13. Januar 2025
Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 konkurrieren die USA, Russland, die Türkei und der Iran um Einfluss in Syrien. Warum die Macht der USA im Nahen Osten schwinden wird und eine Eskalation der Spannungen zu erwarten ist, erklärt die Politökonomin Helen Thompson.
Anwohner reißen ein Bild des ehemaligen syrischen Präsidenten Baschar al-Assad am syrisch-libanesischen Grenzübergang in der Nähe von Jdaidit Yabws, Syrien, herunter, 9. Dezember 2024.
Seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 war Syrien ein Schlachtfeld für konkurrierende Hegemonen im Nahen Osten. Die USA, die Türkei, Russland und der Iran haben alle versucht, ihren jeweiligen Einfluss auf das zersplitterte Land auszuüben. Dies hat zu ungewöhnlichen Allianzen geführt, wie der gemeinsamen amerikanisch-russischen Kampagne gegen den Islamischen Staat in Syrien oder die US-Unterstützung für die antiimperialistischen kurdischen Kräfte im Norden des Landes.
Helen Thompson, die an der Universität Cambridge in den Bereichen globale Politik, Energie und Geschichte forscht, sprach mit JACOBIN über die Politik der (Groß-)Mächte im Nahen Osten nach dem Sturz des Regimes von Baschar al-Assad. Langfristig gesehen werde die amerikanische Macht in Nahost schwinden, während der Zusammenbruch der Hisbollah, der Wille der Türkei, ihre Macht auszuweiten, und Israels wahrgenommene Schwäche des Irans die Spannungen im Jahr 2025 wahrscheinlich eher verschärfen als verringern dürften.
Der Sturz von Assad erinnert an ein angebliches Zitat von Lenin: »Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert, und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte passieren.« In Syrien gab es eine solche plötzliche Beschleunigung der historischen Ereignisse in kürzester Zeit. Aber liegen dem Sturz von Assad nicht doch politische, wirtschaftliche und energiepolitische Trends zugrunde, die schon viel länger andauern?
Wir versuchen immer noch zu verstehen, was genau passiert ist. Wenn man hier, weit entfernt im Vereinigten Königreich, sitzt, kann man zunächst vor allem festhalten: es ist ziemlich kompliziert. Ich glaube nicht, dass es an der Energiefront etwas gibt, das die Geschehnisse maßgeblich erklären kann. Stattdessen müssen wir über die Auswirkungen der ökonomischen Schwächung des iranischen Regimes über einen längeren Zeitraum hinweg nachdenken und über seine Fähigkeit, sein Klientenregime in Syrien zu unterstützen.
Ich glaube dabei übrigens nicht, dass in der Zeit von Bidens Regierung der iranische Niedergang entscheidend war. Schließlich wurden die US-Sanktionen [unter Biden] nicht so hart durchgesetzt. Wenn man sich den Iran jedoch im Laufe der Jahre ansieht, zurück bis 2018, als die Sanktionen nach Trumps Aufkündigung des Atomabkommens wieder in Kraft gesetzt wurden, gibt es meiner Meinung nach keinen Zweifel daran, dass die wirtschaftliche Entwicklung des Irans insgesamt nicht rosig ist. Für Russland und China war es indes ziemlich schwierig, als externe wirtschaftliche Unterstützung für den Iran zu fungieren. Darüber hinaus haben auch die Sanktionen gegen Syrien seit 2020 dem Assad-Regime geschadet; es war kaum in der Lage, die Gehälter der Armee zu zahlen. Das hat auch eine gewisse Wirkung gehabt.
»Ich glaube nicht, dass man die Ereignisse der letzten Wochen verstehen kann, ohne die Türkei dabei in den Mittelpunkt zu stellen.«
Syrien ist außerdem kein bedeutender Ölexporteur. Soweit das Land in Bezug auf Energie von Bedeutung ist, liegen [die Quellen] im kurdischen Gebiet, im kurdischen Quasi-Staat, und nicht in den Teilen Syriens, die Assad noch bis vor Kurzem kontrolliert hatte. Ich denke, langfristig kann man die Geschichte erzählen – wenn man so will – dass das iranische Regime überfordert ist und die Fähigkeit des Irans, Einnahmen aus dem Ölexport zu erzielen, geschwächt wurde. Aber es kommt natürlich noch mehr hinzu. Wir müssen über die zusätzliche Schwächung des Irans durch Israel nachdenken, insbesondere seit April vergangenen Jahres, verstärkt seit den Pager-Anschlägen [auf Hisbollah-Vertreter], und auch über die bevorstehende Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus. Letzteres hat wiederum [den türkischen Präsidenten Recep Tayyip] Erdoğan ermutigt, seinen Einfluss in Syrien zu verstärken.
