01. November 2023
Nach sechs Wochen Streik hat die Gewerkschaft UAW den drei großen US-Autoherstellern bedeutende Zugeständnisse abgerungen. Stimmen die Mitglieder dem Vertrag zu, gibt es nicht nur höhere Löhne, sondern auch neue Arbeitsplätze und ein stärkeres Streikrecht.
Die US-Arbeiterbewegung ist zurück in der Offensive.
IMAGO / ZUMA WireIm Jahr 1936 endete der erste Sitzstreik der United Auto Workers (UAW) 44 Tage nach der Besetzung des General Motors-Werks in Flint, Michigan. Geschichte wiederholt sich: Am vergangenen Samstag, dem 28. Oktober 2023, endete ebenfalls am 44. Tag der sogenannte »Stand-up-Streik« der Gewerkschaft.
Am Wochenende erzielte die UAW eine vorläufige Vereinbarung (tentative agreement, TA) bei Stellantis, dem Unternehmen, das Fahrzeuge der Marken Dodge, Ram, Chrysler und Jeep herstellt. Am 30. Oktober folgte dann die nächste offizielle Vereinbarung, diesmal mit General Motors, dem letzten der drei großen Unternehmen, mit denen die Gewerkschaft verhandelte. Da nun drei TAs erzielt wurden, ist der historische Autostreik – es war das erste Mal, dass die UAW alle »Big Three« gleichzeitig bestreikt hat – ausgesetzt. Ford und GM teilten mit, der Streik habe sie 1,3 Milliarden beziehungsweise 800 Millionen Dollar gekostet.
Die nationalen Gewerkschaftsräte für jeden der drei großen Automobilhersteller werden nun in Detroit zusammenkommen, um darüber abzustimmen, ob der Vertrag den Mitgliedern zur Ratifizierung vorgelegt werden soll. Der Nationale Rat für Ford hat diesen Schritt bereits vollzogen, nachdem Ford als erstes Unternehmen am 25. Oktober eine TA abgeschlossen hatte. Das Gremium beschloss einstimmig, den Deal der Mitgliedschaft zur Ratifizierung vorzulegen. Der nationale Rat für Stellantis wird am 2. November abstimmen, der für GM am 3. November. Die Arbeiterinnen und Arbeiter aller drei Unternehmen werden während dieses Abstimmungsprozesses an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.
»Zu Beginn der Verhandlungen wollte Stellantis 5.000 Arbeitsplätze abbauen. Nicht nur haben wir diese Arbeitsplätze gerettet – wir haben den Spieß umgedreht. Denn bis zum Ende des ausgehandelten Tarifvertrags wird das Unternehmen 5.000 neue Arbeitsplätze schaffen.«
In einem Video, in dem die Einigung mit Stellantis am Samstag verkündet wurde, zeigten sich UAW-Präsident Shawn Fain und Vizepräsident Rich Boyer hochzufrieden. »Wieder einmal haben wir erreicht, was noch vor wenigen Wochen für unmöglich gehalten wurde«, so Fain. »Insbesondere bei Stellantis haben wir nicht nur einen Rekordvertrag erzielt, sondern auch begonnen, das Blatt im Krieg gegen die amerikanische Arbeiterklasse endlich zu wenden. Zu Beginn der Verhandlungen wollte das Unternehmen 5.000 Arbeitsplätze abbauen. Unser unbefristeter Streik hat die Rechnung komplett verändert. Nicht nur haben wir diese Arbeitsplätze gerettet – wir haben den Spieß umgedreht. Denn bis zum Ende des ausgehandelten Tarifvertrags wird Stellantis 5.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Man kann es nicht anders sagen: Wir retten hier wirklich den amerikanischen Traum.«
Der Stellantis-Deal sieht ebenso wie bei Ford und GM Lohnerhöhungen von 25 Prozent auf die Grundlöhne während der Laufzeit des viereinhalbjährigen Tarifvertrags sowie die Wiedereinführung der während der Finanzkrise aufgegebenen Lebenshaltungskosten-Zulagen (Cost-of-living allowances, COLA) vor. Außerdem wird die Anzahl der Jahre, bis eine Arbeiterin den Lohn-Höchstsatz erreicht, von acht auf nur noch drei Jahre verkürzt. Die UAW rechnet vor, dass die Erhöhungen den Spitzenlohn zusammen mit den geschätzten COLA bei Stellantis um 33 Prozent auf über 42 Dollar pro Stunde ansteigen lassen würden.
