09. Februar 2025
Wenn den USA ein internationales Urteil nicht passt, verhängen sie einfach Sanktionen: Das zeigen die Strafmaßnahmen, die Trump gegen den Internationalen Strafgerichtshof erlassen hat, weil dieser Benjamin Netanjahu verhaften wollte. Damit internationales Recht nicht zur Farce verkommt, muss sich die EU von den USA emanzipieren.
Donald Trump und Benjamin Netanyahu amüsieren sich während seines Besuchs im Weißen Haus, 5. Februar 2025.
Es sind derzeit so viele Ereignisse, die die internationale Politik fluten, dass negative Entwicklungen, die nicht so spektakulär sind wie Elon Musks Hitlergruß, unter den Tisch fallen – einfach so. Ein solches Ereignis trug sich am 9. Januar dieses Jahres zu, und blieb weitgehend unbemerkt. An diesem Tag belegte das Repräsentantenhaus des US-Kongresses den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag mit Sanktionen. Das Gericht ist eine gemeinsame Einrichtung von inzwischen 124 Vertragsstaaten, darunter alle Staaten der Europäischen Union. Russland, die USA, Israel sind nicht dabei, sie haben das Statut nicht ratifiziert. Die Abstimmung im US-Repräsentantenhaus gegen das Gericht fiel mit einer überparteilichen Mehrheit von 243 zu 140 Stimmen aus – 198 Republikaner und 45 Demokraten votierten für das Gesetz.
Der »Illegitimate Court Counteraction Act« sieht vor, dass jeder Ausländer bestraft werden soll, der gegen US-Bürgerinnen oder Bürger eines verbündeten Landes, das nicht Mitglied des Gerichtshofs ist, ermittelt, sie festnimmt, inhaftiert oder strafrechtlich verfolgt. »Amerika verabschiedet dieses Gesetz, weil ein Känguru-Gericht anstrebt, den Premierminister unseres großen Verbündeten Israel zu verhaften«, sagte Brian Mast, Republikanischer Vorsitzender des Komitees für Außenpolitik im Repräsentantenhaus, vor der Abstimmung.
Der Vorgang hätte eigentlich entrüsteten Protest in Brüssel hervorrufen müssen. Doch die EU schwieg ebenso wie die Regierungen der Mitgliedsstaaten. Erst als US-Präsident Donald Trump am 7. Februar per Dekret Sanktionsmaßnahmen gegen das Gericht anordnete, kam deutliche Kritik aus Brüssel. Noch am selben Tag kritisierten 79 Staaten in einer gemeinsamen Erklärung Trumps Vorgang. Darin warnten sie vor Versuchen, die »Unabhängigkeit, Integrität und Unparteilichkeit (des Gerichts) zu untergraben« und dadurch »das Risiko einer Straflosigkeit für die schwersten Verbrechen« zu erhöhen. Der IStGH sei eine »unverzichtbare Säule der internationalen Rechtsordnung«. Klare Worte, die mehr als nötig sind.
»Washington will sich keiner internationalen Gerichtsbarkeit unterwerfen müssen, und will das auch für seine Partnerstaaten nicht.«
Denn was bedeutet es, wenn die USA ein internationales und von den meisten Ländern der Welt anerkanntes Gericht mit Sanktionen belegen? Vor allem, dass sie diejenigen sein wollen, die Recht sprechen dürfen, auch wenn es sich um ein im internationalen Recht, wie etwa der UN-Charta, verankertes Vergehen handelt? Washington will sich einfach keiner internationalen Gerichtsbarkeit unterwerfen müssen, und will das auch für seine Partnerstaaten nicht – in diesem konkreten Fall für Israel.
Für Gegner der USA indes ist – oder nunmehr: war – das Gericht gut geeignet, zumindest als symbolischer Akt in seiner Rechtsprechung, etwa mit dem Haftbefehl des IStGH gegen Wladimir Putin vom März 2023. Diesen kommentierte US-Präsident Joe Biden seinerzeit mit den Worten, das Gericht habe »ein sehr starkes Argument angebracht«, denn Putin habe eindeutig Kriegsverbrechen begangen. Anerkennen würden sie den IStGH jedoch trotzdem nicht. Damals war das Gericht in Den Haag, das seit rund einem Vierteljahrhundert weltweit Kriegsverbrecher verfolgt – bislang meist aus Staaten des Globalen Südens, im Westen gibt es bekanntlich keine – aus US-Sicht offenbar zumindest nicht »illegitim«.
