08. März 2021
Luise Kautsky berichtet aus einer anderen Zeit, in der in Wien der Hoffnungsstern des Sozialismus glühte.
Auszugsweise Übersetzung aus: Luise Kautsky »Vienna under the red flag«, in: The Social-Democrat, No.2/198, Vol. XLVI, October 1929, pp. 5–6.
Der folgende Text stammt aus dem Jahr 1929 und beschreibt die sozialistische Wohnungsbaupolitik der Stadt Wien. Es handelt sich dabei um einen Auszug aus dem Artikel »Vienna under the Red Flag«, den Luise Kautsky (1864–1944) im Auftrag der britischen Zeitschrift The Social-Democrat verfasste und der kurz darauf auch in finnischer und schwedischer Übersetzung erschien. Darin analysiert Luise Kautsky die Voraussetzungen, Maßnahmen und Erfolge der Wiener Kommunalpolitik in den Bereichen Sozialfürsorge, Schulreform und Wohnungsbau. Seit 1919 legitimierte die Wiener Bevölkerung die sozialdemokratische Partei dauerhaft mit absoluten Gemeinderats- und Landtagsmehrheiten, was diese für eine umfassende Steuerreform nutzte. Sie finanzierte damit unter anderem ihr beispielloses Wohnungsbauprogramm, das bis heute einen großer Anteil der Wiener Wohnungen dem »freien« Markt entzieht.
Mit der zunehmenden Ausbreitung sozialistischer Ideen und mit dem wachsenden Einfluss von Arbeiterparteien sowohl in England als auch auf dem europäischen Kontinent übernehmen in vielen Städten Sozialdemokraten die Führung ihrer Stadtregierungen. Dennoch ist Wien bis heute die einzige Millionenstadt, die von einer sozialdemokratischen Mehrheit regiert wird. Nachfolgend soll gezeigt werden, dass der Sozialismus zu reiten weiß, sobald sich ihm die Gelegenheit bietet, in den Sattel zu steigen.
In ihrem vollen Umfang kann die Leistung der Wiener Gemeindeverwaltung nur gewürdigt werden, wenn wir bedenken, dass die Sozialdemokraten erst seit kurzer Zeit an deren Spitze stehen. Vor und während des Krieges stellten sie aufgrund eines ungerechten Wahlsystems nur eine unbedeutende Minderheit im Gemeinderat: nur 8 von 165 Sitzen. Nach den Umwälzungen des Jahres 1918 erhöhte sich 1919 die Anzahl ihrer Sitze auf 100. Danach wurde die Größe des Gemeinderats aufgrund einer Wahlrechtsreform von 165 auf 120 reduziert; die Sozialdemokraten errangen 78 Sitze gegenüber den 42 Sitzen der bürgerlichen Parteien. Bei den ersten Wahlen nach der Revolution im Mai 1919 erhielt die Sozialdemokratische Partei 54,17 Prozent aller in Wien abgegebenen Stimmen; bei den letzten Wahlen (im April 1927) waren es 60,27 Prozent, von den rund 1.150.000 Wahlberechtigten stimmten demnach fast 700.000 für die Sozialdemokraten.
Die Bildung der Stadtregierung basiert auf folgender Grundlage: Wahlberechtigt sind alle Männer und Frauen ab einem Alter von 20 Jahren. Die Stadt ist in 21 Bezirke unterteilt. Jeder Bezirk wählt je nach Größe eine bestimmte Anzahl von Stadträten. Der Gemeinderat wählt den Bürgermeister und 12 Stadträte, die zusammen den Stadtsenat bilden. Die Arbeit der Verwaltung gliedert sich in acht Abteilungen oder Geschäftsgruppen mit festgelegten Aufgaben. Jeder Geschäftsgruppe steht ein Ausschuss gegenüber, der vom Gemeinderat nach dem Proporz-Prinzip gewählt wird. An der Spitze jeder Geschäftsgruppe steht ein Stadtrat, gewählt aus den Reihen des Stadtsenats für die Dauer von fünf Jahren.
Die Einflussmöglichkeiten des Bürgermeisters und der Gemeindeverwaltung werden erheblich verstärkt durch den Umstand, dass Wien durch eine vorausschauende Politik der Sozialdemokraten bald nach der Revolution in eine eigenständige Provinz des Bundesstaates Österreich umgewandelt wurde. Die Stadt Wien besitzt seitdem den Status und die Rechte eines »Landes«. Dies eröffnet eine größere Freiheit und Eigenständigkeit, was wiederum eine sozialistische Kommunalpolitik ermöglicht, speziell in Finanzfragen.
