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10. Juli 2025

Es gibt keinen Kapitalismus ohne Spekulation

Wenn es in der Wirtschaft mehr Spekulation als sinnvolle Investitionen gibt, ist der Weg in die Katastrophe geebnet, warnte John Maynard Keynes. Doch die vermeintlich klare Grenze zwischen Investition und Spekulation ist eine Illusion.

Trader an der Wall Street in New York.

Trader an der Wall Street in New York.

IMAGO / Xinhua

»Als Luftblasen in einem stetigen Strom des Unternehmertums richten Spekulanten kaum einen Schaden an«, schrieb John Maynard Keynes im zwölften Kapitel seiner Allgemeinen Theorie – dem nach wie vor besten Text, der je über Spekulation geschrieben wurde. Weiter heißt es dort: »Die Lage wird jedoch ernst, wenn das Unternehmertum nur noch ein Bläschen im Strudel der Spekulation ist. Wenn die Kapitalbildung in einem Land ein Nebenprodukt der Aktivitäten eines Spielkasinos wird, dann wird diese Aufgabe alles andere als gut erledigt.«

Er schrieb dies in den 1930er Jahren, inmitten der Weltwirtschaftskrise. Die anhaltende Rezession konnte durchaus als »Vergeltung« für die Exzesse des vorangegangenen Jahrzehnts und die große Spekulationswelle der 1920er Jahre interpretiert werden. Für einen humanen Liberalen wie Keynes liegt der Sinn der Politik darin, derartige »Manien« zu verhindern und – wenn dies nicht gelingt – zumindest die unvermeidlichen Folgen abzumildern. Diese Ansicht dominierte den ökonomischen und politischen Mainstream nach der Veröffentlichung von Keynes’ Allgemeiner Theorie etwa vier Jahrzehnte lang.

Natürlich gab es schon damals Andersdenkende. Andrew Mellon, der von 1921 bis 1932 unter drei republikanischen Präsidenten als US-Finanzminister amtierte, riet Herbert Hoover, den Crash in seiner ganzen »therapeutischen Pracht« wirken zu lassen: »Liquidieren wir Arbeitskräfte, liquidieren wir Aktien, liquidieren wir die Farmer, liquidieren wir Immobilien. Säubern wir das System von allem Verfaulten«, forderte er eindringlich. Für ihn war klar: »Die hohen Lebenshaltungskosten und der hohe Lebensstandard werden sinken.« Aber: »Unternehmungslustige Menschen werden die Trümmer der weniger kompetenten auflesen.« Ähnliches liest man bei einem Propheten des Sozialdarwinismus, Herbert Spencer: »Heilung kann nur durch Leid kommen.« Oder auch bei Deutschlands Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble, der während der Eurozonenkrise seine Oma zitierte: »Großzügigkeit kommt kurz vor Liederlichkeit.« Sprich: Wenn eine ökonomische Katastrophe eintritt, sollte man sie ihren Lauf nehmen lassen – ganz unabhängig von den menschlichen Kosten.

Mellons Verweis auf einen »hohen Lebensstandard« und Schäubles »Liederlichkeit« bringen eine klassisch protestantische Moralvorstellung zum Ausdruck: Harte Zeiten sind nicht per se schlecht; sie stählen und stärken uns. Spekulation hingegen ist sündhaft und muss gebüßt werden. Ebenso ist die notwendige »Neuordnung« nach einer Spekulationsorgie ein Grundpfeiler der österreichischen Wirtschaftslehre nach Ludwig von Mises und Friedrich Hayek. Spekulationsblasen, hervorgerufen durch leicht verfügbare Kredite, führen zu Fehlinvestitionen, zu einer falschen Allokation von Ressourcen, die nur durch eine massive Pleitewelle und damit einhergehender Arbeitslosigkeit korrigiert werden kann. Selbst Linke hatten eine gewisse Freude am ökonomischen Ausmisten, das auf den Crash von 1929 folgte: »Man konnte sich der Begeisterung über den plötzlichen, unerwarteten Zusammenbruch dieses dummen gigantischen Betrugs nicht entziehen«, so beispielsweise Edmund Wilson.