Der Einstiegslohn, einschließlich der geschätzten COLA, würde um 67 Prozent auf über 30 Dollar pro Stunde steigen. Die am schlechtesten bezahlten Beschäftigten bei Stellantis (nämlich Zeitarbeiter) werden während der Laufzeit des Abkommens eine Lohnerhöhung von mehr als 165 Prozent erhalten. Die TA beseitigt auch die verhassten Lohnstufen bei Mopar, das Teil von Stellantis ist. Somit würden einige Beschäftigte dort nach der Ratifizierung des Tarifvertrags eine sofortige Erhöhung von 76 Prozent erhalten.
Die Stellantis-Vereinbarung beinhaltet nicht nur ein Streikrecht gegen Werksschließungen, wie es auch bei Ford durchgesetzt wurde, sondern zudem das Recht, für gewisse Produkt- und Investitionsentscheidungen zu streiken. [Es ist noch nicht bekannt, ob die GM-Vereinbarung ebenfalls derartige Bestimmungen enthält.] Die UAW sicherte sich auch die Zustimmung von Stellantis, dass das stillgelegte Montagewerk in Belvidere, Illinois, wieder eröffnet wird. Im Zuge der Schließung dieses Werks am 1. März 2023 wurden UAW-Mitglieder in andere Werke im ganzen Land verstreut. Stellantis hat zwar betont, die Schließung sei aus finanziellen Gründen erfolgt, viele Arbeiterinnen und Arbeiter vor Ort hielten sie jedoch für eine überflüssige Maßnahme, mit der vor allem die UAW eingeschüchtert werden sollte. Dass die Schließung rückgängig gemacht wird, hatte für die Gewerkschaft hohe Priorität.
»Will das Management ein Werk schließen, muss es damit rechnen, dass dies eine Arbeitsniederlegung der Arbeiterinnen und Arbeiter in allen Werken zur Folge hat. So sieht echte Job-Sicherheit aus.«
»Durch die Wucht unseres Streiks haben wir Belvidere gerettet«, sagte Boyer dazu. »Vor acht Monaten hat Stellantis das Montagewerk in Belvidere stillgelegt und damit 1.200 unserer Mitglieder auf die Straße gesetzt. Dank unseres Streiks können wir diese und weitere Arbeitsplätze zurückholen. Stellantis wird das Werk wieder eröffnen; und das Unternehmen wird außerdem über tausend weitere Arbeitsplätze in einem neuen Batteriewerk in Belvidere schaffen.« Beschäftigte, die ihren Arbeitsplatz in Belvidere verloren haben, werden nun offiziell »vorübergehend freigestellt«: Sie werden also weiterhin bezahlt und behalten ihre Krankenversicherung auch in der Zeit, bis ihr Arbeitsplatz wiederhergestellt ist. Arbeiterinnen und Arbeiter, die an einen anderen Standort versetzt wurden, haben das Recht, ihren alten Arbeitsplatz zurückzuerhalten.
Die Wiedereröffnung eines stillgelegten Werks ist an sich schon bemerkenswert, aber die Sicherung des Streikrechts für die Investitionsentscheidungen des Unternehmens ist vermutlich ein noch viel größerer Erfolg für die Gewerkschaft. Mehr noch: Es ist ein Schritt nach vorn für die Arbeiterklasse im Allgemeinen. Jahrzehntelang konnten die Führungskräfte angesichts der schwindenden Macht der Arbeiterschaft das Geld und die Ressourcen des Unternehmens nach ihrem Gutdünken einsetzen. Sie ignorierten dabei die Gemeinden und Communities, in denen die Arbeiterinnen und Arbeiter leben – und waren nur den Aktionärinnen und Aktionären gegenüber rechenschaftspflichtig.
Mit dieser Einigung wäre das vorbei: Nun würden die Führungskräfte von Stellantis gezwungen sein, die Bedürfnisse der Arbeiterschaft und der Gemeinden zu berücksichtigen, wenn sie die Zukunft des Unternehmens planen. Will das Management ein Werk schließen, muss es damit rechnen, dass dies eine Arbeitsniederlegung der Arbeiterinnen und Arbeiter in allen Werken zur Folge hat. So sieht echte Job-Sicherheit aus.