Von Anfang an befasste sich die Gemeindeverwaltung mit drei großen Aufgaben: Wohnungsbau, Sozialfürsorge und Schulreform. Es liegt auf der Hand: Ein solches Programm erfordert zwingend Geld, Geld und nochmals Geld. Die für die Vorhaben benötigten Mittel zu bekommen war die größte Schwierigkeit. Hier sei daran erinnert, dass die Sozialdemokraten zu einem Zeitpunkt in Wien die Macht erlangten, als der Krieg Europa ins Chaos gestürzt hatte – insbesondere Österreich, das einem in seiner Geschichte beispiellosen Scherbenhaufen glich. Der Zerfall des alten Staates Österreich-Ungarn wirkte sich natürlich besonders stark auf die Stadt Wien aus, die zuvor die blühende Kapitale und Hauptresidenz eines 50-Millionen-Reiches, nun aber durch dessen Zusammenbruch von Verödung und völligem Verfall bedroht und dazu gezwungen war, sich in die Hauptstadt eines Agrarlandes mit einer Bevölkerung von gerade einmal sechs Millionen Menschen zu verwandeln.
Instinktiv wandte sich in diesen Tagen fast die gesamte Bevölkerung an die Sozialdemokratische Partei, in der sie die einzig mögliche Retterin sah. Doch in welch schrecklichem Zustand fanden die Sozialisten die städtische Wirtschaft vor! Welch schreckliches Erbe mussten sie übernehmen! Eine leere Stadtkasse, die nicht einmal die unmittelbarsten und notwendigsten Ausgaben decken konnte, welche aufgrund der Inflation rasch weiter anwuchsen. Hinzu kam ein kommunales Steuersystem, das die breite Masse stark belastete – durch Abgaben auf Fleisch und andere unentbehrliche Nahrungsmittel sowie durch hohe Zuschläge auf die staatliche Mietzinssteuer. Die Finanzen erforderten ein sofortiges Handeln. Glücklicherweise fand sich in Hugo Breitner, einem Sozialdemokraten und vormaligen Bankdirektor, die richtige und hervorragend qualifizierte Person für diese schwierige Aufgabe.
Es musste ein völlig neues Steuersystem entwickelt werden, das alle Arten von Luxusgütern besteuerte, denn in diesen düsteren Zeiten der nahezu vollständigen Verarmung stellte die Zurschaustellung von Luxus für Hunderttausende ruinierte Existenzen eine ungeheure Provokation dar. Die Vermögenden wurden belastet, um den Armen und Obdachlosen so weit wie möglich zu helfen. Diese städtischen Luxussteuern kamen unter anderem in Form einer Lustbarkeitsabgabe, einer Nahrungs- und Genussmittelabgabe für Restaurants und Kaffeehäuser, einer Kraftwagenabgabe, einer Hauspersonalabgabe für alle Haushalte mit zwei oder mehr Bediensteten, sowie als Steuern auf Pferde und Hunde. Außerdem erhob die Stadt Steuern auf Fremdenzimmer, Anzeigen und Inserate, auf das Wasser, das sie zur Verfügung stellte, sowie eine spezielle Abgabe auf die Feuerversicherung, die zweckgebunden der städtischen Feuerwehr zu Gute kam. Schließlich wurde auch die sogenannte Fürsorgeabgabe eingeführt, die Arbeitgeber mit 4 Prozent der Lohnsumme ihrer Beschäftigten belastete (die Banken mit 8,5 Prozent). Gerade die Fürsorgeabgabe und die Luxussteuern weckten den Zorn der vermögenden Klassen, und sie liefen immer wieder Sturm gegen die Gesetze, um das neue System zu kippen.
Nicht zuletzt erhebt Wien eine Wertzuwachsabgabe auf Immobilienverkäufe und die sogenannte Wohnbausteuer, deren Bedeutung weiter unten beleuchtet wird. Alle Steuern werden äußerst pünktlich und streng eingezogen. Das schürt den Hass auf die sozialdemokratische Regierung, denn die Mittelklasse-Österreicher zeichneten sich früher als unwillige und schlechte Steuerzahler aus, ohne jede Moral, was ihre Verpflichtungen anging. Jedoch prallen alle Angriffe, Beleidigungen und Drohungen unbeachtet an der eisernen Beharrlichkeit unseres Wiener Finanzstadtrats ab. Es sind diese steuerlichen Maßnahmen, die es der Stadt Wien ermöglichen, jene umfangreichen Maßnahmen auszuführen, durch die sie ihren Ruf erlangte, als erste Gemeinde ein Stück Sozialismus im großen Rahmen verwirklicht zu haben.
