mit den bürgerlichen Parteien, mit der alten Bürokratie, ja mit dem reorganisierten militärischen Apparat«, allesamt mindestens unzuverlässige Demokraten bis hin zu offenen Republikgegnern, in einer Position eingerichtet, die sich als prekär herausstellen sollte. Diese im Ergebnis unzureichende Umwälzung sollte entsprechende Konsequenzen für den weiteren Verlauf der Ereignisse haben.
Die Pädagogin und vormalige SPD-Reichstagsabgeordnete Anna Siemsen verließ ihre Partei Anfang der 1930er Jahre kurzzeitig in Richtung einer »Splittergruppe« – der Sozialistischen Arbeiterpartei, die auch aus Protest dagegen entstanden war, dass die SPD die deutsche Rüstungspolitik unterstützte. In ihrer Antwort auf eine wissenschaftliche Preisausschreibung der Harvard University über das »Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933« charakterisierte Siemsen die rechtssozialdemokratischen Führer rückblickend wie folgt:
»Sie waren konservativ, einzig bedacht auf Erhaltung des Errungenen und sahen nicht, dass es unhaltbar verloren war, weil die Entwicklung es zerstörte, dass es nur ein Vorwärts oder ein heilloses Abwärts gab. ›Wir sind Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus‹, formulierte ein Gewerkschafter sehr treffend die Rolle, in der [...] [die] [SPD-]Parteiführer sich sahen. Leider war der Patient nicht bereit, sich von diesen Ärzten kurieren zu lassen. Er hatte sich schon einen anderen ausgesucht: den Nationalsozialismus.«
»Im Frühjahr 1934 klüngelten Vertreter der SPD-Führung in Kopenhagen mit Emissären unzufriedener Militärs und dissidenter Faschisten und bewiesen damit die Richtigkeit von Brechts Satz: ›Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz.‹«
Das als gegenrevolutionär charakterisierte Regime der Nazis bedeutete laut Prager Manifest »eine unerhörte Steigerung der sozialen Gegensätze, ein neues Erhitzen des Kessels bei gewaltsamer Verschließung aller Ventile. Die Unterdrückung aller Organisationen der Arbeiter und Angestellten, ihre völlige Entmachtung, überliefert sie der Willkür des Großkapitals, in dessen Interessen die Diktatur die Staatsmacht gestellt hat«. Diese »in Rassenwahn und Großmachtsucht den alldeutschen Nationalismus zur Siedehitze« steigernde Herrschaft zu stürzen, machte die Exil-Sozialdemokratie zu ihrem erklärten Ziel. Hierzu wollte sie nicht »auf den Sturz der Despotie durch den Krieg […] hoffen«, vielmehr sah sie es als »ihre Aufgabe, den Krieg zu verhindern.«
Denn so wie »ein neuer Krieg mit den unendlich vervollkommneten Zerstörungsmitteln eine Untergangsdrohung für die Zivilisation« darstellt, »so bedeutet ein Sieg der faschistischen Diktaturen eine Verewigung der Sklaverei und Bestialität im Inneren und ihre Ausbreitung über die übrige Welt«.
Neben diesen sehr zutreffenden und hellsichtigen Einschätzungen wurde im Prager Manifest die rechtsopportunistische politische Praxis der Weimarer Periode nun teilweise durch eine maximalistische Rhetorik abgelöst, die selbst in den Jahren des Widerstandes oft mit dem Handeln der sozialdemokratischen Führungsgruppe über Kreuz lag. Obwohl jeder Bezug auf die sowjetische Erfahrung tunlichst vermieden wurde, las sich das Manifest stellenweise wie eine aus der Zeit gefallene Absichtsdeklaration zur Errichtung der Diktatur des Proletariats – statt wie ein dringend benötigtes Programm für die Organisation einer antifaschistisch-demokratischen Revolution.
Bereits in den ersten Sentenzen bekannte sich die SPD zum »Ziel der Eroberung der Staatsmacht, ihrer Festigung und Behauptung zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft«. Demgegenüber wurde der »Kampf um die Demokratie«, der sich »zum Kampf um die völlige Niederringung der nationalsozialistischen Staatsmacht« erweitert, »nur« als »revolutionäres Durchgangsstadium zur Eroberung der ganzen Staatsmacht« charakterisiert.
Das Ziel einer »Selbstverwaltung der Gesellschaft« muss man Hilferding als subjektiv ehrlich gemeint abnehmen. Allerdings liest sich – neben der mehrmals angerufenen »Elite«, die den Umsturz anführen soll – auch die vorgestellte Umwälzung (samt Aufbau einer neuen Ordnung) kurios und illustriert einen gewissen Mangel an Kohärenz in der Argumentation: »Erst nach der Sicherung der revolutionären Macht und nach restloser Zerstörung der kapitalistisch-feudalen und politischen Machtpositionen der Gegenrevolution beginnt der Aufbau des freien Staatswesens mit der Einberufung einer Volksvertretung.« Die KPD schlug derweil geradezu den umgekehrten Weg vor. Das Angebot, das sie auf der Berner Konferenz Anfang 1939 formulierte, orientierte auf eine »neue, demokratische Republik«.