Gutes Stichwort: Wie beurteilen Sie die türkische Rolle in der aktuellen Situation in Syrien? Offensichtlich werden gewisse Rebellen im Norden Syriens direkt von der Türkei unterstützt, vor allem um den in Ankara so eingeschätzten »Aktivitäten der PKK« in Rojava entgegenzuwirken. Bisher waren die Verbindungen zwischen der Türkei und der sogenannten Al-Nusra-Front und jetzt der HTS [Hai’at Tahrir asch-Scham] in der Region um Idlib aber weniger direkt.
Die Türkei ist insofern ein merkwürdiger Akteur in der Region, als sie zwar formell Teil der NATO ist, aber eine gemäßigte islamistische und eine Art neo-osmanische expansionistische Agenda hat. Gelegentlich arbeitet sie auch mit Russland und dem Iran zusammen, nicht ideologisch, sondern auf pragmatische Weise. Manche betrachten die Türkei als entscheidenden Akteur in der Region. Welche Rolle wird sie Ihrer Ansicht nach im neuen Syrien spielen?
Ich glaube nicht, dass man die Ereignisse der letzten Wochen verstehen kann, ohne die Türkei dabei in den Mittelpunkt zu stellen. Es ist so, dass das Vorgehen Israels gegen den Iran und insbesondere gegen die Hisbollah eine strategische Chance für die Türkei darstellt. Die Türkei ist der externe Staat, der [den HTS-Führer] Abu Muhammad al-Dscholani entscheidend dazu bewegt hat, zu handeln. Ich denke, nicht unbedingt, um das Assad-Regime zu stürzen: Ich bin mir nicht sicher, ob Erdoğan am 27. November, als die Dinge begannen, tatsächlich so weit oder in diesem Sinne dachte.
Dennoch: Was hat den Druck auf das Assad-Regime so sehr erhöht? Man kann die Aktionen von Dscholani oder auch die nachfolgenden Aktionen der syrischen Nationalarmee gegen den kurdischen Quasi-Staat nicht beurteilen, ohne die Türkei mit einzubeziehen. Schließlich wurden die Aktionen gegen die kurdischen Gebiete vom 6. bis zum 11. Dezember von türkischen Luftstreitkräften unterstützt, bis die Amerikaner praktisch einen Waffenstillstand verhängten. Im langfristigen Sinne könnte man sagen, dass der Kampf um Syrien in den vergangenen zehn Jahren vor allem zwischen der Türkei und dem Iran ausgetragen wurde. Und jetzt hat die Türkei deutlich Oberwasser.
Halten Sie die Behauptung der 2010er Jahre für richtig, dass der syrische Bürgerkrieg nicht nur ein Stellvertreterkonflikt zwischen der Türkei und dem Iran war, sondern auch ein religiöser oder halbreligiöser Krieg zwischen Sunniten und Schiiten (und gegebenenfalls Alawiten)?
Es ist deutlich komplizierter. Ich glaube nicht, dass man die türkisch-iranische Rivalität einfach auf die Formel »Sunniten gegen Schiiten« reduzieren kann. Das wäre zu einfach. [Die Konfession] ist lediglich ein Element der türkisch-iranischen Rivalität. Wenn man die Kontinuität der territorialen Machtausübung in der Region über längere Zeiträume hinweg betrachtet, dann geht es um Ägypten, die Türkei und den Iran.
»Ohne die iranische Intervention wäre das Assad-Regime 2012 womöglich zusammengebrochen.«
Es gibt gewisse abgegrenzte »Einflusssphären«, die teilweise auf das Osmanische Reich, die Safawiden oder das Sassanidenreich zurückgehen, und die sich im Laufe der Zeit ein wenig verschoben haben, aber auch eine gewisse Kontinuität aufweisen, richtig?