Vor allem die Wohnbausteuer brachte der Stadt die finanziellen Mittel ein, die sie für ihre kühne Politik benötigte. Es war besonders die durch den Krieg stark verschärfte Wohnungsnot, die umgehendes Handeln erforderte. Schon vor dem Krieg hatte die überwiegende Mehrheit der Wiener Bevölkerung in äußerst schlechten Wohnverhältnissen gelebt. Die Arbeiterklasse, das Kleinbürgertum und selbst große Teile der Mittelschicht mussten sich mit primitiven Kleinwohnungen begnügen, von denen 90 Prozent lediglich aus einem Zimmer und der Küche bestanden. Im besten Fall besaßen die Wohnungen drei kleine Räume. In den proletarischen Bezirken gab es fast nie eine Toilette oder Wasserleitung innerhalb der Wohnungen. Stattdessen befanden sich diese in den Treppenhäusern oder auf den Korridoren, in manchen Fällen sogar im Hof. So mussten sich zum Teil alle Bewohner eines Hauses eine Toilette teilen, günstigstenfalls nur jene, die im selben Stockwerk lebten. Die Zustände in diesen alten Häusern spotteten jeder Beschreibung. Sie waren buchstäblich menschenunwürdig. Das Gebot der Stunde lautete, diese Bedingungen zu ändern. Bis zum Jahr 1922 konnte aufgrund fehlender Finanzmittel und Baumaterialien nur in geringem Umfang gebaut werden, weshalb zwischen 1919 und 1922 nur etwa 4.000 neue Wohnungen von der Stadt zur Verfügung gestellt wurden.
Erst die am 1. Februar 1923 eingeführte Wohnbausteuer ermöglichte ein umfangreiches Programm. Im September 1923 beschloss der Wiener Gemeinderat den Bau von 25.000 neuen Wohnungen innerhalb der folgenden fünf Jahre. Nach nur vier Jahren war dies erreicht, sodass der Gemeinderat 1927 einen weiteren Fünfjahresplan zur Errichtung weiterer 35.000 neuer Wohneinheiten bewilligte. Bis zum Jahr 1932 wird es so neben den etwa 4.000 kommunalen Siedlungshäusern 60.000 neue Kleinwohnungen geben. Der Stadt gebührt nicht nur Lob und Dank für die Zahl der Wohnungen, sondern auch für den neuen Baustil, der sich so stark von den alten Bauten abhebt, weil dabei ein neuer Geist am Werk ist, der dem Proletariat Licht und Sauberkeit sichert.
Zugegeben, der Gemeinderat errichtete zumeist Mehretagenhäuser mit zahlreichen Wohnungen, während Einfamilienhäuser nur relativ selten gebaut wurden. Doch verfügen diese Mehretagenhäuser über große Innenhöfe mit Gartenbepflanzungen, Kinderspielplätzen und Wasserteichen, die im Winter als Schlittschuhbahnen genutzt werden können. Die Häuser besitzen Bäder, zentrale Waschhäuser oder Waschküchen. Wasserversorgung und Toiletten befinden sich innerhalb der Wohnungen, auch Gas- und Elektrizitätsversorgung sind vorhanden, sodass die Annehmlichkeiten der neuen Wohneinheiten weit über denen der alten Mietskasernen liegen. Diejenigen, die vorher in solchen Mietskasernen gewohnt haben, betonen wieder und wieder, dass sich ihr Leben völlig verändert habe, seit sie in eine Wohnung in den Wiener Gemeindehäusern umziehen konnten.
Es verwundert nicht, dass Repräsentanten der Arbeiterparteien aller Länder in dieses Rote Wien pilgern, um die kreative Kraft des Sozialismus bei der Arbeit zu erleben. Es verwundert nicht, dass sie nach ihrer Rückkehr über dieses Rote Wien berichten, um ihre Zuhörerschaft für die sozialistische Wiederaufbauarbeit zu gewinnen – denn dieses Rote Wien ist eine Quelle des Selbstbewusstseins, der Stärke und der Hoffnung des Proletariats aller Länder. Das Rote Wien zeigt durch seine Anstrengungen und seine Errungenschaften, was wahrer Sozialismus dort erreichen kann, wo seine Verwirklichung möglich ist, und welchen Reichtum nutzbringender Maßnahmen eine sozialistische Zukunft mit sich bringen wird.