07. Januar 2021
Nein, was in Washington stattfindet, ist keine Revolution. Und die amerikanische Demokratie ist nicht akut in Gefahr. Das Gewaltpotenzial der Ära nach Trump ist dennoch groß.
Trump-Anhänger beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar.
Es sind erschreckende Szenen, die sich gestern am Kapitol in Washington abspielten – eigentlich. Vier Menschen starben während der Proteste, unter welchen Umständen ist unklar. Es wurde zwei Sprengsätze entdeckt, wie gefährlich diese waren steht zum jetzigen Zeitpunkt nicht fest.
Überraschend ist das nicht. Besonders innerhalb der Linken wird man sich weiterhin darüber streiten, ob es zielführend ist, Trump als Faschisten zu bezeichnen. Skeptiker führen an, dass diese Art von Rhetorik zu oft von Liberalen benutzt wird, um Kritik am Establishment im Keim zu ersticken und die Linke in eine »antifaschistische Einheitsfront« mit jenen zu zwingen, die die Voraussetzungen für das weltweite Erstarken der extremen Rechten erst geschaffen haben.
Ganz unrecht haben sie damit nicht. Doch nüchtern betrachtet muss man auch feststellen, dass die Ideologie um die Figur Trump, ganz gleich wie man sie bezeichnen will, durchaus wesentliche Elemente des klassischen Faschismus aufweist. Zuvorderst, und das hat sich gestern gezeigt, wird um Trump ein ausgeprägter Führerkult betrieben: Seine Anhänger glauben, er allein sei dazu in der Lage, ein Amerika auferstehen zu lassen, das ihrer daher fantasierten Vergangenheit entspricht, und es »wieder großartig« zu machen. Zweitens – und das ist deutlich gefährlicher – verfügt die Trump-»Bewegung« über Verbindungen in Polizei und paramilitärische Gruppen.
Bemerkenswert ist deshalb auch, was am Kapitol gestern nicht geschah: Es besteht bislang kein Hinweis darauf, dass Trumps Anhänger von Schusswaffen Gebrauch gemacht hätten (bei den vier Toten handelt es sich wohl um Eindringlinge) – obwohl die Basis der amerikanischen Rechten bis an die Zähne bewaffnet ist und sich andauernd in Fantasien über den gewaltsamen Sturz einer »tyrannischen« Regierung ergeht.
Dass sie dennoch letztendlich vor solch einem Umsturz zurückschrecken, zeigt das Verhalten der großen Mehrheit des Trump-Mobs. Wir können davon ausgehen, dass viele von ihnen eine Schusswaffe besitzen, diese aber zu Hause gelassen haben. Vor allem innerhalb des »Prepper«- und »Milizen«-Milieus und der explizit rassistischen White-Supremacy-Bewegung, legen sich Trump-Anhänger oft regelrechte Waffenarsenale an. Klar ist auch, dass es den Rechten niemals ohne das zaghafte Vorgehen einer in weiten Teilen sympathisierenden Polizei gelungen wäre, in das Kapitol einzudringen.
Mit einem imposanten Bestand an Waffen und Munition, paramilitärischen Strukturen und reichlich Sympathisanten unter der Polizei wären die Voraussetzungen für einen Putschversuch von rechts eigentlich gegeben. Wahrscheinlich ist er dennoch nicht. Das Paradoxe an der Situation in den USA ist, dass denen, die tatsächlich Anlass dazu hätten, sich gegen ihre politische Klasse aufzulehnen, die Mittel und der Organisationsgrad fehlen, um das zu tun, während wiederum die gesellschaftlichen Gruppen, die sich auf einen gewaltsamen Umsturz vorbereiten, keinen echten Anlass dazu haben.
Obwohl größtenteils männlich und überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich weiß, speist sich die paramilitärische Rechte in den USA nicht in erster Linie aus der berüchtigten »weißen Arbeiterklasse«. Sie setzt sich vor allen Dingen aus Ranchern, Landbesitzern, der Polizei, privaten Sicherheitsfirmen und dem Kleinunternehmertum der äußeren Vorstädte zusammen – genau die Gruppen, die auch den Kern der Trump-Koalition bilden. Auch in Zeiten von Pandemie und Wirtschaftskrise leiden sie keine Not, einen Ausflug nach Washington zum Randalieren können sie sich locker leisten.