Ich würde sagen: Interessant ist vor allem, dass es nach dem Ende des Kalten Krieges eine Zeit gab, in der Assad recht gute Beziehungen sowohl zum Iran als auch zur Türkei unterhielt. In den Jahren vor dem syrischen Bürgerkrieg verbesserten sich die Beziehungen zwischen Assad und der Türkei erheblich. Dann brachen sie sehr schnell ab. Das Assad-Regime befand sich spätestens ab 2012 in wirklich großen Schwierigkeiten. Der Iran kam ins Spiel und wurde von einem Staat, der Syrien effektiv von außen unterstützte, zu einem Player, für den Syrien sozusagen ein Klientelstaat ist; ein Staat, der direkt von den iranischen Revolutionsgarden sowie der Hisbollah unterstützt wird.
Ich finde es interessant, dass Sie zuerst den Iran als die wichtigste – vielleicht nicht Großmacht, aber relativ große – Macht nennen, die Assad unterstützt. In der liberalen anglo-amerikanischen Presse, beispielsweise der New York Times, war man meist der Meinung, Assad werde vor allem von Putins Russland gestützt. Sie scheinen eher der Ansicht zu sein, der Iran sei der zentrale machtsichernder Faktor für Assad.
Richtig ist auf jeden Fall, dass der Iran im Jahr 2012 absolut entscheidend war. Ohne die iranische Intervention wäre das Assad-Regime 2012 womöglich zusammengebrochen. Offensichtlich hatte Assad die Kontrolle über einen nicht unbedeutenden Teil des Gebiets im Nordosten Syriens verloren. Es ist nicht so, dass die Iraner die territoriale Integrität Syriens für Assad in dieser Zeit in den 2010er Jahren garantieren konnten. Selbst mit iranischer Hilfe sah es auch 2014 für Assad weiterhin ziemlich düster aus – wegen des Aufstiegs des IS und seines Kalifats. Der IS veränderte den Kontext, in dem die externen Sponsoren von Assad auftraten. Anders gesagt: Zu diesem Zeitpunkt reichten iranische und Hisbollah-Truppen vor Ort nicht mehr aus; im Kampf gegen den IS waren Luftschläge erforderlich.
So kam es zur russischen Intervention im September 2015. Interessant an diesem Punkt in der Mitte des Jahrzehnts ist, dass es in den ersten neun Monaten des Folgejahres 2016 eine Zeitspanne gibt, in der sich tatsächlich eine amerikanisch-russische Zusammenarbeit gegen den IS abzeichnet. Zwischen dem Putschversuch in der Türkei und Ende September 2016 planen die Russen und die Amerikaner eine gemeinsame Militäraktion gegen den IS. Dann wird ein Flugzeug abgeschossen, und das Ganze ist vom Tisch. Selbst aus liberaler Sicht waren die Russen bis zu Trumps Amtsantritt im Jahr 2016 nicht einfach oder ausschließlich »die Bösen«.
In außenpolitischen Kreisen gibt es in Bezug auf Syrien offensichtlich eine sehr pragmatische Sichtweise auf mögliche Bündnisse. Auch die Unterstützung der USA für Rojava ist ein Beispiel für ein solches »realistisches« oder pragmatisches Bündnis. Denn Rojava ist offen antiimperialistisch und antikapitalistisch – ein sehr merkwürdiger Partner für die Geldgeber von der CIA. In diesen Jahren Mitte der 2010er scheint es – vor allem angesichts der Bedrohung durch den IS – eine Bereitschaft zu geben, ungewöhnliche Allianzen zu schmieden, oder?
In der zweiten Hälfte der Trump-Präsidentschaft treten dann allerdings die Widersprüche der amerikanischen Politik zutage. Auf der einen Seite setzen die USA Luftstreitkräfte gegen den IS ein und brauchen dafür die türkischen Luftwaffenstützpunkte. Wenn es daran geht, im Nordosten Syriens am Boden zu kämpfen, wollen sie, dass die kurdische YPG das tut – was aber wiederum ein großes Problem für die Türken ist. Ende 2019, als es in Syrien so aussieht, als sei der IS besiegt, und Trump sich von jeglichem amerikanischen Engagement zurückziehen will, bedeutet dies auch, dass Erdoğan freie Hand bekommt, um gegen die Kurden vorzugehen.
