04. November 2023
Wien hat eine lange Geschichte sozialdemokratischer Stadtregierungen, die den Menschen bis heute im Leben nützt. Doch in der Verkehrspolitik sträubt sich die »SPÖ Diesel« gegen gemeinwohlorientierte Konzepte und baut stattdessen immer neue Autobahnen.
Am Wiener Gürtel, wo im Sommer 2020 vorübergehend ein Naherholungsgebiet samt Pool war, fahren schon längst wieder Autos.
Die Sozialistin Anne Hidalgo macht es vor: Seit Beginn ihrer Amtszeit hat die Bürgermeisterin von Paris zahlreiche Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung ergriffen – zur Freude der Radfahrenden und gegen lauten Protest der Autofahrenden. Hildalgos Vorstoß hätte ein Vorbild für sozialdemokratische Parteien werden können. Im Falle der SPÖ Wien ist das nicht passiert. Dabei hätte gerade die starke Wiener Sozialdemokratie die Möglichkeit, viele Projekte umzusetzen.
Die Stadt Wien blickt auf viele Jahrzehnte sozialdemokratische Tradition zurück, seit 1945 waren die Sozialdemokraten immer in der Stadtregierung. Dieser Tradition verdankt die Stadt viele Errungenschaften, im Bereich der Mobilität vor allem ein robustes und relativ günstiges Öffi-Netz. Trotzdem hält die SPÖ überraschend hartnäckig am Auto fest. Spöttisch wird die SPÖ Wien deshalb schon seit längerer Zeit auch »SPÖ Diesel« genannt. Der Spitzname bring kurz und bündig zum Ausdruck, für wen die SPÖ Verkehrspolitik macht: die Reichen.
Denn entgegen dem weit verbreiteten Mythos ist es nicht vorwiegend die arbeitende Klasse, die in Wien Auto fährt. Im Gegenteil: Fast die Hälfte der Haushalte im untersten Einkommensviertel in Österreich hat gar kein Auto. Den geringsten Motorisierungsgrad hat in Wien der durch die migrantische Arbeiterklasse geprägte 15. Bezirk, den höchsten der 1. Bezirk. Klimafreundliche Mobilität und lebenswerte Städte sind also eine Klassenfrage.
Besonders eindrücklich zeigt sich die Betonpolitik der Stadt Wien am Beispiel der Lobauautobahn. Sie war ursprünglich geplant als Monsterprojekt bestehend aus Lobautunnel, Lobauautobahn und Stadtstraße mitten durch das Naherholungsgebiet Donauauen. Tunnel und Autobahn sind nach einer von der grünen Bundesverkehrsministerin Leonore Gewessler in Auftrag gegebenen Reevaluierung durch die Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft vorerst auf Eis gelegt, doch die Stadt Wien kündigte an, gegen die Entscheidung rechtlich vorzugehen.
An der Stadtstraße, die auf lediglich 3,3 Kilometern das Stadtentwicklungsgebiet Aspern mit der sogenannten Südosttangente verbinden soll, auf der sich jetzt schon täglich Pendelnde stauen, hält die Stadt Wien jedoch vehement fest. Widerspruch wird nicht gerne gesehen und führte auch zu repressiven SLAPP-Klagen und der Räumung einer Besetzung der Baustelle durch die Polizei. Die Stadtstraße alleine kostete schon im Jahr 2021 460 Millionen Euro, inflationsbedingt sind es mittlerweile wohl noch mehr.
Die Stadt Wien argumentiert, sie wolle die Wohngebiete entlasten, dabei wäre dafür viel entscheidender, den Autoverkehr zu reduzieren und zu verlagern: Nach dem Induced Demand-Prinzip schaffen neue Straßen nämlich nie Entlastung, sondern bloß mehr Verkehr. Gerade das scheint wohl von der Stadt gewollt, um Wien durch den Anschluss an das transeuropäische Transportnetzwerk TEN-T zu einem attraktiven Wirtschaftsstandort zu machen. Der Ausbau der Straßenbahn auf der Strecke hingegen muss warten, bis die Stadtstraße gebaut ist – dabei können Bahnen selbstverständlich auch Strecken erschließen, auf denen es keine Autoverbindung gibt.
»Beim derzeitigen Tempo wird eine Gleichstellung von Fahrrad- und Autoverkehr voraussichtlich in 750 Jahren erreicht, und das trotz des momentanen Fahrradbooms.«
Zu Zeiten der Klimakrise liegt auf der Hand, wieso es wünschenswert ist, dass weniger Verbrennermotoren auf den Straßen unterwegs sind – und damit auch weniger Straßen gebaut werden sollten. Jedes Kilo Treibhausgase, das weniger in die Atmosphäre gelangt, zählt. Aus Gründen des Platzverbrauchs und der Bodenversiegelung muss aber der motorisierte Individualverkehr insgesamt reduziert werden.