»Gute« Investition oder »schlechte« Spekulation?

All diesen Ansichten ist die Annahme gemein, man könne »gute« Investitionen leicht von »schlechter« Spekulation unterscheiden. Aber ist das wirklich so? Keynes jedenfalls war davon überzeugt. In dem Abschnitt, der unmittelbar vor dem einleitenden Zitat dieses Artikels steht, schrieb er: »Wenn ich mir den Begriff Spekulation für die Tätigkeit, die MarktpsychoIogie vorherzusagen, zu eigen machen darf und den Begriff Unternehmertum für die Tätigkeit, den künftigen Ertrag von Vermögensgütern über ihre gesamte Lebensdauer hinweg vorherzusagen, dann ist es keineswegs sicher, dass stets Spekulation gegenüber dem Unternehmertum überwiegt. Mit besserer Organisation der Investmentmärkte steigt jedoch das Risiko, dass die Spekulation die Oberhand gewinnt. Auf einem der größten Investmentmärkte der Welt, nämlich New York, ist der Einfluss der Spekulation […] enorm.« Keynes weiter: »Man sagt, anders als viele Engländer investiere ein Amerikaner selten, um ein laufendes Einkommen zu erzielen. Er werde ohne die Erwartung eines Wertzuwachses kaum eine Investition tätigen. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Amerikaner ihre Hoffnung weniger auf den künftigen Ertrag richten als vielmehr auf eine günstige Entwicklung der klassischen Bewertungsgrundlage – d. h. sie sind im oben genannten Sinne Spekulanten.«

»Dies zeigt ein Problem, das sich in Keynes’ Schriften durchgehend beobachten lässt: Er vermischt Einzelpersonen, die Aktien kaufen, mit einem Unternehmen, das Investitionen in Maschinen und Gebäude tätigt.«

Anders gesagt: Wenn man eine Aktie hauptsächlich in der Hoffnung erwirbt, dass ihr Kurs steigen wird, spekuliert man; wenn man sie hingegen mit der Hoffnung auf ein erfolgreiches Unterfangen und der entsprechenden Dividenden (ein Begriff, der in unseren heutigen Ohren geradezu altmodisch klingen mag) erwirbt, investiert man. Dies zeigt ein Problem, das sich in Keynes’ Schriften durchgehend beobachten lässt: Er vermischt Einzelpersonen, die Aktien kaufen, mit einem Unternehmen, das Investitionen in Maschinen und Gebäude tätigt. Selbst sein Verständnis von Unternehmen hat einen spekulativen Touch: Unternehmen würden nicht mit realem Kapital (und dem Ziel, über Gewinne, die durch Ausbeutung der Arbeiterschaft akkumuliert werden, zu expandieren) betrieben werden, sondern mit dem, was Karl Marx als »fiktives Kapital« bezeichnet hat: Werte, die von einem zukünftigen Einkommensstrom abhängen – also beispielsweise Dividenden bei Aktien, Zinsen bei Anleihen.

Keynes’ vorgeschlagene Abhilfe für das Übel der Spekulation brachte eine traditionell-viktorianische Ader in ihm zum Vorschein: »Das Spektakel moderner Investmentmärkte hat mich gelegentlich zu der Schlussfolgerung verleitet, ein nützliches Gegenmittel gegen die Übel unserer Zeit könnte es sein, den Erwerb eines Investments ähnlich wie eine Eheschließung dauerhaft und unauflösbar zu machen, von Todesfällen und anderen schwerwiegenden Gründen abgesehen.« Das ist doch erstaunlich für jemanden, der einst sagte: »Ich bin nach wie vor ein Immoralist und werde es immer bleiben.«

Unternehmertum als Performance Art

Doch je genauer man diese Unterscheidung nach Investition und purer Spekulation betrachtet, desto bizarrer erscheint sie. Die Blase der 1920er Jahre war, wie viele andere Blasen vor und nach ihr, mit Investitionen verbunden, die sich in der Realität als äußerst unklug erwiesen. Zu den unklügsten Investitionsmöglichkeiten gehörten wohl Immobilien in Florida: sogenannte »Waterfront«-Grundstücke, die aber gute zehn Meilen vom nächsten Strand entfernt gebaut wurden; oder Sumpfland, das als angeblich bebaubares Land beworben wurde. Darüber hinaus gab es auch astreinen Betrug, gerade in den neuen Unternehmen des damaligen Jahrzehnts: Stromversorger, Einzelhandelsketten, Autofirmen, Fluggesellschaften, Radio und Film.

