25. November 2023
Der erfolgreiche Streik der United Auto Workers zeigte, dass die US-Gewerkschaften zurück sind. Während es in vielen Teilen der Welt eher düster aussieht, kommt ein Hoffnungsschimmer aus einer Gegend, von der man es am wenigsten erwartet hätte.
Ein Mitglied der United Auto Workers bei Stellantis trägt eine Trommel, auf der ein Vergleich zwischen dem historischen Sitzstreik von 1937 und dem derzeitigen Arbeitskampf gezogen wird, 23. Oktober 2023.
Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn Streiks und die durch sie erzwungenen Vereinbarungen es in die Nachrichten schaffen. Umso besser ist es, wenn man den Überblick verliert, wie viele Streiks aktuell laufen. Das erfreulichste Beispiel in den USA war jüngst der Erfolg der United Auto Workers (UAW). Ebenso schön war das von der Screen Actors Guild (SAG-AFTRA) ausgehandelte vorläufige Abkommen mit den Studios in Hollywood am 8. November (Die Schauspielerinnen und Schauspieler arbeiten wieder, haben den neuen Tarifvertrag aber noch nicht ratifiziert).
Es scheint ein guter Moment zu sein, einen genaueren Blick auf die neu entdeckte Stärke und Militanz der Arbeiterinnen und Arbeiter in den USA zu werfen und zu überlegen, was dies für die nähere politische Zukunft des Landes bedeuten könnte.
Ein besonderes Merkmal des jüngsten UAW-Streiks und anderer aktueller Arbeitskämpfe ist die Art der Forderungen, die die Arbeiter stellen – und in vielen Fällen auch durchsetzen. Im Bereich Löhne und Sozialleistungen konzentrieren sich die Gewerkschaften verstärkt auf die schlechter bezahlten (und oft jüngeren) Arbeiterinnen und Arbeiter. Beim Automobilhersteller Stellantis zum Beispiel erhöhen sich die Löhne der am schlechtesten bezahlten Zeitarbeiter über die Laufzeit des neuen Tarifvertrags um 165 Prozent. Darüber hinaus werden alle Zeitarbeiter nach 90 Tagen Beschäftigung automatisch in eine Vollzeitbeschäftigung übernommen. Der neue Einstiegslohn für Festangestellte wird um 33 Prozent auf über 30 Dollar pro Stunde steigen, wenn man den geschätzten Lebenshaltungskostenausgleich (COLA) mit einbezieht. Ebenso wird die Zahl der US-typischen Gehaltsstufen verringert. So erhöhen sich vor allem die Löhne der Arbeiter, die bisher am unteren Ende der Gehaltsleiter standen. Da gewisser Gehaltsstufen abgeschafft werden, erhalten einige Beschäftigte bei Mopar (einer Tochtergesellschaft von Stellantis) beispielsweise eine sofortige Lohnerhöhung von 76 Prozent.
Gewerkschaften in anderen Branchen räumen den Beschäftigten im Niedriglohnbereich ebenfalls Priorität ein: Anfang Juli scheiterten die Gespräche zwischen der Teamsters-Gewerkschaft und dem Paket-Zustellunternehmen UPS zunächst an der Frage der Löhne von Teilzeitkräften. Vor dem neuen Vertrag verdienten viele Teilzeitbeschäftigte 16 Dollar pro Stunde, wobei sie aber eine deutliche Mehrheit der Belegschaft des Unternehmens ausmachen. Der Teamsters-Vorsitzende Sean O‘Brien betonte bei seinen Auftritten in den Nachrichten- und Talksendungen seine Botschaft: »Part-time America Won‘t Work«. Auch wenn die Einzelheiten von Ort zu Ort variieren: viele Teilzeitbeschäftigte werden im Rahmen des neu erkämpften Tarifvertrags nun eine bis zu 40 Prozent höhere Löhne erhalten.
Noch beeindruckender sind derweil die Forderungen (und Erfolge), die über Löhne und Sozialleistungen hinausgehen. Die UAW war an dieser Front führend. Ihr Präsident Shawn Fain betonte immer wieder, ihr Kampf sei bedeutend für die gesamte Arbeiterklasse. Den wohl beeindruckendsten Sieg der UAW gab es im Bereich Investitionen und Produktionsprozesse: Die streikenden Arbeiter zwangen Stellantis nicht nur, das Werk Belvidere in Illinois wiederzueröffnen, sondern auch Investitionen in ein neues Werk für Elektrofahrzeugbatterien zu tätigen. General Motors wird das Thema Batteriewerke ebenfalls in den neuen Rahmenvertrag mit der UAW einbeziehen. Bei Stellantis und Ford hat die Gewerkschaft nun das Recht, gegen Werksschließungen und für Investitionen in neue Produkte zu streiken.