Dabei hat der IStGH ebenso wie im Falle von Wladimir Putin auch gegenüber Benjamin Netanjahu sowie dem inzwischen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant »sehr starke Argumente« vorgebracht, um eine Anklage und Verhaftung zu legitimieren. Der IStGH-Chefankläger Karim Khan begründete den Haftbefehl damit, dass beide Politiker Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg nach Artikel 7 beziehungsweise 8 des Römischen Statuts des IStGH zu verantworten hätten.
Entsprechende Anträge stellte der IStGH zeitgleich auch gegen Hamas-Anführer Yahya al-Sinwar und Hamas-Auslandschef Ismail Haniyeh sowie Hamas-Militärchef Mohammed Deif. Alle drei sind im Krieg getötet worden – ebenso wie mindestens 47.000 Menschen im Gazastreifen, ein Großteil von ihnen Kinder und Frauen. Dabei geht das UN-Menschenrechtsbüro davon aus, dass die Zahlen der palästinensischen Behörden wahrscheinlich zu niedrig angesetzt sind. Laut IStGH gäbe es hinreichende Gründe für die Annahme, dass sowohl Netanjahu als auch Gallant »absichtlich und wissentlich der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wesentliche Dinge für ihr Überleben, einschließlich Nahrung, Wasser sowie Medikamente und medizinische Hilfsmittel sowie Brennstoffe und Strom vorenthalten haben«. Ein weiterer Vorwurf betraf Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch vorsätzliche Tötungen, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen. Denn der »Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Elektrizität und Treibstoff sowie an bestimmten medizinischen Hilfsgütern habe zum Tod von Zivilisten, einschließlich Kindern, aufgrund von Unterernährung und Dehydrierung geführt«.
Die Einschätzung des IStGH wird von UN-Gremien, von vielen internationalen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, aber auch von jüdischen Organisationen wie Jewish Voice for Peace geteilt. Doch der Kommentar von Ex-US-Präsident Joe Biden zu dem Strafbefehl gegenüber Netanjahu und Gallant lautete, er sei »empörend«. »Was auch immer der IStGH andeuten mag, so gibt es keine Gleichwertigkeit – keine – zwischen Israel und der Hamas. Wir werden immer an der Seite Israels gegen Bedrohungen seiner Sicherheit stehen.«
»Washington drückt seine Ablehnung nicht nur verbal und überparteilich aus, sondern antwortet auf den Haftbefehl mit Strafmaßnahmen, sogar mit Sanktionen gegen den IStGH.«
Biden zeigte mit diesem Statement, dass der globale Hegemon USA internationales Recht nicht akzeptieren will. Mehr noch, Washington drückt seine Ablehnung nicht nur verbal und überparteilich aus, sondern antwortet auf den Haftbefehl mit Strafmaßnahmen, sogar mit Sanktionen gegen den IStGH. Diese Positionierung bringt die Europäische Union, einen der wichtigsten Verbündeten der USA, in eine komplizierte Situation. Denn immerhin haben all ihre Mitgliedstaaten das 2002 in Kraft getretene Römische Statut zum IStGH ratifiziert.
Doch eine Stellungnahme gab es nach dem 9. Januar weder von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen noch von dem Hohen Vertreter der EU für Außenpolitik Josep Borrell. Viele Regierungen innerhalb der EU hatten sich bereits nach dem Haftbefehl des IStGH widersprüchlich geäußert. Das Gros gab zu Protokoll, sie unterstützten die Arbeit des Gerichtshofs, weigerten sich aber, die Verhaftung vorzunehmen. Am deutlichsten signalisierten Belgien, die Niederlande, Irland, Litauen, Slowenien und Spanien, dass sie den Haftbefehl vollstrecken würden. Frankreichs Außenministerium indes äußerte, es würde den israelischen Premierminister nicht verhaften, weil Israel nicht unter die Jurisdiktion des Gerichts falle.