Ähnlich gestaltete sich der große Tech-Boom der späten 1990er Jahre. So gab es einige heute weitgehend vergessene unternehmerische Misserfolge wie Kozmo.com, das die Lieferung von Rasierklingen und DVDs innerhalb einer Stunde zu so niedrigen Preisen anbot, dass die Firmeneigentümer bei jeder Transaktion Geld verloren. Oder Pseudo.com, ein Streaming-Unternehmen, das ein riesiges Studio in Lower Manhattan hatte und auf dem Parteitag der Demokraten im Jahr 2000 mehr Fläche erhielt als etablierte Fernsehsender – nur um wenige Monate später finanziell zu kollabieren. Tatsächlich erhielt Kozmo.com Gelder von einigen der größten Namen der Branche, unter anderem von der Chase Bank und der Risikokapitalgesellschaft Flatiron. Der Gründer von Pseudo.com, Josh Harris, räumte 2008 ein, bei seiner Firma habe es sich weitgehend um ein »Scheinunternehmen« gehandelt – »aufwendige Performance Art«, die mit 25 Millionen Dollar Risikokapital finanziert wurde.

»Neben einer Menge wertlosem Nonsens bescherten die Blasen der 1920er Jahre den USA einige langlebige Wohngebäude, Autobahnen und eine Rundfunkinfrastruktur.«

Ein anderes Beispiel für die Vermischung von Investition und Spekulation: Nur wenige Jahre nach dem Platzen der Dotcom-Blase folgte eine riesige Immobilienblase. Es wurde schlichtweg zu viel gebaut und die Preise explodierten. (Wir haben gerade eine andere Immobilienblase hinter uns, in der zwar wenig gebaut wurde, die Preise aber noch extremer in die Höhe schossen.) Das zeigt: Immobilien können Gegenstand riesiger Spekulationswellen sein; gleichzeitig gibt es beim Investieren wohl nichts Greifbarerers als Bauland und Gebäude.

Natürlich hätte keine Spekulationsblase – und das gilt selbst für die Südseeblase von 1720 – ohne die Mithilfe von Bankern und leichtgläubigen Investoren entstehen können. Dennoch sollten sie uns als Erinnerung und Beleg dienen, dass der Unterschied zwischen realen und spekulativen Investitionen oft schwer auszumachen ist.

Kapitalaufbau ohne Spekulation – geht das?

Und tatsächlich führen Blasen nicht selten zu dauerhaften, realen Investitionen. Neben einer Menge wertlosem Nonsens bescherten die Blasen der 1920er Jahre den USA einige langlebige Wohngebäude, Autobahnen und eine Rundfunkinfrastruktur. Die Blase der späten 1990er Jahre brachte uns Amazon.com (sicherlich ein zweischneidiges Schwert, aber zweifellos eine dauerhafte Präsenz in der realen Welt) sowie Millionen Kilometer Glasfaserkabel, die aufgrund extrem optimistischer Prognosen für die zukünftige Nutzung verlegt wurden. Unternehmen wie Global Crossing, das all diese Kabel verlegt hat, gingen pleite. Aber nach mehreren Insolvenzen Anfang der 2000er Jahre haben sich die Nutzungsprognosen letztendlich doch noch bewahrheitet, und die Kabel konnten uns endlich das ersehnte schnelle Internet bringen. Amazon und die Glasfaserkabel waren in gewisser Weise Kollateraleffekte eines größeren Glücksspiels, aber sie haben ganz klar zur Kapitalentwicklung der Vereinigten Staaten beigetragen.