Abgesehen von aller Untergangsrhetorik wissen sie im Grunde auch, dass sie keine kulturell unterdrückte Minderheit sind. In ihren Bunkern im Wald und ihren »McMansions« in der Einbahnstraße können sie weiterhin mehr oder weniger tun und lassen was sie wollen. Und während das Establishment beider Parteien Armut und Elend in den Städten und abgehängten Gegenden auf dem Land gleichgültig akzeptiert, springt die Regierung gleich welcher Konstellation sofort mit großzügigen Hilfsprogrammen ein, wenn eine Wirtschaftskrise ausbricht, die schwerwiegend genug ist, um die obere Mittelklasse zu tangieren – wie jetzt. So abgrundtief der Klassenhass und das national-rassistische Ressentiment der Vorstadt-Rebellen auch ist, ihr Leben ist schlicht und einfach zu bequem, als dass sie es wirklich für den »Führer« opfern würden. Die Maschinenpistole lassen sie also lieber zu Hause, wenn das Kapitol besetzt wird.
Ungefährlich ist diese Situation trotzdem nicht. Denn aus Live-Action-Rollenspielern können mit der Zeit durchaus echte Terroristen und Paramilitärs werden. Schon in den 1990ern erlebte das Land eine rechte Terrorwelle. Schlimmeres könnte noch bevorstehen.
Das Worst-Case-Szenario für die USA ist kein offener Bürgerkrieg. Wohl aber könnte eine Konstellation wie im Nordirlandkonflikt entstehen, wo nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zu den Waffen greift, der dabei aber stellvertretend für einen wesentlich größeren Anteil der Gesellschaft handelt, und sich Polizei und Militär auf verschiedenen Ebenen an dem Konflikt beteiligen, tendenziell auf Seite der Besitzstandswahrer. Ein schwelender, langwieriger paramilitärischer Konflikt wie die Troubles mit vielen zivilen Opfern ist in den USA heute durchaus vorstellbar, auch wenn sich der koloniale Kontext nicht direkt auf die intra-amerikanische Situation übertragen lässt. Gemein wäre der Situation aber, dass sich klassenpolitische Konflikte mit kulturell-ethnischen Spannungen kreuzen und überlagern würden.
Offen ist, wie sich die Republikaner weiter entwickeln werden. Schon seit längerer Zeit zieht ihr alter ideologischer Kern – eine krude libertäre Ablehnung des Gemeinwohlgedankens – nicht mehr richtig. In unsicheren Zeiten des gesellschaftlichen Verfalls bedurfte sie einer autoritären Umdeutung, die das zentrale Versprechen von Trumps Führerkult bildete. Mit dem Abgang von Trump bricht dieses tief widersprüchliche ideologische Gebilde zusammen.
Die Mehrheit der Republikaner will zurück zum Konservatismus der Bush-Jahre, doch es ist unklar, ob dieser Weg gangbar ist. Eine kleine Minderheit, wie etwa Senator Josh Hawley aus Missouri, möchte von Trump lernen und die Wirtschaftspolitik der Partei protektionistischer gestalten sowie ein Lippenbekenntnis zu einem minimalen sozialen Netz ablegen, dafür aber in kulturellen Fragen extrem reaktionäre Positionen einnehmen. Der Konflikt darüber wird bei den nächsten parteiinternen Vorwahlen mit großer Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielen.
Die Geschehnisse am Kapitol sind deshalb auch Ausdruck der Desorientierung der Rechten. Ressentiment und Paranoia gibt es im Überfluss, doch eine klare Ausrichtung fehlt den Konservativen derzeit. Man darf aber davon ausgehen, dass dies nicht so bleibt.
Die Republikanische Partei kann das Monster, das sie schuf, nicht mehr kontrollieren. Doch ohne es wird sie mittelfristig auch nicht leben können. Auf eine zeitweilige oberflächliche Distanzierung wird eine Wiederannäherung der Mainstream-Konservativen an die extreme Rechte folgen. Die vermögende Elite braucht den Hass und die Spaltung der Arbeiterklasse, um das Land auf Dauer unter ihrer Kontrolle zu halten. Auch wenn das konservative Establishment nun von der faschistoiden Versuchung zurückschrecken mag: Lange wird es ihr nicht widerstehen können. Und der liberale Flügel der Oberschicht hat auf die Bedrohung von rechts auch weiterhin keine Antwort. Eine echte Konsolidierung und Ausweitung der amerikanischen Demokratie kann nur eine linke Mobilisierung leisten.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.