04. September 2023
Hubert Aiwanger inszeniert sich als Opfer einer Schmierkampagne, Markus Söder nimmt ihn in Schutz. Der Flugblatt-Skandal bleibt ohne Folgen. Das ist bitter, aber zeigt auch: Man schlägt die Rechten nicht, indem man sie moralischer Verfehlungen überführt.
Moralische Empörung kann ihnen nichts anhaben: Hubert Aiwanger und Markus Söder tragen Schutzhelme.
IMAGO / Sven SimonÜber die Posse um Hubert Aiwanger in den letzten Tagen könnte man lachen, wenn sie einem nicht die politischen Realitäten in diesem Land so schmerzhaft vor Augen führen würde. Aiwanger bestreitet, als Jugendlicher ein menschenverachtendes und NS-verherrlichendes Flugblatt geschrieben zu haben. Ihm das nachzuweisen, wäre ohnehin schwierig, und politisch ist die Lage nun entschieden: Markus Söder stellt sich schützend vor ihn, um seine Regierungskoalition in Bayern nicht zu gefährden.
Was können wir aus dem Fall Aiwanger lernen? Erstens ist es politisch kaum aussichtsreich, jemanden über einen Vorfall aus seiner Jugend stürzen zu wollen. Auch wenn das Flugblatt unzweideutig ist und nicht einfach als Jugendsünde abgetan werden kann – immerhin spricht es davon, politische Gegner in Konzentrationslager zu stecken. Hubert Aiwanger hat in Stellungnahmen sein Möglichstes getan, um sich von seinem jugendlichen Ich zu distanzieren und sich als »Menschenfreund« auszugeben. Wir müssen ihm das nicht glauben – viele seiner politischen Aussagen der jüngeren Vergangenheit deuten auf das Gegenteil – aber man wird den heutigen Aiwanger nicht wegen dieses Flugblattes überführen können, ein Rechter zu sein, man muss ihn an seinen heutigen Taten messen.
Das bedeutet zweitens, dass wir in einer politischen Realität angekommen sind, in der ein solcher Skandal nicht mehr die Folgen hat, die er vielleicht haben sollte. Wir müssen uns an den Umstand gewöhnen, dass die Dämme nach rechts, die wir moralisch gefestigt glaubten, längst nicht mehr Bestand haben (oder vielleicht nie wirklich hatten). Verzweifelt weiterhin von »Dammbrüchen« zu reden, verschleiert lediglich diese politische Wirklichkeit.
Zu dieser gehört drittens, dass der Skandal Aiwanger womöglich nicht einmal politisch schaden wird. In den Umfragen werden er und seine Freien Wähler sogar populärer. Das deutet darauf hin, dass Aiwangers Inszenierung als Opfer tatsächlich Früchte trägt und er sogar von dem Skandal profitieren könnte. Ähnlich wie bei Donald Trump wird persönliches Fehlverhalten in politischen Vorteil umgemünzt: Der linke Mainstream, so die Erzählung, wolle Aiwanger »politisch vernichten«. Dass diese Behauptung angesichts des Inhalts des Flugblattes perfide ist, ist unbestritten. Doch diese moralischen Kategorien helfen nicht mehr, wenn wir uns in einer Krise des Politischen befinden, in der es um Fakten und Rechtmäßigkeit nicht mehr geht.
In die rechte Großerzählung, derzufolge der öffentliche Rundfunk und linksgrün versiffte Medien politische Gegner mundtot machen wollten, passt sich dieser Skandal nur zu gut ein. Sich selbst zum politischen Opfer zu machen, obwohl man in einer sehr machtvollen Position ist, gehört mittlerweile zum Standardrepertoire rechter Politikerinnen und Politiker. Vielleicht ist es an der Zeit, ihnen dieses Opfertum zu verunmöglichen, indem man sie konsequent an ihrer Regierungsarbeit misst, an ihren heutigen Aussagen und Widersprüchen, an ihrem unsäglichen Klassenkampf von oben.
»Wir können diesen Kampf nur politisch gewinnen, indem wir zeigen, dass ein Leben jenseits von bürgerlich-konservativen Regierungen lebenswerter und humaner ist.«
Zuletzt zeigt der Fall auch exemplarisch, was es bedeutet, wenn sich bürgerliche Parteien aus Opportunismus und Gründen des Machterhalts immer eher rechten Parteien öffnen, als jemals linke Regierungen zu akzeptieren. Wenn Parteien wie die CDU oder die CSU sich entscheiden müssen – und das gilt für Bayern wie für Sachsen oder Thüringen in den kommenden Landtagswahlen – dann werden sie immer den Weg des geringeren Widerstands wählen und zum Steigbügelhalter des Faschismus werden. Jedes Gerede von der Brandmauer nach rechts wird dann hinfällig.
Das bedeutet nicht, dass man ihnen dieses Verhalten nicht vorwerfen soll, immerhin könnte es zumindest bei Basismitgliedern noch Restbestände von Werten geben. Aber die politische Linke tut gut daran, sich keine Illusionen darüber zu machen, dass ein Markus Söder den politischen Opportunismus perfektioniert hat und konservativ-bürgerliche Parteien ihrer ideologischen Grundausrichtung nach immer eher dem hierarchischen und abwertenden Denken der Rechten zuneigen als einer egalitären Gesellschaft. Söder billigt den politischen Skandal, um die Bayern-Wahl zu überstehen, und genauso wird die CDU künftig eine Zusammenarbeit mit der AfD billigend in Kauf nehmen, um im Osten politisch zu überleben. Je klarer wir das vor Augen haben, desto weniger können wir uns der Empörung hingeben, und umso deutlicher wird, wie die politische Gegenstrategie aussehen muss.
Diese kann nur darin bestehen, den medialen Zirkus zu durchbrechen und selbst konsequent auf die materiellen Folgen bürgerlicher Politik im Leben der Menschen hinzuweisen. Etwa darauf, wie die bayerische Regierung beim Ausbau der Erneuerbaren und in der Energiepolitik versagt, Kliniken chronisch unterfinanziert und seit Jahren mit einem rechten Kulturkampf über Kreuze in Schulen und Lesungen von Dragqueens darüber hinwegzutäuschen versucht.
Die Söders und Aiwangers dieser Welt werden immer dann erfolgreich sein, wenn sie vortäuschen können, das Beste für Land und Leute zu tun. Dieses Fundament muss man ihnen entziehen, denn indem man ihnen auf das Parkett des Kulturkampfs folgt oder sie rechter Gesinnungen überführt, wird man sie nicht drankriegen. Wir können diesen Kampf nur politisch gewinnen, indem wir zeigen, dass ein Leben jenseits von bürgerlich-konservativen Regierungen lebenswerter und humaner ist. Und das tun wir, indem wir konkrete Konzepte anbieten – für eine bessere Daseinsvorsorge, entschlossene Hilfe für Menschen in Not und einen Plan zum Umbau der Industrie bei gleichzeitiger Absicherung von Jobs und sozialen Garantien.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.