Wie gesagt: Unternehmertum ist oft schwer von Spekulation zu unterscheiden. Wenn eine neue Firma gegründet wird oder ein etabliertes Unternehmen ein neues Produkt auf den Markt bringt, wird ein riskantes Wagnis eingegangen. Die Hersteller wissen schlichtweg nicht, ob ihr unternehmerisches Abenteuer einen profitablen Markt finden wird. Der italienische Ökonom Vilfredo Pareto, der es liebte, Menschen und Gruppen in Typen einzuteilen, ordnete Unternehmer neben Spekulanten in eine seiner Typologien ein und stellte sie in einen Gegensatz zu Rentiers, die lediglich von den Erträgen ihres Vermögens leben: Unternehmer seien demnach im Allgemeinen »abenteuerlustige Seelen, hungrig nach Neuerungen im wirtschaftlichen wie im gesellschaftlichen Bereich und keineswegs beunruhigt durch Veränderungen, da sie erwarten, diese zu ihrem Vorteil nutzen zu können«. Die bloßen Sparer hingegen agierten oft im Stillen und »sitzen jederzeit mit gespitzten Ohren da wie Kaninchen«.

»Echte, unternehmerische Aktivität lässt sich nicht so leicht von Spekulation unterscheiden, wobei nur Letztere als Sünde betrachtet wird. Genau diese moralische Sichtweise verschleiert die tatsächliche Funktionsweise unserer Wirtschaft.«

Diese Sparer klingen sehr nach Keynes’ Investoren, die in einer Art beständiger Ehe mit ihren Aktien und Anleihen leben. Das führt zur Frage: Kann es im Kapitalismus überhaupt Kapitalentwicklung ohne Spekulation geben?

Politisch gesehen, so Pareto, werde die Sparer-Fraktion in der kapitalistischen Familie durch Lohnerhöhungen beunruhigt, da jede daraus resultierende Inflation den Wert ihrer Ersparnisse zu mindern droht. Der spekulative Unternehmer hingegen könne mit Lohnerhöhungen oder neuen Umwälzungen und Unternehmungen bestens leben. Spekulanten und Unternehmer seien somit die treibende Kraft hinter den Veränderungen, die den Kapitalismus in seiner dynamischsten Form charakterisieren. Dies ist im Übrigen auch der Aspekt des Kapitalismus, den Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest ausdrücklich loben. Es sind also die mürrischen Sparer, die letztlich für Stagnation und Austerität verantwortlich sind.

Es bleibt kompliziert

Echte, unternehmerische Aktivität lässt sich also nicht so leicht von Spekulation unterscheiden, wobei nur Letztere als Sünde betrachtet wird. Genau diese moralische Sichtweise verschleiert die tatsächliche Funktionsweise unserer Wirtschaft.

Nur wenige Bereiche der Finanzwelt werden mit so viel Verachtung bedacht wie Derivate – teilweise zu Recht, teilweise zu Unrecht. Derivate sind eine breite Kategorie, die sich am einfachsten als Finanzanlagen definieren lassen, deren Preis von dem Preis anderer Anlagen abhängt. Die einfachste Form ist ein Terminkontrakt, bei dem der Inhaber – je nach dem abgeschlossenen Vertrag – verpflichtet ist, die zugrundeliegende Ware zu einem festgelegten Zeitpunkt zu kaufen oder zu verkaufen. »Futures« auf Weizen gelten als eines der ältesten Beispiele für Derivate: Der Standardkontrakt in den USA umfasst 5.000 Scheffel (136 Tonnen), wobei in den zwei Folgejahren alle zwei bis drei Monate fünfzehn Kontrakte fällig werden. Klassische Nutznießer solcher Vereinbarungen sind Weizenbauer, die einen zukünftigen Preis für ihre Ernte sichern möchten oder, auf der anderen Seite, ein Unternehmen wie Pillsbury, das einen zukünftigen Einkaufspreis für die Rohstoffe für sein Mehl-Business festlegen möchte. Im Handel werden solche Vorgänge als Hedging bezeichnet.