»Man könnte versuchen, Syrien allein mit der türkisch-iranischen Rivalität zu erklären. Aber man braucht wahrscheinlich auch etwas, das berücksichtigt, wie Erdoğan über Trumps bevorstehende Rückkehr ins Weiße Haus denkt.«
Das entsetzt wiederum andere Leute in Washington, die Rojava als das einzige Bollwerk gegen ein Wiederaufleben des IS sehen. Hier gibt es übrigens einige Parallelen zu Russland und dem Iran: Die Russen stellten die Luftstreitkräfte, die Iraner und die Hisbollah die Kräfte am Boden; ebenso wie die USA die Luftstreitkräfte und die Kurden die Soldaten am Boden stellen. Im Jahr 2024 sah es nun für das Assad-Regime nicht mehr so aus, als ob die Russen bereit wären, viel mehr zu tun, als in den ersten Tagen ihre Luftmacht zu demonstrieren, um Aleppo zu verteidigen. Danach kam [von russischer Seite] nichts mehr.
Sprechen wir über Kausalität, über Ursachen. Anfang der 2010er Jahre entsteht aus dem Arabischen Frühling heraus eine Protestbewegung, die ihren Weg in die Syrische Nationalarmee findet, die sich dann abspaltet. Es kommt zu einer vom Militär mitgetragenen Rebellion, die von der Elite angeführt wird. Syrien endet schließlich in einem Zermürbungskrieg, an dem fünf, sechs verschiedene Seiten beteiligt sind. Das geht schon so, seit ich selbst noch ein Teenager war: eine sehr lange Zeit für Konflikte im 21. Jahrhundert. Und dann löst sich die Situation ganz plötzlich, und der HTS gelingt es, viele der wichtigsten Städte Syriens schnell einzunehmen. Was ist Ihrer Meinung nach die Hauptursache für diesen raschen Wandel, was ist der wichtigste Faktor?
Ich würde sagen: Die Schwächung der iranischen Position durch Israel – insbesondere die Zerschlagung der Hisbollah. Wir brauchen eine kausale Erklärung, die die Niederlage – oder besser gesagt die relative Niederlage – der Hisbollah als eine massive Veränderung der Politik in der gesamten Region betrachtet. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Schwächung der Hisbollah Israel von einigen Dingen entbindet, die es seit dem eigenen Rückzug aus dem Libanon im Jahr 2000 im Allgemeinen zurückgehalten hatten.
Der unmittelbare Auslöser der Ereignisse findet sich jedoch im Nordwesten des Landes; es geht um das grüne Licht von der Türkei. Es braucht daher auch eine Erklärung dafür, wie Erdoğan zu diesem Zeitpunkt die strategische Veränderung in Syrien ausnutzen wollte. Man könnte versuchen, Syrien allein mit der türkisch-iranischen Rivalität zu erklären. Aber man braucht wahrscheinlich auch etwas, das berücksichtigt, wie Erdoğan über Trumps bevorstehende Rückkehr ins Weiße Haus denkt. In gewisser Weise kommt nun die Krise, die sich im Herbst 2019 [zwischen den USA, der Türkei und den Kurden] abgespielt hat, wieder auf den Tisch. Erdoğan konnte nach Trumps Rückzug aus der Region damals weitgehend machen, was er wollte – aber als er weiter ging, als Trump es wollte, wurde er mit ziemlich harten Sanktionen belegt.
»Syrien zerfiel auf eine ziemlich besondere Weise. Rückblickend hat es in gewissem Sinne schon seit 2012 aufgehört zu existieren – seither gibt es keine territoriale Integrität mehr. Es wurde im Nordosten zerstückelt, und dann im Nordwesten.«
Das ist eine interessante Frage: Was denkt Erdoğan wohl gerade? Einerseits hat Trump mit einem relativ isolationistischen Politikkonzept Wahlkampf gemacht. Andererseits scheint er bei der Besetzung der wichtigsten außen- und verteidigungspolitischen Positionen auf altbewährte Neokonservative zu setzen, auf Leute, die durchweg als Falken gelten. Wenn ich Erdoğan wäre, würde es mir schon einiges an Kopfzerbrechen bereiten, wie der außenpolitische Kontext in meinem Teil der Welt, insbesondere in Nordsyrien, unter einer künftigen Trump-Regierung aussehen wird...