»Es wäre übertrieben, die letzten Monate als ›Streikwelle‹ zu bezeichnen, aber es lässt sich dennoch konstatieren, dass die Streikaktivitäten und -fähigkeiten der Gewerkschaften zunehmen.«
Seit Generationen ist die Vorstellung, Gewerkschaften könnten Einfluss auf die Investitionsentscheidungen der Kapitalseite nehmen, praktisch vom Tisch. Die UAW zeigt nun, dass es möglich ist, sich dieses Mitspracherecht zurückzuerobern. Indem sie die Elektrofahrzeug-Wende proaktiv nutzt, beweist sie auch, dass ein Umstellen auf umweltfreundliche(re) Technologien nicht zwangsläufig zu Lasten der Arbeiterinnen und Arbeiter gehen muss.
Die streikenden Gewerkschaften haben sich mit weiteren Problemen für die Arbeiterklasse auseinandergesetzt. Nachdem sich die Work-Life-Balance jahrzehntelang verschlechtert hat und in der Automobilindustrie übermäßig viele Überstunden geleistet wurden, forderte die UAW eine 32-Stunden-Woche. Mit dieser Forderung konnten sie sich zwar nicht durchsetzen, aber Fain und Co. haben das Thema Arbeit und Freizeit wieder zu einem zentralen Verhandlungsthema gemacht. Bei der nächsten Tarifverhandlungsrunde in einigen Jahren dürfte das Thema Arbeitszeitverkürzung erneut auf der Tagesordnung stehen.
Bei den Streiks in Hollywood war indes das Thema künstliche Intelligenz (KI) sowohl für die Writers Guild of America (WGA) als auch für SAG-AFTRA ein wichtiger Knackpunkt in den Verhandlungen. Die Filmstudios wollten Komparsen einmalig bezahlen und deren Abbilder dann zukünftig in digitaler Form immer wieder verwenden – freilich ohne weitere Vergütung. Ebenso sollte zunehmend auf KI-generiertes Drehbuchmaterial zurückgegriffen werden.
Das vorläufige Tarifabkommen der SAG-AFTRA schränkt die Möglichkeiten der Studios diesbezüglich etwas ein: Eine Zustimmung und eine Bezahlung für das Verwenden der »digitalen Kopien« von Schauspielerinnen und Schauspielern wären zukünftig verpflichtend. Die Vereinbarung der WGA, der die Gewerkschaftsmitglieder bereits zugestimmt haben, setzt dem Einsatz von KI im Schreibprozess strenge Grenzen.
Auch in der Logistikbranche spielt die Automatisierung eine immer größere Rolle. Unternehmen wie UPS und Amazon haben begonnen, fast vollständig automatisierte Verteilzentren einzurichten. In ihrem neuen Vertrag mit UPS hat die Teamsters-Gewerkschaft einen sogenannten Technologieausschuss durchgesetzt, der die Einführung neuer Technologien im Unternehmen überprüfen und genehmigen muss. In Kalifornien haben die Teamsters aggressiv für ein Gesetz geworben, das den Betrieb selbstfahrender Lastwagen ohne menschliches Sicherheitspersonal an Bord verbietet.
Immer mehr Teile der Arbeiterbewegung erkennen, dass sie »nicht-wirtschaftliche« Themen, die für das Wohlergehen ihrer Mitglieder ebenso entscheidend sind, nicht ignorieren können. Forderungen zu Themen wie Investitionsentscheidungen, KI und Arbeitszeiten werden für das zukünftige Überleben der Gewerkschaften – und ihr Wachstum – ebenso entscheidend sein wie Gehaltsverhandlungen.
Es wäre zwar übertrieben, die letzten Monate als »Streikwelle« zu bezeichnen – im Vergleich zu früher war die Zahl der Streikenden relativ gering – aber es lässt sich dennoch konstatieren, dass die Streikaktivitäten und -fähigkeiten der Gewerkschaften zunehmen. UAW, WGA und SAG-AFTRA haben verbesserte Arbeitsbedingungen durch Streiks erzwungen. Die Teamsters haben zwar letztlich nicht gestreikt, aber mit ihren glaubwürdigen Streikdrohungen und Warn-Streikposten im ganzen Land UPS offenbar genug Angst einjagen können.
Die Streiks haben in den US-Medien große Aufmerksamkeit erregt und konnten eine Mehrheit der Öffentlichkeit für die Sache der Gewerkschaften gewinnen. Auch wenn Streiks nicht das Allheilmittel sind – Militanz ist für die Wiederbelebung der Arbeiterbewegung notwendig, aber nicht ausreichend – so zeigen sie doch am eindrücklichsten den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital und zwingt die Außenstehenden (sei es die zufällige Nachrichtenzuschauerin oder der Präsident der Vereinigten Staaten), sich für eine Seite zu entscheiden. Die Auftritte von Arbeiterinnen und Gewerkschaftsführern, die ihre Argumente in den großen Nachrichtensendern vor Millionen Menschen vortragen konnten, haben mit Sicherheit dazu beigetragen, das Klassenbewusstsein im Land wieder etwas zu stärken.
