29. Januar 2025
Seit dem Sturz des Assad-Regimes hoffen junge Menschen in Syrien auf einen politischen Aufbruch. Unser Reporter reiste nach Damaskus und sprach mit ihnen über ihre Träume, aber auch ihre Ängste. Eine Reportage über die Hoffnungen und die Verunsicherung einer ganzen Generation.
Freundinnen treffen sich auf dem Berg Qāsiyūn.
Es wird Mittag in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Tausende Menschen aus allen Teilen des Landes sind auf den Umayyad-Platz, das politische und geografische Herz der Stadt, geströmt. Über den Platz, um den herum sich einst die Ministerien des frisch gestürzten Regimes befanden, schallt der Ruf: »Das syrische Volk ist geeint.«
Es ist erst fünf Tage her, dass Baschar Al-Assad aus dem Land geflohen ist und eine Gruppe aus diversen Rebellen die Kontrolle über die Hauptstadt übernommen hat. Mitten in der jubelnden Menge befindet sich Abdullah Sakallah, ein 34-jähriger Fotograf und Kameramann, der wie viele andere gekommen ist, um die neugewonnene Freiheit zu feiern. »Dies ist das erste Mal, dass sich wirklich alle versammeln«, meint Sakallah. »Wir versuchen, miteinander in Kontakt zu treten und zu sehen, wie die Menschen reagieren. Wir können es noch gar nicht glauben. Man sagt doch: Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Wir sind hier, weil wir glauben wollen, dass Assad wirklich weg ist und keine Armee mehr auf den Straßen ist. Ich habe so viele gemischte Gefühle, Erinnerungen und Sorgen. Ist das wirklich wahr?«
Wie unzählige andere wurde Sakallah während des 13-jährigen Bürgerkriegs, der auf den Arabischen Frühling 2011 folgte, zwangsweise zum Militärdienst eingezogen. Er war über ein Jahrzehnt lang Soldat, bevor er 2022 aus dem Dienst entlassen wurde. Er sagt: »Ich habe wegen des Militärdienstes meine Jugend verloren. Jeder junge Mann wie ich, der in der Armee gedient hat, hat zehn Jahre seines Lebens verloren.« Nun wolle er in die Zukunft blicken: »Ich habe Hoffnung. Wir haben einen Neuanfang, einen neuen Traum.«
Ein Poster von Baschar Al-Assad wird mit Füßen getreten und überfahren, 12. Dezember 2024.
Unter der Herrschaft von Assad waren Hunderttausende junger Syrer in Nachbarländer wie den Libanon, die Türkei oder Jordanien geflohen, um der Einberufung und somit der erzwungenen Beteiligung an Assads brutalem Krieg zu entgehen. Der frühere Machthaber soll unter anderem für zahlreiche Angriffe mit chemischen Waffen auf die Zivilbevölkerung verantwortlich sein. Wer versuchte, sich dem Militärdienst zu entziehen, musste oft mit grausamer Rache rechnen, darunter Folter und langen Haftstrafen. Schätzungen zufolge wurden über 135.000 Syrerinnen und Syrer von den Truppen des Regimes inhaftiert. Viele Familien werden ihre verschwundenen Angehörigen nie wieder sehen.
»Wir brauchen Zeit, damit die Wunden heilen können. Das ist das Wichtigste; das brauchen die Menschen jetzt«, so Sakallah. »Früher hat jeder junge Mensch in Syrien nur auf ein Ziel hingearbeitet: ins Ausland ausreisen zu können. Sie konnten ihre Träume hier nicht verwirklichen. Das hat sich nun alles geändert. Ich möchte, dass in meinem Land Frieden herrscht. Wir brauchen die Chance, uns zu entwickeln. Wir wünschen uns Demokratie; wir sind ein Volk. So Gott will, wird das auch geschehen.«
Ein bewaffneter Paramilitär beobachtet eine Pro-Demokratie-Demonstration in Damaskus, 19. Dezember 2024.
Der Weg zu einem friedlichen Syrien ist jedoch alles andere als einfach. Ahmed Hussein al-Scharaa – besser bekannt als Al-Dscholani – herrscht als Anführer der wichtigsten islamistischen Rebellengruppe, die das Regime gestürzt hat, über ein Land mit einer Vielzahl religiöser Strömungen und einer gespaltenen Gesellschaft. Die Ministerien werden zunehmend mit Personen besetzt, die Dscholani nahe stehen. Seine Rebellengruppe pflegte einst enge Verbindungen zu Al-Qaida. Dadurch mehren sich die Sorgen bei vielen jungen und säkularen Menschen in Syrien, dass ein tyrannisches Regime lediglich durch ein anderes ersetzt werden könnte. Dscholani hat zwar versprochen, innerhalb der kommenden vier Jahre Wahlen abzuhalten, doch viele Menschen fürchten, dass eine strikt konservative Politik von oben herab durchgesetzt werden könnte.
