19. Juli 2022
Während wir ungehalten in einen katastrophalen Winter schlittern, will die Innenministerin Nancy Faeser schon jetzt die Proteste statt der Preise deckeln. Das sollten wir nicht hinnehmen.
Anstatt weiteren sozialen Verwerfungen entgegenzuwirken, warnt Innenministerin Faeser schon jetzt vor sozialen Unruhen, Berlin, 13. Juni 2022.
Während wir noch unter der Hitzewelle ächzen, kündigt sich durch die massiven Preisanstiege und den Gasmangel ein kalter Winter an. Die Energieversorgung müsste eigentlich schon jetzt vorgeplant werden, doch die Bundesregierung scheint die Krise aussitzen zu wollen. Finanzminister Christian Lindner schließt weitere Entlastungspakete für 2022 aus und Energieminister Robert Habeck gibt der Bevölkerung vorsorglich schon einmal Spartipps. Dass dieser Sparkurs bei gleichzeitig steigenden Preisen die soziale Ungleichheit verschärfen wird, scheint man auch in der Bundesregierung verstanden zu haben, weshalb Innenministerin Nancy Faeser bereits jetzt vor radikalen Protesten warnt. Die Behörden seien auf das neue Protestgeschehen vorbereitet, mahnt sie mit Blick auf die von rechts vereinnahmten Corona-Demonstrationen – und meint doch potenziell jeden Protest. Denn die »Populisten« spalten laut Faeser die Gesellschaft: »Sie wollen Krisen noch verschärfen, um daraus Profit zu schlagen«, warnt sie. Damit lenkt sie die Aufmerksamkeit von der Unfähigkeit der Bundesregierung auf den drohenden – und in diesem Fall – legitimen Protest ab und diffamiert ihn zugleich als rechts. Durch ihre Äußerungen legt sie bereits jetzt fest, dass Protest aus der Bevölkerung nicht toleriert werden wird, obwohl zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht ausgemacht ist, aus welcher Richtung er kommen wird.
Ob in diesem Herbst und Winter tatsächlich Ausschreitungen ähnlich der Gelbwestenbewegung in Frankreich bevorstehen könnten, ist schwer vorherzusehen. Auch hier waren es teure Spritpreise, die das Fass zum Überlaufen brachten. Ähnlich war es bei den Protesten in Chile nach dem Anstieg der Ticketpreise für den Nahverkehr. Entscheidend ist also, wie stark die Preise tatsächlich steigen werden, wie kalt der Winter wird und inwieweit die Ampelregierung nicht doch ihre Blockadehaltung aufgibt und weitere Entlastungen zusichert, etwa durch eine Verstetigung des 9-Euro-Tickets oder ähnliche Maßnahmen.
Doch eines ist klar: Die politische Linke darf den Protest nicht dem Zufall und schon gar nicht der politischen Rechten überlassen. Diese beginnt jetzt schon damit, vor allem im Osten für den Protest zu mobilisieren. Während die Corona-Proteste noch diffus waren, könnte es in dieser Gemengelage zielgerichteter und gefährlicher werden. Denn der Protest gegen steigende Preise wird im Wesentlichen als sozialer Protest angesehen, der weniger durch Verschwörungsmythen und vielmehr durch materielle Realitäten angeheizt wird. Sollte sich die Rechte hier als anschlussfähig erweisen, könnte das auch der stagnierenden AfD trotz innerer Zerstrittenheit und Flügelkämpfen zugute kommen. Auch die Geflüchteten aus der Ukraine sind dann Wasser auf den Mühlen der Rechtsradikalen, die nur darauf warten, dem Protest einen rassistischen und nationalistischen Rahmen zu geben.
So weit darf es gar nicht erst kommen. Die politische Linke darf nicht abwarten und sich an eine amorphe Protestbewegung anbiedern, sondern muss sie selbst organisieren und anführen. Nur so kann sie sicherstellen, dass der soziale Konflikt nicht von rechts vereinnahmt wird. Die Rechten haben einen gewissen Vorsprung, weil sie in den vorigen Krisen ihre Mobilisierungskanäle ausbauen konnten, während die politische Linke die Corona-Krise verschlafen hat. Die gute Nachricht: Wir können schon jetzt aktiv werden und müssen uns diesem Schicksal nicht wehrlos ergeben. Die schlechte Nachricht: Wir müssen genau jetzt damit beginnen, denn die Krise, die da auf uns zurollt, kennt keine Sommerpause.
Genau deshalb diffamiert die Bundesregierung jeglichen Protest schon jetzt und beschwört den politischen Zusammenhalt der »Mitte«. Diese wird immer dann angerufen, wenn Konflikte depolitisiert werden sollen. Eine klassische Taktik des politischen Zentrums. Diese »Mitte« ist aber eine Schimäre, weil sich die Spaltung der Gesellschaft permanent vollzieht. Auch eine vom Abstieg bedrohte Mittelschicht wird von den steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen betroffen sein. Wenn Unternehmen ihre Beschäftigten in Kurzarbeit schicken oder mit Schließungen drohen, ist es mit einzelnen Entlastungsbeiträgen nicht mehr getan. Dann breitet sich die Existenzangst ungehemmt aus.
Auch deshalb hat die Partei DIE LINKE bereits einen heißen Herbst der Proteste angekündigt und einen Fünf-Punkte-Plan gegen die drohende Gaskrise vorgelegt. Doch an politischer Mobilisierung, die dieser Ankündigung nun folgen könnte, fehlt es. Gleichzeitig hat die IG Metall für den September eine Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie angekündigt. Die Ergebnisse der Krankenhausstreiks an Kliniken in Nordrhein-Westfalen sowie der Streiks an den Häfen stehen noch aus. Hier ist die Konfliktbereitschaft so hoch wie selten und es kommt darauf an, ob auch Ver.di dieser Dynamik folgt.
Die klassischen politischen Bündnisse aus Linkspartei, Gewerkschaften, Sozialverbänden und sozialen Bewegungen müssen sich für den Herbst nicht nur erneuern, sie dürfen auch nicht beim gemeinsamen Aufruf stehen bleiben. Sowohl die Tarifverhandlungen als auch die politischen Proteste werden rauer sein als in den Vorjahren. Umso wichtiger, dass der Protest nicht vereinzelt geführt und von den Organisationen in übliche Bahnen gelenkt wird, sondern dass gemeinsame Forderungen kraftvoll nach vorne gestellt werden. Weder monothematische Großdemonstrationen á la Unteilbar noch einzelne Blockaden oder voneinander abgeschottete Streiks werden die Regierung ausreichend unter Druck setzen können. Was es braucht, ist eine konzertierte Aktion der politischen Linken und keine konzertierte Aktion der Regierenden mit Arbeitgebern und Gewerkschaften.
Ihr Erfolg wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit eine Mobilisierung tatsächlich stattfindet, vor allem auch der Deklassierten und am schwersten betroffenen Menschen, die von der politischen Organisierung bisher weitgehend abgekoppelt sind. Dazu muss die gesellschaftliche Linke bereit sein, nicht nur die Ampelregierung frontal anzugreifen, sondern auch die breite Bevölkerung mitzunehmen und über das übliche Klientel hinaus zu mobilisieren. Möglich ist es allemal. Nur muss es jetzt beginnen.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.