»In einer Zeit, in der die beiden großen Präsidentschaftskandidaten recht unpopulär sind, füllen die Gewerkschaftsvorsitzenden das Vakuum.«
Dies bringt uns zu einem weiteren Merkmal der modernen Gewerkschaften: die Rückkehr des charismatischen Gewerkschaftsführers. In der Blütezeit der US-Gewerkschaften waren Gewerkschaftschefs wie Walter Reuther, John L. Lewis und A. Philip Randolph bekannte Namen, die in der allgemeinen Wahrnehmung als wichtige Akteure in der nationalen Politik galten. Mit der schwindenden Stärke der Gewerkschaften ging auch diese Rolle im Laufe der Zeit verloren. Das könnte sich jetzt langsam wieder ändern.
Shawn Fain von der UAW ist während des Streiks mit seinen Facebook-Livestreams zum Klassenkampf und seinem »religiösen Radikalismus« mehrfach viral gegangen. O‘Brien von den Teamsters nutzte die Medien, um in einer kritischen Phase der UPS-Verhandlungen das Thema »Armut unter Teilzeitbeschäftigten« anzusprechen, und scheut sich – wie in seiner jüngsten Konfrontation mit dem Senator von Oklahoma, Markwayne Mullin, zu sehen – nicht, sein hartes Auftreten auch im US-Kongress an den Tag zu legen. Die Tiraden der SAG-AFTRA-Präsidentin Fran Drescher gegen die Hollywood-Studios wurden in den sozialen Medien ebenfalls eifrig geteilt. Und obwohl es in diesem Jahr (noch) keinen Streik der Flugbegleiter gab, hat sich die Präsidentin der Association of Flight Attendants, Sara Nelson, zu einer Symbolfigur des Kampfes der Arbeiterklasse entwickelt.
Um es klar zu sagen: Diese Führungspersönlichkeiten sind nicht wichtiger als die Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter, die sie vertreten – in vielen Fällen wären sie ohne eine Basisbewegung buchstäblich gar nicht erst in ihren Positionen. Doch alle aktuell wirksamen Bewegungen haben erfolgreiche Anführer, die es schaffen, die allgemeine Öffentlichkeit in ihren Bann zu ziehen.
In einer Zeit, in der die beiden großen Präsidentschaftskandidaten recht unpopulär sind und grundsätzlich tiefes Misstrauen in die politische Führung herrscht, füllen die Gewerkschaftsvorsitzenden das Vakuum und tragen dazu bei, die nationale Debatte wieder auf Themen und Interessen der Arbeiterklasse zu lenken.
Gleichzeitig polieren die Gewerkschaftskämpfe das Image der Gewerkschaften als Anker einer breiteren sozialen Bewegung auf. Im Moment sind die Gewerkschaften sexy, und vor allem unter jungen Menschen ist die Unterstützung enorm hoch. In linken Organisationen wie den Democratic Socialists of America machen zahlreiche Mitglieder die Solidarität und praktische Unterstützung von Streiks zu einer Priorität. Inmitten von so viel Düsternis in der Welt hat sich die gute, alte Gewerkschaft als ein echter Lichtblick mit viel Dynamik und Kraft erwiesen.
Diese gute, alte Gewerkschaft muss aber mit der Zeit gehen. Als die unabhängige Amazon Labor Union im April 2022 es als erste Gewerkschaftsgruppe schaffte, die Belegschaft einer Amazon-Lagerhalle zu organisieren, warf dies Fragen über die Bedeutung der traditionellen Gewerkschaften auf: Wie konnte eine kleine unabhängige Truppe es mit Amazon aufnehmen, während viel größere Gewerkschaften mit mehr Ressourcen daran scheiterten? Müssten die bisherigen Gewerkschaften überwunden werden und eine neue Ära der Arbeiterorganisierung eingeläutet werden?
Offenbar nein: Die jüngsten Erfolge haben gezeigt, dass die traditionellen Gewerkschaften für die Zukunft der Arbeiterbewegung immer noch von entscheidender Bedeutung sind. Auch angesichts ihrer Millionen Mitglieder und erheblichen Ressourcen sollten diese Gewerkschaften eher reformiert und wiederbelebt, statt verdrängt und abgelöst zu werden.