Diese sollte, »im Gegensatz zur Weimarer Republik, den Faschismus mit der Wurzel ausrotten, ihm seine materielle Basis durch die Enteignung des faschistischen Trustkapitals entziehen und sich, wieder im Gegensatz zur Weimarer Republik, in der Armee, der Polizei und im Beamtenapparat zuverlässige Verteidiger der demokratischen Freiheiten und der demokratischen Volksrechte schaffen. In der neuen, demokratischen Republik wird, im Gegensatz zu Weimar, nicht die Großbourgeoisie, gedeckt durch eine Koalition mit einer Arbeiterpartei, ihre wirtschaftlichen und politischen Anschläge gegen das Volk richten können, sondern die einige Arbeiterklasse, vereint mit den Bauern, dem Mittelstand und der Intelligenz in der Volksfront, wird das Schicksal des Landes bestimmen.«
Dies würde »nicht den Verzicht der Arbeiterklasse auf den Kampf um den Sozialismus« bedeuten, vielmehr würden in einem solchen Deutschland »die sozialistischen und kommunistischen Arbeiter und ihre Organisationen die volle Freiheit haben, die Mehrheit des Volkes für das sozialistische Ziel zu gewinnen.«
»Der Faschismus bekämpft die Organisationen der Arbeiterklasse nicht für das, was sie tun, sondern für das, was sie sind beziehungsweise potenziell werden können.«
Mit Blick auf die im Prager Manifest geforderte »sofortige Durchführung einschneidender politischer und sozialer Maßnahmen zur dauernden völligen Entmachtung« des Faschismus ergaben sich jedoch so viele Überschneidungspunkte, dass sich, zumal unter dem Eindruck der gemeinsamen Unterdrückungserfahrung im Reich, die Verbindungen zwischen Sozialdemokratinnen und Kommunistinnen verbesserten.
Doch die Annäherung an der Basis stand in scharfem Kontrast zu der fortgesetzten Distanz auf der Ebene der Parteileitungen: Anders als die ebenfalls antifaschistischen Widerstand leistenden italienischen Sozialisten und Kommunisten, die im August 1934 in Paris ein – mit Unterbrechungen mehr als zwei Jahrzehnte haltendes – Aktionseinheitsabkommen unterzeichneten, war die SPD-Führung entgegen dem Geist des Prager Manifests nicht im Geringsten zu einer vergleichbaren Übereinkunft mit der KPD bereit. Stattdessen klüngelten Vertreter der SPD-Führung im Frühjahr 1934 in Kopenhagen mit Emissären unzufriedener Militärs und dissidenter Faschisten. Sie überlegten, ob sie nicht eine Militärdiktatur in Deutschland unterstützen sollten, und bewiesen damit die Richtigkeit von Brechts Satz: »Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz.«
In dem beim SPD-nahen Verlagshaus Dietz in Bonn erhältlichen Sammelband Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie hat das Prager Manifest einen zwar dauerhaften, aber randständigen Platz im Ehrenhain der Parteigeschichte erhalten – übrigens ebenso wie das Marx-Engels’sche Manifest der Kommunistischen Partei, mit ähnlich geringer politischer Konsequenz für die Gegenwarts-SPD. Zwar bekannte sich der zwischenzeitlich nach London geflüchtete Vorstand der Exil-SPD 1944 erneut zum Prager Manifest. Das Dokument blieb aber mit Blick auf die weitere Parteigeschichte bestenfalls Hoffnungsschimmer linker Sozialdemokraten, die in den Schoß der »Mutterpartei« zurückkehrten, schlimmstenfalls wurde es als Kuriosum behandelt.
Das SPD-offiziöse Lexikon des Sozialismus formulierte lapidar, dass »das Dokument sehr bald jegliche praktische Bedeutung [verlor]«, weil »die Politik, die in diesem Manifest proklamiert wird, Entwicklungen voraussetzte, die nicht eintraten« und stahl sich durch das Fehlen jedes diese Entwicklungen möglicherweise beeinflussenden Subjekts aus der Affäre. Die krude Behauptung des einstigen SPD-Bundestagsabgeordneten Lothar Löffler, wonach viele, – darunter sein Vater – wegen des Manifests »mehrere Jahre länger im Zuchthaus verbringen« mussten, entsprang der Vorstellungswelt eines rechten Flügelmannes, der selbst im Rückblick noch glaubte, dass sich sogar im Faschismus ein angepassteres Verhalten auszahlen könnte.
Diese Illusion ignoriert gekonnt den Hinweis Antonio Gramscis, wonach der Faschismus die Organisationen der Arbeiterklasse nicht für das bekämpft, was sie tun, sondern für das, was sie sind beziehungsweise potenziell werden können. Der von dieser Erkenntnis unbefleckte Löffler sah »einige linke Ideologen« in der »Emigration« am Werk, die mit dem Prager Manifest »die mehrheitlich reformistisch eingestellte Partei Stück für Stück nach links«, das heißt »in die Nähe der Kommunisten« zu rücken gesucht hätten.