Ich würde daran erinnern, dass Trump in Bezug auf den Iran damals eine ziemlich harte Haltung eingenommen hat. Das gilt für die Beendigung des Atomabkommens, die erneute Verhängung von Sanktionen gegen den Iran sowie für die spätere Kritik an der Außenpolitik der Regierung Biden im Nahen Osten und den nordafrikanischen Staaten, die Trump äußerte, sowohl als Biden noch als Präsidentschaftskandidat galt als auch dann, als Harris Kandidatin wurde. Darüber hinaus bemühte sich die Biden-Regierung sehr, einen zweiten großen Angriff Israels auf den Iran zu verhindern; sie versuchte, Israel dazu zu bewegen, weder Öleinrichtungen noch Atomanlagen anzugreifen. Trump hat dieses Vorgehen der US-Demokraten scharf kritisiert.
Ich würde daher davon ausgehen, dass die Sanktionen gegen den Iran von der Trump-Administration verschärft beziehungsweise wieder strenger durchgesetzt werden. Ich glaube aber nicht, dass dies die gleichen ökonomischen Auswirkungen auf den Iran haben wird wie 2018. Damals exportierte der Iran Öl in viele verschiedene Länder, darunter auch europäische Staaten. Jetzt gehen mehr als 90 Prozent der iranischen Ölexporte nach China. Es ist viel schwieriger, Sanktionen durchzusetzen, die China schaden, als die damaligen Sanktionen, die europäischen Ländern geschadet haben.
Was sagt der Sturz von Assad Ihrer Meinung nach über die jüngsten Entwicklungsversuche und Institution-Aufbaumodelle im Nahen Osten aus? Wenn man die jüngsten, von den USA angeführten westlichen Staatsbildungsexperimente in Afghanistan und im Irak mit den früheren Versuchen zum Aufbau von Institutionen im Stil der Baath-Partei und der arabischen Nationalisten in den 1950er und 1960er Jahren vergleicht, was ergibt sich daraus? Die Republik in Afghanistan [2004-2021] war sehr zerbrechlich und hat im Sinne eines praktischen Institutionenaufbaus schlicht nicht funktioniert. Im Falle des Iraks ist die Entscheidung diesbezüglich noch offen. In den 2010er Jahren gab es eine Phase, in der es so aussah, als würde der von den USA errichtete irakische Staat zusammenbrechen, aber er hat sich seit dem sunnitischen Aufstand Anfang der 2000er Jahre bis heute gehalten, was im Rückblick recht überraschend ist. Dann gibt es Staaten, die länger Bestand hatten, wie das baathistische Syrien, wo man vor ein oder zwei Jahren noch gesagt hätte: »Das sind Projekte zum Aufbau von Institutionen, die langfristig Bestand haben können.« Es gab sie in dieser oder jener Form schon seit den 1950er Jahren.
Doch jetzt haben wir innerhalb weniger Wochen den endgültigen Zusammenbruch dieser vom Baathismus aufgebauten Institutionen erlebt. Ich frage mich, was das darüber aussagt, wie Institutionen in der Region aufgebaut werden, sei es von oben herab, durch eine Hegemonialmacht wie die USA, oder organisch und direkt vor Ort...
Daran sind mehrere Dinge interessant. Einerseits kann man eine Geschichte erzählen über die Kontinuität des Baath-Staates in Syrien von 1970 bis 2024, so wie Sie es gerade getan haben.
»Wenn man als Putin erkennt, dass das Assad-Regime stürzen könnte, denkt man vielleicht kurz darüber nach, ob man einige russische Truppen dorthin schicken soll. Letztlich wird man das aber nicht tun, wenn man zeitgleich in der Ukraine einen Krieg führt.«
Geht die Tradition der Baath-Partei an der Spitze Syriens nicht sogar bis in die 1960er zurück?
Okay, sagen wir 1963. Ich habe eher an das Syrien unter den Assads gedacht. Man könnte sagen, dass die Grundlage des Baathismus in Syrien in einem Staatsstreich liegt, durch den Syrien aus der ägyptisch-syrischen Union herausgelöst wurde – die in keiner Weise eine gleichberechtigte Union war, faktisch war Syrien durch die Union an Ägypten angegliedert. Sie endete 1961. Man kann argumentieren, dass es seit diesem Zeitpunkt eine kontinuierliche syrische Staatsstruktur gibt. Dann ist es tatsächlich erstaunlich, dass das Baath-Regime in Syrien trotz aller geopolitischen Krisen im Nahen Osten seit dieser Zeit überlebt hat.