Tatsächlich geschieht dies bereits. Reformbewegungen innerhalb der Gewerkschaften, die jahrzehntelang ausgegrenzt und sogar diffamiert wurden, haben jetzt nicht nur Erfolg, sondern auch deutlich mehr Legitimität. Labor Notes, ein landesweites Netzwerk militanter Gewerkschaftsreformer, hat in den vergangenen Jahren sowohl mehr Aufmerksamkeit und Interesse erfahren als auch seine Aktivitäten verstärkt. Die Netzwerk-Konferenz im Jahr 2022 war die größte und mit Blick auf die Teilnehmenden wohl jüngste ihrer Konferenzen jemals. Im kommenden Jahr soll die Veranstaltung noch größer ausfallen.
»Die jahrzehntelange Arbeit zahlt sich endlich aus.«
Teamsters for a Democratic Union (TDU), die Bewegung für Reformen innerhalb der Teamsters-Gewerkschaft, besteht schon seit Mitte der 1970er Jahre. Nachdem sie 2021 maßgeblich daran beteiligt war, eine reformorientierte Führung bei den Teamsters an die Macht zu bringen, spielte die TDU (für die übrigens auch der Autor dieses Artikels aktiv ist) eine entscheidende Rolle bei den Verhandlungen mit UPS. Der Jahreskongress der Gruppe Anfang November war mit 500 Teilnehmenden der zweitgrößte aller Zeiten. Dort sprachen nicht nur Teamsters-Präsident O‘Brien, sondern auch der UAW-Vorsitzende Fain. Das wäre noch vor einem Jahrzehnt undenkbar gewesen.
Fain selbst wäre nicht an die Macht gekommen ohne Unite All Workers for Democracy (UAWD), der neuen Reform-Fraktion innerhalb der UAW. Die Gruppe kämpfte erfolgreich für eine Direktwahl der Führungsspitze nach dem Prinzip »ein Mitglied, eine Stimme«anstelle des alten Delegiertensystems. Bei den Wahlen im Herbst 2022 gewannen dann auch fünf UAWD-Kandidaten Sitze im Vorstand. Schließlich setzte sich Fain dank UAWD-Unterstützung im März 2023 mit knappem Vorsprung durch und wurde Gewerkschaftsvorsitzender.
Der Aufschwung der Reformbewegungen hat Mitglieder anderer Gewerkschaften dazu inspiriert, ihre eigenen Organisationen (neu) zu gründen. In der United Food and Commercial Workers (UFCW) hat sich eine Gruppe mit dem Namen Essential Workers for Democracy gebildet, von denen einige schon am TDU-Kongress teilgenommen haben. Mitglieder der International Alliance of Theatrical Stage Employees (IATSE) haben eine Reformgruppe namens CREW (Caucus of Rank-and-File Entertainment Workers) gegründet und bereiten sich auf ihren Tarifkampf im kommenden Sommer vor.
Dies alles zeigt die wachsende Macht und den zunehmenden Einfluss der Reformkräfte in den Gewerkschaften. Diese Netzwerke tauschen sich aus, lernen voneinander und schließen sich um Institutionen wie Labor Notes zusammen. Die jahrzehntelange Arbeit zahlt sich endlich aus.
Natürlich war es immer Wunschdenken zu glauben, dass Reformen und etwas mehr Dynamik in der Gewerkschaftsbewegung sofort einen historischen Aufschwung und tausende Neumitglieder bewirken würden. Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass die jüngste Militanz ein Sprungbrett für eine neue, dynamische Organisierungsbewegung sein könnte.
Am deutlichsten sind die Anzeichen einmal mehr in der UAW. Die Gewerkschaft geht gestärkt aus den jüngsten Tarifgesprächen hervor. Fain hatte unmittelbar nach dem Streik bei den drei großen Autoherstellern betont: »Wenn wir 2028 an den Verhandlungstisch zurückkehren, dann nicht zur Verhandlung mit den Big Three, sondern mit den Big Five oder Big Six.« Hinzu kommt: Laut Bloomberg-Berichten haben die Arbeiterinnen und Arbeiter des Tesla-Werks im kalifornischen Fremont bereits ein UAW-Organisationskomitee gegründet; andere Automobilunternehmen wie Honda, Toyota und Hyundai haben deutliche Lohnerhöhungen angekündigt. Besser kann man die neue Macht der Gewerkschaften in der Autobranche kaum darstellen.
Insgesamt ist unklar, ob wir die Wiedergeburt der organisierten Arbeiterschaft in den Vereinigten Staaten erleben. Doch sie hat gerade eindeutig ein »Momentum« – es zeigt sich tatsächlich eine Bewegungsdynamik. Das stimmt hoffnungsfroh und ist eine Erfahrung, die wir seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht haben. Jetzt muss das Beste aus dieser historischen Chance gemacht werden.
Paul Prescod ist Redakteur bei Jacobin.