Der Autor des so geschmähten Manifests wurde selbst kein Zeuge dieses langfristigen Schicksals des von ihm verfassten SPD-Programms: Rudolf Hilferding starb 1941 in Paris – sein Tod steht ohne Zweifel in Zusammenhang mit den dort in Gestapo-Haft erlittenen Folterungen.
Will man heute, in Zeiten verschärfter politischer und gesellschaftlicher Rechtsentwicklung, dem eigenen antifaschistischen Anspruch gerecht werden und die richtigen Schlüsse aus den historischen Erfahrungen ziehen, kann das Prager Manifest bei historisch-kritischer Auswertung durchaus noch inspirieren.
Allerdings darf nicht die desaströse Politik der SPD-Führung der »Anpassungstendenz […] an vorgegebene Machtverhältnisse« (Abendroth) zum Vorbild werden. Stattdessen ist der Zusammenschluss und die bewusste Weiterentwicklung der demokratischen Potenziale, die sich gegen alle Rechtsentwicklungen wenden, anzustreben. Hierbei stellt, wie der Sozialwissenschaftler Reinhard Opitz einmal sagte, die »Einsicht in die Unvereinbarkeit des Faschismus mit den eigenen Interessen […] den ersten Schritt des Prozesses der politischen Bewußtwerdung dar«.
»Eine Liaison mit einer von rechten Kräften in Gestalt von Friedrich Merz oder Carsten Linnemann geführten Union bewahrt gerade nicht vor einer fortgesetzten Rechtsentwicklung.«
Diesen Prozess anzustoßen, zu vertiefen und zu zielgerichtetem politischen Handeln zu führen, ist eine der zentralen Aufgaben eines effektiven Antifaschismus. Obwohl ein solcher Antifaschismus immer breiter als eine »Linke« im engeren Sinne sein muss, zwingt seine unabweisbare Notwendigkeit zugleich dazu, die immer noch nicht obsolete Frage zu klären, was es heute in Anbetracht geschichtlicher wie aktueller Versäumnisse und Fehlleistungen heißt, praktisch wirksam links zu sein.
Während die Referenzen seitens der SPD auf das Prager Manifest in jüngerer Zeit allenfalls nebulös bleiben, warten auch Gliederungen der Linkspartei mit Papieren auf, die einen »hilflosen Antifaschismus« zeigen. So ist von »Bündnisse[n] in den Parlamenten« die Rede, die man als Linke einzugehen habe, um dafür zu sorgen, dass »keine demokratische Partei mit der AfD parlamentarisch zusammenarbeitet«. Das ist so wenig- und zugleich vielsagend formuliert, dass sich damit sogar Übereinkünfte mit der CDU rechtfertigen ließen – was unter dem Schlagwort einer falsch verstandenen »Einheit der Demokraten« wohl auch so gemeint ist.
Bei diesem Slogan tritt häufig in den Hintergrund, dass viele derjenigen, die sich damit selbst meinen, bestenfalls sehr unzuverlässige Demokraten sind. Eine Liaison mit einer von rechten Kräften in Gestalt von Friedrich Merz oder Carsten Linnemann geführten Union bewahrt jedoch gerade nicht vor einer fortgesetzten Rechtsentwicklung. Sie anzustreben, rangiert in Sachen strategisches Niveau in etwa bei der Kompromisspolitik der SPD aus Weimarer Zeiten. Von den positiven Einsichten des Prager Manifests fehlt hier jede Spur.
Jetzt ist aber die Zeit, mit den in dieses neunzig Jahre alte Manifest eingeflossenen Einsichten – oder, noch besser, mit den Auswertungen der Brüsseler und Berner Konferenzen – im Gepäck nach einer Einheit demokratischer Kräfte zu streben. Diese sind deswegen demokratisch, weil ihr Kampf auf die Schaffung »einer die Mehrheit der Bevölkerung umfassenden antifaschistischen Front gerichtet« ist. Hierbei führt die »Konfrontation mit den vorhandenen faschistischen Tendenzen« diese Bevölkerungsmehrheit »in praktische Auseinandersetzungen mit dem Monopolkapital«, in dessen Interesse die rechten Kräfte wirken. Eine solche Einheit der demokratischen Kräfte darf nicht erst nach einer mit 1933 vergleichbaren Zäsur in Angriff genommen werden.
Phillip Becher ist Sozialwissenschaftler. Bei PapyRossa erschien seine Studie Faschismusforschung von rechts sowie der Basiswissen-Band zum Thema Rechtspopulismus.
Katrin Becker arbeitet als Literaturwissenschaftlerin. Sie forscht zu Literatur- und Kulturtheorie an der Schnittstelle von Form und Politik sowie zu literarischen Repräsentationen sozio-ökonomischer Ungleichheit.
Kevin Rösch ist Politökonom. Er forscht zur Geschichte des ökonomischen Denkens und zur globalen politischen Ökonomie.