Am erstaunlichsten ist vielleicht, dass das baathistische Syrien das Ende des Kalten Krieges überstanden hat: Immerhin hatte es seit den 1980er Jahren eine Sicherheitsgarantie der Sowjetunion. Es überlebte auch den Sturz des anderen existierenden baathistischen Staates, des Iraks von Saddam Hussein, im Jahr 2003. Vor diesem Hintergrund mutet es sonderbar an, dass Assad und der Baathismus innerhalb von zwei Wochen fallen konnten – es sei denn, man denkt beim Thema Syrien an das Lenin-Prinzip. Syrien zerfiel auf eine ziemlich besondere Weise. Rückblickend hat es in gewissem Sinne schon seit 2012 aufgehört zu existieren – seither gibt es keine territoriale Integrität mehr. Es wurde im Nordosten zerstückelt, und dann im Nordwesten. In diesem Zeitraum, von 2013 bis 2019, hat auch der IS versucht, sein Kalifat in Teilen Syriens und des Iraks zu errichten.
Die gesamte Sykes-Picot-Vereinbarung [die 1916 im Geheimen vom Vereinigten Königreich und Frankreich zur Aufteilung der Reste des Osmanischen Reiches getroffen wurde] wäre damit fast zerbrochen. Ich erinnere mich an IS-Soldaten, die in der Wüste die syrisch-irakische Grenze überschritten und Sykes-Picot für tot erklärten.
Ja, absolut. Nochmals: Es ist nicht so, dass dieses Regime innerhalb von zwei Wochen einfach so zusammengebrochen wäre. Vielmehr sind wir seit mehr als einem Jahrzehnt Zeuge des territorialen Zerfalls des syrischen Staates entlang gewisser bekannter Bruchlinien geworden. Diesbezüglich kann man den Zusammenbruch sogar aus einer noch längeren historischen Perspektive betrachten; wenn man sich die Karte ansieht, auf der die Franzosen das damalige syrische Mandat aufgeteilt haben, nachdem sie es 1920 erhalten hatten – sie haben Syrien ja nicht als eine Art einheitlichen Staat regiert – einschließlich der Abtrennung des Libanon. Dieses Gebiet ging nie an Syrien zurück.
Man könnte sagen, dass es im Großen und Ganzen nur in einem relativ kurzen Zeitraum etwas gab, das man als einen einheitlichen syrischen Staat bezeichnen könnte. Darüber hinaus könnte man meiner Ansicht nach auch argumentieren, dass selbst der einheitliche baathistische Staat immer von einem externen Garanten abhängig war – von der Sowjetunion während des Kalten Krieges und dann vom Iran in der Zeit danach. Übrigens hatte Syrien offenbar auch später immer noch einen gewissen Nutzen für die Russen – Russland war bis vor ein paar Wochen da, um als Rückhalt für die iranische Unterstützung zu dienen.
In Bezug auf Syrien hat sich eine scheinbar einfache Erklärung für Moskaus Verhalten etabliert: »Russland hat sich übernommen. Es hat all seine Ressourcen in den Ukraine-Konflikt gesteckt, es befindet sich in einer Phase imperialer Überforderung. Deshalb ist seine Fähigkeit, Syrien zu unterstützen, beeinträchtigt worden – und deshalb ist Syrien unter Assad so plötzlich gefallen.« Ich nehme an, Sie halten diese Erklärung für überzogen oder vereinfachend?
Nun, es ist nicht so, dass [der Krieg in der Ukraine] komplett unbedeutend wäre. Wenn man als Putin erkennt, dass das Assad-Regime stürzen könnte, denkt man vielleicht kurz darüber nach, ob man einige russische Truppen dorthin schicken soll. Letztlich wird man das aber nicht tun, wenn man zeitgleich in der Ukraine einen Krieg führt.