Private Autos brauchen ein Vielfaches mehr Platz, da der Belegungsgrad der Fahrzeuge oft niedrig ist. Den Großteil der Zeit verbringen sie überhaupt im geparkten Zustand, und die Autos werden immer größer: Dadurch werden im schlimmsten Fall der Öffi-, Fahrrad- und Fußverkehr behindert. Auch die Feinstaubbelastung, der Lärm und die Unfallopfer im Verkehr verschwinden durch den Umstieg von Verbrenner- auf E-Motoren nicht automatisch. Diese Parameter können aber verbessert werden, indem man vermehrt auf den ÖPNV, den Fahrrad- und den Fußverkehr setzt.
Mit dem Bau der U5 sowie diverser anderer Öffi-Linien wird parallel zumindest das ohnehin schon gute öffentliche Verkehrsnetz weiter verbessert. Das ist auch bitter nötig, denn Wien wächst weiter. Insbesondere was die Verbindungen der Außenbezirke zueinander sowie Pendlerverbindungen in den Speckgürtel betrifft, gibt es aber selbst in Wien noch Aufholbedarf. Die Intervalle und Verbindungen sind hier oft unzureichend, um den öffentlichen Verkehr zu einer selbstverständlichen Alternative zum privaten Auto zu machen. Im Ergebnis ist der Motorisierungsgrad in diesen Bezirken höher als in zentralen Bezirken, wo selbst reiche Haushalte eher mit den Öffis fahren.
Wien arbeitet also an einer Ringautobahn. Für eine mit Berlin vergleichbare Ring-S-Bahn, die Lücken im Öffi-Netz schließen könnte, gibt es aber keine konkreten Pläne. Selbst im Zentrum von Wien stehen die Öffis oft an roten Ampeln, im Stau, oder werden durch Falschparker an der Weiterfahrt gehindert. Ersteres Problem könnte behoben werden, indem Busse und Straßenbahnen durch intelligente Ampelschaltung grundsätzlich grün haben und nur in der Station zu Halt kommen. Letztere erfordern vor allem eine Verlagerung von Autoverkehr auf andere Fortbewegungsmittel und getrennte Verkehrsflächen in Form von Busspuren oder selbständigen Gleiskörpern.
Insbesondere auf Bezirksebene, wo die SPÖ in nicht weniger als 17 von 23 Bezirken die Bezirksvorstehung stellt, könnten oft entscheidende Weichen für den Fahrrad- und Fußverkehr gestellt werden. Vielfach wären diese Maßnahmen auch vergleichsweise günstig, das Budget ist also keine Ausrede: Niedrigere Tempolimits, längere Grünphasen für Zufußgehende, Pop-Up-Radwege, Grünpfeile für das Rechtsabbiegen von Fahrrädern an roten Ampeln oder das Öffnen von Einbahnen für diese lassen sich im Wesentlichen mit der bestehenden Infrastruktur oder ein paar neuen Tafeln ohne größere bauliche Eingriffe umsetzen. Kleine Maßnahmen, die große Wirkung zeigen können – die nötigen Investitionen von 15 Millionen Euro waren der Stadt Wien dann aber doch zu teuer, um diese teilweise bundesgesetzlich zu verankern.
Die Kilometerzahlen des Wiener Radverkehrsnetzes wirken auf den ersten Blick beeindruckend: Von 1.721 Kilometern ist da die Rede. In Wien gibt es im direkten Vergleich rund 2.800 Kilometer Straßennetz. Bei näherem Hinsehen bleiben aber nur 173 Kilometer reine Radwege übrig, der Rest sind geteilte Verkehrsflächen. Selbst jene Radwege, die rein für den Fahrradverkehr verwendet werden, enden gerne im Nichts, sind zu schmal, oder haben enge Kurvenradien, was etwa die Verwendung mit Lastenrädern erschwert.
Um das Konfliktpotenzial zwischen unterschiedlich schnellen Verkehrsteilnehmenden zu minimieren und Sicherheit für alle zu gewährleisten, sollten Fahrradwege insbesondere vom Fußverkehr getrennt und ausreichend breit sein, um beispielsweise Eltern mit Kindern das Nebeneinanderfahren zu ermöglichen. Die »Mega-Radwegoffensive 2022« der Stadt Wien sprach zunächst von Plänen für 17 Kilometer neue Fahrradinfrastruktur, Anfang 2023 waren aber nur 6,6 tatsächlich fertiggestellt. Atemberaubende 3,5 Kilometer erschließen tatsächlich neue Streckenabschnitte, von großflächiger Verkehrsberuhigung wie innerstädtischem Tempo 30 fehlt sowieso jede Spur. Beim derzeitigen Tempo wird eine Gleichstellung von Fahrrad- und Autoverkehr also voraussichtlich in 750 Jahren erreicht, und das trotz des momentanen Fahrradbooms.