Demonstranten auf dem Umayyad-Platz, 13. Dezember 2024.
Während die politische Zukunft also ungewiss bleibt, tragen junge Syrerinnen und Syrer ihr neu gewonnenes Gefühl der Freiheit auf die Straße. Auf dem Qāsiyūn, einem Hügel mit Blick auf Damaskus, der unter Assad Sperrzone war, tummeln sich jetzt die Snack- und Shisha-Verkäufer. Von diesem Aussichtspunkt herab erscheint Salah Al-Scheik seine Geburtsstadt in neuem Licht. Der 19-Jährige, der bisher als Reinigungskraft in den Vereinigten Arabischen Emiraten gearbeitet hat, sagt: »Ich bin vor zwei Wochen zurückgekehrt, um meine Familie zu besuchen. Ich hatte nicht vor, zu bleiben, aber jetzt fühlt es sich plötzlich wie ein Zuhause an.« Er hat beschlossen, nicht in die Emirate zurückzukehren, sondern vorerst in Syrien zu verweilen – und abzuwarten, was passiert.
»Ich bin optimistisch. Ich glaube nicht, dass es ein religiöser Staat wie unter den Taliban wird, aber alles ist möglich. Wer weiß? Ich bin es gewohnt, dass die Regierung Scheiße ist«, sagt er mit einem Achselzucken. »Wir alle spielen eine Rolle in der Zukunft Syriens. Wir sollten zusammenhalten, nicht gespalten sein.«
Unter Assad wurden Kunst und Kultur streng kontrolliert, zensiert und als Mittel der Regierungspropaganda eingesetzt. Politische und gesellschaftliche Kritik war strengstens verboten und wurde hart bestraft. Die 41-jährigen Zwillingsbrüder Mohammad und Ahmad Malas kehrten am 21. Dezember erstmals seit ihrer Flucht nach Frankreich im Jahr 2011 nach Syrien zurück. Für sie wurde die Heimkehr auch zu einer wichtigen symbolischen Geste: Sie führten die erste Theateraufführung seit Assads Sturz auf. Das von ihnen geschriebene Stück handelt von der traumatischen Odyssee der Brüder von Syrien nach Frankreich.
Junge Syrerinnen und Syrer feiern in einer Bar in Damaskus. Viele fürchten, die neue Führung könnte striktere Regeln für Alkoholkonsum und das Nachtleben verhängen.
Während des Arabischen Frühlings war der Muchabarat [der syrische Geheimdienst] nachts in das Haus der Brüder Malas eingedrungen, um sie wegen ihrer aktiven Teilnahme an Protesten gegen die Regierung zu verhaften. Die beiden waren gewarnt worden, konnten der Verhaftung entgehen und fliehen. Sie begaben sich auf die gefährliche, zweijährige Reise nach Europa.
»Wir waren gerade beim internationalen Filmfestival in der jordanischen Hauptstadt Amman. Dann wurde das [syrische] Regime gestürzt und wir beschlossen, heimzukehren«, berichtet Mohammad am Tag nach ihrem Theaterauftritt in einem gut besuchten Café im Zentrum von Damaskus. »Jetzt ist Assad der Flüchtling; und die Malas-Brüder sind hier. Das ist wie ein Traum.«
Die Brüder sehen den Sturz Assads als Chance, die Kunstszene Syriens und eine Kultur der politischen Kritik wiederzubeleben. Dies sei für den Aufbau einer Demokratie unerlässlich. »Kunst kann den Finger in die Wunde legen. Kunst kann vielleicht keine Lösung bieten, aber sie kann zeigen, wo das Problem ist«, erklärt Mohammad. »Die Aufgabe der Kunst besteht heute darin, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Menschen hier wissen nicht, wie sie frei sprechen sollen, weil wir lange Zeit unterdrückt wurden. Ein Künstler sollte immer eine politische Haltung einnehmen und von einer besseren Zukunft träumen. Wir wollen ein Syrien für alle, frei von Diktatoren und Militärherrschaft. Wir wollen eine gerechte Regierung. Ich würde lieber das Bild von Al Pacino auf den Straßen sehen als das von al-Dscholani.«
Seit dem Zusammenbruch der Regierung und der Ankunft internationaler Medien nehmen junge Syrerinnen und Syrer verstärkt an Kundgebungen in den großen Städten des Landes teil. Unter ihnen ist auch Alesar Masoud, ein 23-jähriger Student an der Hochschule für Musik in Damaskus. Masoud war in den vergangenen Wochen regelmäßig bei Pro-Demokratie-Demonstrationen. Er setzt sich für Meinungsfreiheit und Säkularismus ein: »Ich möchte, dass meine Stimme gehört wird. Wir wollen ein säkulares Syrien. Wir wollen ein Syrien, in dem man sich frei bewegen, frei sprechen und sich frei ausdrücken kann – ohne die Fesseln des Patriarchats.«
Die Malas-Brüder bei der Aufführung ihres Stücks im Khayyam Theater.