»Jahrzehntelang haben wir nur eingeschränkt kämpfen können. Ich sollte sagen: sehr eingeschränkt«, so Fain. »Mit diesem Deal gehen wir jetzt aus der Defensive in die Offensive über; ja, wir gehen über vom verwalteten Niedergang der amerikanischen Arbeiterklasse zu einer neuen Ära in der Automobilproduktion.«
Was die von Boyer erwähnte Stellantis-Batteriefabrik in Belvidere betrifft, so wird auch sie vermutlich unter den Rahmenvertrag der UAW fallen. Das Gleiche gilt für die Arbeiterinnen und Arbeiter in zwei Ford-Batteriewerken. (Die UAW hat bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht auf Anfragen zum Status der Batteriefabrik in Belvidere geantwortet.) Die Beschäftigten des GM-Batteriewerks Ultium Cells werden ebenfalls unter den Rahmenvertrag fallen.
In einer Ansprache per Facebook Live im Anschluss an die Abstimmung des Ford-Nationalrats haben Fain und Vizepräsident Chuck Browning weitere Einzelheiten zum Ford-Abkommen erläutert. Dazu gehört die Bestimmung, dass die Beschäftigten des Werks Blue Oval Battery Park Michigan und des Tennessee Electric Vehicle Center in den Rahmenvertrag der Gewerkschaft aufgenommen werden, sobald sie einen gewerkschaftlichen Organisierungsprozess abgeschlossen haben, wobei bestehende UAW-Mitglieder in bestimmten Werken das Recht auf einen Wechsel erhalten. Es ist unklar, ob andere zukünftige Ford-Batteriewerke ebenfalls in den Rahmenvertrag einbezogen werden.
»Bei allen Big Three werden unmittelbar nach der Ratifizierung Leiharbeiterinnen und -arbeiter, die seit mindestens neunzig Tagen beschäftigt sind, automatisch zu Vollzeitbeschäftigten.«
»Man hat uns jahrelang gesagt, dass die Umstellung auf Elektrofahrzeuge das Todesurteil für gute Arbeitsplätze in der Automobilindustrie in diesem Land sei«, sagte Fain. »Wir sind aufgestanden und haben Nein gesagt. Mit dieser Vereinbarung beweisen wir, dass solche Behauptungen falsch sind. Wir bringen sowohl Arbeitsplätze für die Produktion von Verbrennerfahrzeugen als auch von Batterien zurück nach Belvidere. Wir schaffen 5.000 neue Arbeitsplätze allein in der Antriebstechnik.« Boyer fügte hinzu, der Vertrag verpflichte Stellantis zu 19 Milliarden Dollar an neuen Investitionen. Ford hat sich zu mehr als 8 Milliarden Dollar verpflichtet.
Ein weiterer Erfolg: Bei allen Big Three werden unmittelbar nach der Ratifizierung Leiharbeiterinnen und -arbeiter, die seit mindestens neunzig Tagen beschäftigt sind, automatisch zu Vollzeitbeschäftigten. Damit ist Schluss mit der Praxis der Unternehmen, »Dauer-Zeitarbeitende« mit immer neuen Kurzzeitverträgen zu beschäftigen. Weitere Details sind bisher lediglich aus dem TA mit Ford bekannt: Aushilfskräfte erhalten demnach unverzüglich einen pauschalen Bonus in Höhe von 5.000 Dollar und fallen zukünftig unter die Gewinnbeteiligungsvereinbarung des Unternehmens. Sie erhalten wie ihre Vollzeitkollegen bezahlten Urlaub, beispielsweise wenn sie als Geschworene vor Gericht erscheinen müssen. Alle Autoarbeiter haben nun erstmals Anspruch auf zwei Wochen bezahlten Elternurlaub und bekommen einen zusätzlichen Feiertag (Juneteenth).
Natürlich hat die UAW nicht alles erreicht, was sie sich vorgenommen hatte. So konnte sie keine Renten für alle – inklusive aller Zeitarbeiterinnen und -arbeiter – sichern. Auch diese Leistung war während der Finanzkrise aufgegeben worden. In seiner Ansprache zum Ford-Abschluss räumte Browning dieses Manko ein, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass die Gewerkschaft dennoch erhebliche Fortschritte bei den Rentenleistungen erzielt habe: Die heutigen Rentnerinnen und Rentner werden zum ersten Mal seit sechzehn Jahren wieder eine Jahresprämie erhalten, die aktiven Mitglieder, die Renten beziehen, erhalten zum ersten Mal seit dem Vertrag von 2003 eine Erhöhung des Steigerungssatzes.