Das klingt alles sehr nüchtern, aber es ergeben sich umgehend Komplikationen: Ein echter Hedger hat keinerlei Haltung oder Emotionen zu der Frage, wie sich die Preise entwickeln könnten; er möchte lediglich einen vorhersehbaren, stabilen Verkaufs- oder Kaufpreis festlegen, ohne dabei irgendwelche Werturteile zu fällen. Möglicherweise hat er jedoch eine Ahnung davon, wie sich die Preise entwickeln werden, und betreibt dann selektives Hedging. Dabei legt man einen Preis fest, wenn man davon ausgeht, dass er sich zum eigenen Ungunsten entwickeln wird (nach oben für einen Käufer, nach unten für einen Verkäufer), aber gerade nicht, wenn man davon ausgeht, dass er sich zum eigenen Gunsten verändern wird. Das Hauptproblem ist, dass die jeweilige Gegenpartei eines solchen Handelsgeschäfts ebenfalls spekuliert: Weizenbauern in Nebraska könnten sich in einem gegebenen Moment dazu entscheiden, keinen Verkaufsvertrag für ihre nächste Ernte zu schließen, weil sie einen zukünftigen Preisanstieg vermuten. Pillsbury hingegen könnte sich entscheiden, keinen derartigen Kontrakt zu schließen, weil es von einem Preisrückgang ausgeht. Der Verzicht auf eine absichernde Vereinbarung für die Zukunft ist somit eine Form der Spekulation.

Lobpreisungen von Terminkontrakten, die deren zweifelhaften Ruf als Spekulationsinstrument entkräften sollen, stützen sich klassischerweise auf die Landwirtschaft – siehe das eben genannte Getreide-Beispiel. Schließlich scheinen derartige Vereinbarungen nicht nur fest in der realen Welt verankert zu sein, sondern sie sind auch die ältesten Instrumente dieser Art. Ihre Ursprünge in den USA können bis ins Jahr 1865 und in Japan sogar bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Die Zeiten haben sich jedoch grundlegend geändert. Seit den 1970er Jahren werden Terminkontrakte ähnlich wie Staatsanleihen, Aktien oder Fremdwährungen gehandelt.

»In den Augen dieser Leute verschwendeten CEOs Geld für Investitionen in den Betrieb, für Angestellte und für die eigenen Boni, anstatt es an die wahren Chefs  auszuschütten: die Aktionäre.«

Derartige zukünftige Vermögenswerte sind faktisch zunächst immateriell. Argumente, die den Vorwurf, es handele sich um Spekulation, entkräften sollen, sind trotzdem schnell zur Hand: Ein multinationales Unternehmen, das beispielsweise in vielen Währungen Geschäfte tätigt, könnte daran interessiert sein, seine Wechselkurse für die nächsten ein bis zwei Jahre durch den Einsatz von Terminkontrakten festzuschreiben – das wäre eine vernünftige Geschäftspraxis. Hier ist der Grat zur Spekulation aber schmal; das Unternehmen könnte sich schließlich auch selektiv absichern. Hinzu kommt: Der fiktive risikofreudige pensionierte Zahnarzt könnte beispielsweise darauf wetten wollen, wie hoch der Wert des japanischen Yen in sechs Monaten sein wird.

Deswegen gilt: Entgegen der Hedger-Märchen sind Terminmärkte entscheidend von der Präsenz von Spekulanten abhängig. Es kann durchaus sein, dass es nicht genügend Landwirte in Nebraska gibt, die solche Zukunftskontrakte verkaufen, um die Nachfrage von Pillsbury zu befriedigen – oder umgekehrt. Aber vielleicht haben einige pensionierte Zahnärzte (oder, was wahrscheinlicher ist, Hedgefonds) eine überaus starke Meinung darüber, wie sich die Weizenpreise in Zukunft entwickeln werden, und kaufen oder verkaufen ihre Kontrakte entsprechend. Diese Geschäfte von sogenannten nicht-kommerziellen Nutzern versorgen den Markt mit Liquidität und erweitern zunächst einmal das Spektrum der Käufer und Verkäufer. (Tatsächlich wird nur ein kleiner Teil der Weizenkontrakte von in der Branche kommerziell tätigen Nutzern gehalten.) Hier wird klar: Es ist wieder einmal schwierig, echtes Unternehmertum mit Kauf und Verkauf klar von Spekulation zu trennen.