Während einer Veranstaltung auf dem Umayyad-Platz betont er weiter: »Es wird nicht einfach sein, ein demokratisches System aufzubauen, aber ich bin hoffnungsvoll. Unsere grundlegendsten Probleme waren auf das Regime zurückzuführen. Menschen außerhalb Syriens hatten praktisch alles, während wir nichts hatten außer viele, viele Probleme. Nun ist das Leben auch für uns einfacher. Wir können uns endlich auf unsere Kreativität besinnen. Früher durften wir nicht einmal auf der Straße singen.«
In den vergangenen Jahrzehnten wurden etwa 400.000 Menschen im Zuge der israelischen Besetzung palästinensischer Gebiete nach Syrien vertrieben. Inzwischen sind viele Palästinenser in Syrien im Land selbst geboren, gelten aber weiterhin als Geflüchtete. Ihnen wurde nie die volle syrische Staatsbürgerschaft gewährt. Sie lebten besonders oft nahe der Frontlinien des syrischen Bürgerkriegs. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Viertel Jarmuk am Stadtrand von Damaskus, in dem bis zu 160.000 palästinensische Vertriebene leben und das zu einer Art inoffiziellem Flüchtlingslager wurde.
Luftaufnahme von Jarmuk, wo die meisten palästinensischen Geflüchteten in Syrien leben.
In Jarmuk lassen sich die schlimmsten Auswirkungen des Bürgerkriegs ablesen. Das Viertel war von 2015 bis 2018 vom Islamischen Staat besetzt. Tausende Menschen starben, 80 Prozent der Häuser wurden zerstört – und das nur zehn Autominuten vom Zentrum Damaskus’ entfernt. Für die meisten jungen Bewohnerinnen und Bewohner ist Frieden ein Fremdwort.
Nayef Alsahli, ein 24-jähriger palästinensischer Vertriebener und Koch aus Jarmuk, war erst elf Jahre alt, als das Lager von der syrischen Armee eingekesselt und abgeriegelt wurde. »Ich habe einen Granatsplitter im Arm. Der stammt von einer Panzergranate der Assad-Regierung. Ich war damals nicht im Krankenhaus; ich musste zu Hause bleiben. Und deshalb ist der Splitter immer noch da. Nach dieser Verwundung hatte ich ständig Panikattacken.«
Nayef Alsahli spaziert durch die Straßen seiner Heimatstadt Jarmuk. Foto: Santiago Montag
Alsahli hofft, dass eine neue syrische Regierung jungen Menschen wie ihm mehr Freiheit und bessere Chancen bieten wird. Weniger als drei Wochen nach der Machtübernahme in Damaskus reiste er rund 350 Kilometer weit ans andere Ende des Landes, um dort einen Lieferwagen zu kaufen. Dieser soll sein zukünftiger Foodtruck werden. Alsahli will sich eine eigenständige Existenz in Damaskus aufbauen. Unter Assad hätten allein schon die exorbitanten Steuern auf derartige Fahrzeuge ein solches Vorhaben zu einer Unmöglichkeit gemacht. »Wir hatten viele Probleme mit Assad. Zum Beispiel waren die Steuern sehr hoch. Ich möchte meinen Traum verwirklichen. Ich möchte, dass mein Foodtruck schön aussieht – und eine Eismaschine hat«, sagt er.
Er sei sich der künftigen Herausforderungen bewusst, bleibe aber optimistisch, so Alsahli: »Hier wurde mein Vater geboren. Hier wurde ich geboren. Und hier werde ich meine Träume wahr werden lassen.«
Omar Hamed Beato ist ein spanischer Fotojournalist, der im Nahen Osten lebt. Er beschäftigt sich mit den Themenfeldern Konflikte, Klimawandel, Migration und Soziales.