Die Anliegen der Zufußgehenden sind sowieso Nischenthemen, die für die Politik von geringem Interesse sind. Es gibt zwar in einigen Bezirken Masterpläne für die Förderung des Fußverkehrs; manche »Grätzl« erfahren auch – meist in Einkaufsstraßen – eine spürbare Aufwertung. An der Ringstraße und am äußeren Ring, dem Gürtel, wird aber vollkommen klar, dass größere Eingriffe nicht erwünscht sind. Sowohl Ring als auch Gürtel sind auch wegen der Routenführung der Öffis stark von Zufußgehenden frequentiert, die Aufenthaltsqualität lässt aber aufgrund des starken Autoverkehrs bei Tempo 50 zu wünschen übrig. Im Sommer 2020 wurde am Gürtel vorübergehend der Verkehr umgeleitet und ein glorifiziertes Planschbecken installiert, in der Folge kündigte der SPÖ-Bezirksvorsteher Gerhard Zatlokal an, man würde überlegen, in diesem Bereich die Fahrspuren von sieben auf fünf zu reduzieren. Umgesetzt wurde selbst diese Idee nie, von einem permanenten Pool ganz zu schweigen.
»Um die Stadt der Zukunft zu bauen, reicht es nicht, symbolisch ein paar Fahrradstreifen auf vierspurige Straßen zu pinseln.«
Generell werden Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in Wien mit ästhetisch ansprechenden Renderings angekündigt, dann aber oft lust- und mutlos umgesetzt. Favoriten, der 10. Wiener Gemeindebezirk, ist ein klassischer Arbeiterbezirk und fest in SPÖ-Hand. Dort hat die SPÖ vor nunmehr zwei Jahren ein Pilotprojekt zu einem »Supergrätzl« eingeleitet, in Anlehnung an die Superblocks in Barcelona. In Barcelona haben diese Verkehrsberuhigungsmaßnahmen die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum extrem gesteigert. Das Projekt in Favoriten mit seinem einsamen Poller, einem bisschen Farbe und ein paar lieblosen Blumentrögen hätte davon nicht weiter entfernt sein können.
Das Supergrätzl soll nun immerhin dauerhaft bestehen bleiben und bis Sommer 2025 verbessert und »intensiv« begrünt werden. Ähnelt die Begrünung jener der Wiener Gemeindebauten, sieht es aber schlecht aus: Aufgrund mangelnder Pflege starben mehr als ein Drittel der dort gesetzten Jungbäume in den ersten zwei Jahren wieder ab. Auch die Umgestaltung des Verkehrsknotenpunkts Praterstern im 2. Bezirk (ebenfalls SPÖ) zu einer »Oase« ließ eine mutige Umverteilung von öffentlichem Raum vermissen. Autospuren wurden dort keine entfernt, auch das Tempolimit liegt unverändert hoch, dafür wirbt die Stadt Wien mit »dreizehn XXL-Bäumen«.
Die Klimakrise trifft die Ärmsten am schnellsten und am härtesten. Sie sind es, die zu Fuß gehen und die schlecht klimatisierten öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Sie sind es auch, die in renovierungsbedürftigen, schlecht isolierten Mietwohnungen ohne Klimaanlage oder auf der Straße leben und stärker von urbanen Hitzeinseln betroffen sind. Für Erholung und Abkühlung an heißen Sommertagen sind sie mangels Garten auf den öffentlichen Raum und seine Aufenthaltsqualität angewiesen. Und sie sind es, die bei allen Witterungsverhältnissen prekär mit dem Fahrrad Zustellungen tätigen – egal, ob die Infrastruktur dafür sicher ist oder nicht. Für sie sollte die SPÖ Politik machen.
Um die Stadt der Zukunft zu bauen, reicht es nicht, symbolisch ein paar Fahrradstreifen auf vierspurige Straßen zu pinseln. Mobilität muss ganzheitlich betrachtet werden und neue Siedlungen von Grund auf mit nachhaltiger Mobilität als Leitprinzip entworfen werden. Letztlich ist Transport also auch eine Frage der Wohnpolitik – und damit hat Wien ja eigentlich Erfahrung.
Beate Schusta ist Juristin und arbeitet zum Thema Verkehrspolitik.