Die Shareholder-Revolution

Für einige mögen die Finanzmärkte an sich unweigerlich spekulativ, und alles, was zu weit von »der echten Welt« im Sinne von Produktion, Transport und Verkauf von Waren entfernt ist, moralisch fragwürdig sein. Diese Position ist nicht völlig falsch; sie ist allerdings mit dem Kapitalismus unvereinbar. Man denke an die Allgegenwart der Spekulation, selbst bei der simplen Herstellung von Produkten für den direkten Verkauf: Man weiß nie, ob es wirklich eine Käuferin geben wird, also ist man immer (bis zu einem gewissen Grad) das, was man im 18. Jahrhundert als »abenteuerlustige« Spekulanten bezeichnete. Selbst Produkte, die als sichere Bank gelten, können mit der Weiterentwicklung von Technologie und Märkten von der Einkaufsliste der Verbraucher verschwinden.

Es gibt allerdings einen Aspekt der Märkte, den Menschen, die sich ausschließlich auf Preisbewegungen konzentrieren, möglicherweise übersehen: Märkte sind reale Instrumente der Macht und Kontrolle. Dies ist ein gewichtiger Aspekt der Wirtschaftsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte, beginnend mit der sogenannten »Shareholder-Revolution« der frühen 1980er Jahre: Von der Zeit des Börsencrashs von 1929 über die Weltwirtschaftskrise bis in die ersten Nachkriegsjahrzehnte spielte die Börse kaum eine Rolle für der Führung von Unternehmen – obwohl die Aktionäre faktisch die Firmeneigentümer waren. Aktien wurden meist von Einzelpersonen gehalten, die ihre Handlungen am Aktienmarkt nicht miteinander abstimmen konnten. Manager leiteten die Unternehmen; die Aktionäre lehnten sich zurück und kassierten ihre Dividenden. Es war eine Zeit, in der Keynes’ dauerhafte »Eheschließungen« die Beziehung zwischen Shareholder und Unternehmen prägten. Dies war eine enorme Veränderung gegenüber den Jahren vor dem Crash von 1929, als Finanzakteure die Unternehmenspolitik dominierten. Diese Katastrophe und die darauf folgende Depression hatten dafür gesorgt, dass die Wall Street rund dreißig Jahre lang in Ungnade fiel und sich tatsächlich knapp vierzig Jahre lang weitgehend ruhig verhielt. Darüber hinaus ging es den Unternehmen gut: Die Gewinne waren hoch und die Aktienkurse stiegen.

»Die Übernahme-Piraten forderten eine konsequente Fokussierung auf die Steigerung von Profiten, Aktienkursen und dementsprechend Renditen. Das Gefühl der permanenten Unsicherheit, das die heutige Arbeiterklasse noch immer empfindet, hat seine Wurzeln in dieser Zeit.«

In den 1970er Jahren begann dieses Arrangement aber zu bröckeln. Die Gewinne sanken und mit ihnen die Aktienkurse. Die Unternehmerklasse war sich einig, die mürrische, stets schwierige und unproduktive Arbeiterklasse sei außer Kontrolle geraten. Diese »Probleme« wurden im politischen Bereich mit der neoliberalen Wende der Federal Reserve unter Paul Volcker angegangen: Die Fed trieb die Zinsen auf 20 Prozent und löste damit die tiefste Rezession seit den 1930er Jahren aus. Erschwerend kam Präsident Ronald Reagan hinzu, der aktiv gegen Gewerkschaften vorging und Sozialausgaben kürzte. Diese harten Schläge verängstigten die Arbeiterklasse zutiefst und trieben ihr das aus, was ihre Chefs als »schlechte Arbeitsmoral« erachteten.