»Das Letzte, was Erdoğan will, ist die verstärkte Wahrnehmung, dass der IS zurückkehren könnte und eine Bedrohung darstellt. Denn das würde auch bedeuten, dass er selbst Schwierigkeiten bekommt, Gebiete von den Kurden zurückzuerobern.«
Nichtsdestotrotz ist es meiner Ansicht nach offensichtlich, dass das Hauptmittel der russischen Militärintervention in Syrien seit 2015 die Luftstreitkräfte waren. In dieser besonderen Situation, die sich nach dem 27. November 2024 ziemlich schnell entwickelte, war klar, dass die [russische] Luftmacht allein Assad nicht retten würde. Jemand musste die Kämpfe auf dem Boden austragen. Das würde nicht Assads syrische Armee sein, die demoralisiert war und kaum noch bezahlt wurde, oder die ihrerseits erheblich geschwächte Hisbollah.
Bleibt noch der Iran: War die Führung in Teheran zu diesem Zeitpunkt in der Lage, die Präsenz der iranischen Revolutionsgarden in Syrien zu verstärken? Das glaube ich nicht. Ohne eine wirksame syrische Regierungsarmee und ohne die Fähigkeit der Iraner, unter den gegebenen Umständen wirklich etwas Substanzielles beizutragen, ist es sehr schwer vorstellbar, dass nun Putin kommen und sagen würde: »Gut, dann schicke ich eben Truppen hin.« Das ist aber unabhängig von den Vorgängen in der Ukraine; Putin wollte in Syrien von Anfang an nur Luftstreitkräfte einsetzen, keine Bodentruppen.
Es gibt eine Theorie, die man diesen politischen Phänomenen überstülpt. Die Idee stammt von [dem arabischen Philosophen] Ibn Chaldūn aus dem 14. Jahrhundert und seinen Muqaddima, wonach Nomaden oder Kriegsherren in der Peripherie von einer Pendelbewegung der historischen Kräfte profitieren: Ihre Stunde schlägt, wenn der Zentralstaat »dekadent und schwach« wird.
Mit dem Fall der afghanischen Republik wurde diese Theorie wieder populär. Der von den USA angestrebte Staatsaufbau wurde zum großen Teil durch Stellvertreter erreicht: NGOs, Thinktanks, Blackrock und private Söldner wie Blackwater. In Afghanistan gab es unter der US-amerikanischen Hegemonie keine zentralisierte Vorstellung davon, wie der Staat sein oder werden sollte, sondern nur konkurrierende, ausgelagerte Kräfte. Im Gegensatz dazu beherrschten die Taliban die Grundlagen des Staatsaufbaus perfekt. Sie hatten am Rande des Geschehens gelernt.
Ich frage mich, ob das auch auf die HTS zutrifft. Es heißt, Dscholani habe immer wieder Why Nations Fail gelesen. Ist das nur ein Meme? Inwieweit fließt das in die Realität ein? Ich habe jetzt weit ausgeholt für die Frage: Sehen Sie die HTS als eine Organisation, die auf den Status von Warlords und/oder eines Mikrostaates beschränkt bleiben wird, wie sie es bisher um Idlib herum war? Oder wird sie in der Lage sein, die Vielfalt Syriens in Bezug auf Ethnizität, Religion, politische und wirtschaftliche Interessen erfolgreich zu managen? Wird sie es schaffen, die aktuelle Dynamik erfolgreich auszubauen und für sich zu nutzen?
Ich denke, es wird sehr schwierig werden. Selbst wenn man das kurdische Gebiet außer Acht lässt, gibt es beträchtliche Teile Syriens, die die HTS derzeit nicht unter Kontrolle hat. Man kann verstehen, warum Dscholani sich und seine Rebellen als gemäßigt und geradezu technokratisch präsentieren will. Es gibt eine bestimmte Selbstdarstellung der HTS: Man betont die Loslösung vom IS, dass man keine Bedrohung für Israel sei, kein Interesse an den Vorgängen an der israelisch-syrischen Grenze hat, oder gar speziell die Palästinenser unterstützen würde. Anders kann Dscholani die HTS auch gar nicht darstellen. Wenn die HTS auch nur einen Hauch von IS an sich zu haben scheint, wäre es schwer für sie, aus dem Ausland die Anerkennung als Regierung in Damaskus zu erhalten.