In der Zukunft wird die Gewerkschaft besonders wachsam sein müssen, was den Wunsch der Unternehmen nach »mehr Flexibilität« in den Werken für Elektrofahrzeuge angeht, die für die UAW weitgehend Neuland sind. Entgegen der landläufigen Meinung ist die Zahl der Beschäftigten in der US-Autoindustrie in den vergangenen Jahrzehnten nicht zurückgegangen, sondern nach den meisten Schätzungen sogar erheblich gestiegen. Allerdings ist der Anteil der Arbeiterinnen und Arbeiter, die einer Gewerkschaft angehören, von 586.000 im Jahr 1983 auf nur noch 225.000 im Jahr 2022 gesunken.
Wenn die Gewerkschaft sicherstellen will, dass die Elektro-Fabriken nicht zu einer neuen prekären Kategorie in der Autoindustrie werden (ähnlich den nicht-gewerkschaftlich organisierten Werken für Verbrenner), muss sie sowohl die Belegschaften in den nicht gewerkschaftlich organisierten Verbrenner- als auch in den neuen Elektro-Fabriken aggressiv organisieren – sowohl bei den Big Three als auch bei anderen Unternehmen. So haben kürzlich beispielsweise die Tesla-Beschäftigten im Stammwerk des Unternehmens in Fremont, Kalifornien, ein Organisationskomitee mit der UAW gebildet. Bei allen drei Automobilherstellern hat die UAW ein Ende der neuen Tarifvertragslaufzeit am 30. April 2028 gefordert.
»Der Streik wird als Wendepunkt für unsere Gewerkschaft und für unsere Bewegung in die Geschichte eingehen.«
»Wenn wir es wirklich mit der Milliardärsklasse aufnehmen und die Wirtschaft so umbauen wollen, dass sie zum Nutzen der Vielen und nicht der Wenigen funktioniert, dann ist es wichtig, dass wir nicht nur streiken, sondern dass wir gemeinsam streiken«, betonte Fain diesbezüglich. Er rufe deswegen andere Gewerkschaften auf, ihre Verträge zukünftig ebenfalls so zu legen, dass sie zum 1. Mai auslaufen. So könne man gemeinsam noch mehr Druck aufbauen. »Zweitens haben wir eine relativ lange Vertragslaufzeit gefordert, weil eines unserer wichtigsten Ziele nach diesem Sieg darin besteht, uns langfristig besser zu organisieren. Wir wollen uns organisieren, wie wir es noch nie zuvor getan haben. Wenn wir 2028 an den Verhandlungstisch zurückkehren, dann nicht zur Verhandlung mit den Big Three, sondern mit den Big Five oder Big Six.«
»Es gab eine Zeit, in der es schwer war, dieses Rad zu tragen«, sagte Fain zu Beginn seiner Ansprache und deutete auf das UAW-Logo auf seinem Hemd. »Unsere Gewerkschaft hat einige dunkle Tage hinter sich und wie viele von Euch hatte auch ich das Gefühl, einen einsamen Pfad zu beschreiten. Was wir gemeinsam erreicht haben, hat dieses Rad aber wieder zum Laufen gebracht. Wenn ich heute dieses Symbol sehe, dann sehe ich nicht länger eine Gewerkschaft in der Defensive, im Niedergang oder in Gefahr. Wenn ich dieses Symbol sehe, dann sehe ich Stärke und Macht. Ich sehe die Zukunft der Arbeiterklasse. Das ist nicht meine Errungenschaft oder die der Gewerkschaftsführung, [...] Ihr, die Mitglieder, habt das erreicht. Der Streik wird als Wendepunkt für unsere Gewerkschaft und für unsere Bewegung in die Geschichte eingehen.«
Er schloss: »Dieser Tarifvertrag ist mehr als nur ein Vertrag. Er ist ein Aufruf zum Handeln für Arbeiterinnen und Arbeiter überall, sich zu organisieren und für ein besseres Leben zu kämpfen.«
Alex N. Press ist Redakteurin bei JACOBIN. Ihre Beiträge erschienen unter anderem in der »Washington Post«, »Vox«, »the Nation« und »n+1«.