Gleichzeitig erwachte die Wall Street aus ihrem Winterschlaf. Die Merkmale der 1950er und 60er Jahre – gute Unternehmensperformance und breit gestreute Besitzverhältnisse –, mit denen die Aktionäre lange Zeit zufrieden und somit ruhig gehalten werden konnten, veränderten sich. Die Unternehmensergebnisse wurden miserabel; und das Eigentum an den Firmen konzentrierte sich zunehmend in den Händen von Institutionen wie Investmentfonds und Pensionskassen. Eine zwielichtige Gruppe von Akteuren, die Firmen übernahmen, startete in den 1980er Jahren einen Krieg gegen Unternehmen, die sie für leistungsschwach hielten. Der Standardmove bestand darin, mit geliehenem Geld Aktien aufzukaufen und das Management zu verdrängen. In den Augen dieser Leute verschwendeten CEOs Geld für Investitionen in den Betrieb, für Angestellte und für die eigenen Boni, anstatt es an die wahren, obersten Chefs (vulgo die Aktionäre) auszuschütten.

Die Übernahme-Piraten forderten aggressive Kostensenkungen und eine konsequente Fokussierung auf die Steigerung von Profiten, Aktienkursen und dementsprechend Renditen. Outsourcing, Entlassungen und Arbeitsbeschleunigung wurden auf die Tagesordnung gesetzt. Das Gefühl der permanenten Unsicherheit, das die heutige Arbeiterklasse noch immer empfindet, hat seine Wurzeln in dieser Zeit.

Anfang der 1990er Jahre waren die Auswirkungen dieser »Shareholder-Revolution« dann bereits institutionalisiert. Die Unternehmensplünderer hatten erfolgreich durchgesetzt, dass Unternehmensvorstände wie Aktionäre denken. Beispielsweise wurden die Vergütungssysteme derart umgestellt, dass sie nicht mehr (ausschließlich) in Gehältern, sondern in Aktien gezahlt wurden. Die Steigerung des Aktienkurses lag damit ebenso im Interesse der CEOs wie im Interesse der Aktionäre. Diese Revolution war natürlich geprägt von Spekulationen – es gab massiv überbewertete Übernahmen, finanziert mit Unmengen an geliehenem Geld. Das hat die westliche Unternehmenslandschaft grundlegend verändert.

Ein anderes Unternehmertum ist möglich

Texte, die darauf abzielen, Unterschiede zu verwischen, die den meisten Menschen klar erscheinen, führen häufig zu Verwirrung bei den Leserinnen und Lesern. Dabei spiegelt diese Verwirrung perfekt die Realität wider: Eine vermeintlich glasklare Distinktion zwischen Unternehmungen (also »echten« Investitionen) und Spekulation ist ebenso wenig korrekt wie die zwischen Geld- und Realwirtschaft. Diese Kategorien mögen Pole eines Spektrums markieren, doch je genauer man hinschaut, desto schwieriger wird es, sie stets voneinander zu unterscheiden und zu trennen. Geld erhält seinen Wert durch reale Transaktionen, doch ohne Geld kann es andersherum keine realen Transaktionen geben. Ebenso gab es diverse Momente in der Geschichte, in denen Spekulation gegenüber »realen« Unterfangen überwogen, doch es gab auch Perioden (wenn auch wenige), in denen diese beiden Motivationen nicht Hand in Hand gingen.

Eine solche vermeintlich klare Unterscheidung wird oft von Apologeten des Kapitalismus bevorzugt: Wenn wir nur den ganzen spekulativen Mist wegwischen und uns auf das wirklich entschlossene, zielstrebige Unternehmertum konzentrieren könnten, wäre alles viel besser. Klar, wäre es das – aber darauf ist der Kapitalismus nunmal nicht angelegt.

Selbst die »tüchtigsten« Unternehmen, die gegründet wurden, um grundlegende Gebrauchswerte wie Lebensmittel, Kleidung und Wohnraum zu verkaufen, sind im Kapitalismus zum Streben nach Profit verdammt. Und da es keine Garantie dafür gibt, dass der Kapitalist seine Produkte verkaufen kann, ist seine Tätigkeit ein Unterfangen, das letztendlich immer spekulativ ist. Für ein wirklich wertschaffendes Unternehmertum bräuchte es nunmal den Sozialismus.

Doug Henwood ist Redakteur bei Left Business Observer und Host des Podcasts Behind the News.