Auch Erdoğan wird nicht wollen, dass die HTS und ihre Aktionen als zu radikal erscheinen. Das Letzte, was Erdoğan will, ist die verstärkte Wahrnehmung, dass der IS zurückkehren könnte und eine Bedrohung darstellt. Denn das würde auch bedeuten, dass er selbst Schwierigkeiten bekommt, Gebiete von den Kurden zurückzuerobern. Die Rechtfertigung für den kurdischen Mikrostaat ist in den Augen der USA schließlich der Kampf gegen den IS. Wenn es so scheint, dass der IS wieder zur Bedrohung wird, macht das es der Türkei schwerer, ihr »Kurdenproblem« zu lösen.
»Für Trump dürfte Syrien jetzt ein großes Problem werden.«
Kann man die HTS in gewisser Weise mit dem Asow-Regiment in der Ukraine vergleichen? Asow galt als explizit neonazistisch und rechtsextrem – und wurde in der westlichen Presse während des Euromaidan auch ganz klar so bezeichnet. Dann kommt 2022 und der vollumfängliche Krieg in der Ukraine beginnt. Plötzlich hat Asow dieses neue Image: Einige Meinungsmacher sind überaus bemüht, Asow als eine sehr viel nettere, irgendwie »nur noch« nationalistische, militärische Elitetruppe zu beschreiben.
Ich frage mich, ob ein ähnlicher Prozess in Bezug auf die HTS mit ihren früheren Verbindungen zu und Wurzeln in Al-Nusra und Al-Qaida stattfinden wird. Wenn wir etwas über die US-Außenpolitik wissen, dann, dass sie unglaublich pragmatisch sein kann und auch ein kurzes Gedächtnis hat. Wird es ein solches Wohlwollen gegenüber der HTS geben oder gibt es das vielleicht schon?
Das stimmt. Gerade unter den Republikanern im Kongress gibt es einige Leute, die in der Vergangenheit in diesen Fragen pragmatisch waren, wie Lindsey Graham. Leute wie er klingen aktuell allerdings nicht ganz so pragmatisch. Ich denke, darin unterscheidet sich die Situation von der zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs, als in Washington möglicherweise nicht so große Unterschiede zwischen den Rebellen gemacht wurden, die man schließlich de facto unterstützte. Dabei gab es, wie wir wissen, sogar einen Punkt, an dem sich die von der CIA unterstützten Rebellen und die vom Pentagon unterstützten Rebellen in einem Konflikt gegenüberstanden. Vermutlich hat alles, was seitdem passiert ist, das außenpolitische Establishment der USA etwas vorsichtiger werden lassen. Man denkt jetzt mehrfach nach, wenn es darum geht, welche Gruppierungen zu »unseren Rebellen« gemacht werden oder gemacht werden können.
Bekanntlich unterstützten die Vereinigten Staaten die kurdischen Kräfte sowie Teile der syrisch-sunnitischen Opposition. Doch in Washington sieht man sich in der aktuellen Situation offenbar nicht als Zünglein an der Waage: Verglichen mit dem Iran, der Türkei oder sogar Israel erscheinen die USA in der entstehenden Situation eher als am Rande stehend. Sehen Sie das auch so? Oder würden Sie sagen, dass die Amerikaner immer noch eine wichtige Rolle in Syrien spielen?
Nein, ich glaube, das ist richtig. Hintergrund des Ganzen sind die Schwierigkeiten, die die aufeinanderfolgenden amerikanischen Regierungen hatten, eine kohärente Politik gegenüber Syrien zu finden. Das war unter Obama so, das war unter Trump so. Nur unter Biden war es vielleicht nicht ganz so, denn ab etwa 2020, nach dem Fall des IS, gab es eine gewisse Pattsituation vor Ort. Dadurch war die Lage vier Jahre lang praktisch eingefroren – und diese vier Jahre fielen weitgehend mit der Präsidentschaft Bidens zusammen. Ihm blieben dadurch die Dilemmata erspart, in die sich sowohl Obama als auch Trump verstrickt hatten. Für Trump dürfte Syrien jetzt ein großes Problem werden, auch – oder gerade wenn – man bedenkt, dass er in seiner ersten Reaktion sagte, die Amerikaner sollten mit dem, was in diesem Land als nächstes passiert, nichts mehr zu tun haben.
Helen Thompson ist Professorin für politische Ökonomie an der Universität Cambridge und Autorin von Disorder: Hard Times in the 21st Century.