In Deutschland sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock: »Wir halten uns national, europäisch und international an Recht und Gesetz. Und deswegen prüfen wir jetzt genau, was das für uns in der internationalen Umsetzung bedeutet.« Später relativierte ein Regierungssprecher, man werde »prüfen«, falls eine Netanjahu-Reise nach Berlin anstünde. Ungarns Premierminister Viktor Orbán sagte als einziger innerhalb der EU-Staaten offen, er werde die israelischen Politiker nicht verhaften. Anfang Januar – direkt nach dem US-Sanktionsbeschluss – bestätigte das auch Polens Regierung, wenn auch nur für eine etwaige Visite Netanjahus am 27. Januar zu den Gedenkfeiern des 80. Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.
Noch im April 2021, als Washington frühere Strafmaßnahmen gegen den IStGH zurückgezogen hatte, schrieb der Hohe Vertreter der EU für Außenpolitik und Vize-Vorsitzender der EU-Kommission Josep Borrell: »Die Europäische Union unterstützt die Universalität des Römischen Statuts und des IStGH ohne Wenn und Aber. Wir werden mit allen Partnern zusammenstehen, um den Gerichtshof gegen Versuche zu verteidigen, die darauf abzielen, den Lauf der Justiz zu behindern und das internationale System der Strafgerichtsbarkeit zu untergraben.«
Trotz solcher Worte kritisierte die EU den Sanktionsbeschluss des US-Repräsentantenhauses erst als Trump persönlich aktiv wurde. Es wirkt, als hätte sich das Gros der EU-Regierungen einer Überzeugung verschrieben, die zweifelhaft scheint: Wenn ein Dekret-Vorstoß von Trump kommt, ist es der Vorstoß eines radikalen Populisten, den man geißeln kann und muss. Wenn hingegen ein fast gleichlautender Beschluss durch das US-Parlament geht, der auch von einem Teil der Demokraten unterstützt wird – und damit einen breiten überparteilichen Konsens erkennen lässt – scheint Brüssel die Augen verschließen zu wollen. Will man nicht wahrhaben, dass Trump in den USA keine radikal populistische und radikal kapitalistische Ein-Mann-Insel inmitten eines Meeres lupenreiner Demokraten ist? Wo blieb der laut ausgerufene Hinweis darauf, dass unsere »westliche Wertegemeinschaft« auf Recht und der Gewaltenteilung gründet, als das Repräsentantenhaus den skandalösen Sanktionsbeschluss fasste?
»Internationales Recht ist eine der fundamentalen Bedingungen dafür, dass die Staaten der Welt Kriege abwenden könne – auch wenn es löchrig ist und permanent missachtet wird.«
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schrieb am 15. Januar einen Brief an die Außenminister der EU-Staaten, in dem sie von ihnen Widerstand gegen das US-Vorgehen forderte. Zwangsmaßnahmen der USA, heißt es in dem Brief, »würden die Arbeit des IStGH als wichtiges Gericht der letzten Instanz, das die schwersten Verbrechen untersuchen und verfolgen soll, ernsthaft untergraben«. Die Organisation ruft die EU dazu auf, das Gericht weiterhin zu unterstützen und die Sanktionen öffentlich abzulehnen – so, dass die Botschaft auch in Washington ankommt.
Womöglich brauchte Europa einen Monat Bedenkzeit, und womöglich auch Trumps gezückten Dekret-Füller, um die ganze Tragweite der Sanktionsentscheidung abzuschätzen. Denn in der Vergangenheit hatte die EU-Kommission selbst US-Konzerne mit Strafen belegt, etwa Microsoft wegen der Ausnutzung seines Monopols, oder auch Apple, weil der Konzern bewusst Software manipuliert hatte, um seine Smartphones zu verlangsamen. Was wird passieren, wenn Trump nun auch gegen die EU-Kommission Sanktionen verhängen lässt, weil Brüssel etwa auf das Wettbewerbsrecht insistiert? Wird Brüssel künftige, ähnliche Vorfälle wie bei Apple & Co gar nicht mehr ahnden – aus Angst vor dem Überpartner?
Der Sanktionsbeschluss des US-Repräsentantenhauses gegenüber dem IStGH unterstrich einmal mehr die unterwürfige Rolle der Europäischen Union gegenüber Washington. Oder womöglich treffender: die symbiotische Beziehung zwischen dem stummen, machtlosen Juniorpartner und dem großen Demokratie-Pionier aus den USA.
Dass nun auf Trumps Dekret reagiert wurde, zeigt: Es gibt noch Lebenszeichen aus Brüssel, die andeuten, dass diese Rolle der EU nicht in Stein gemeißelt ist. Internationales Recht ist eine der fundamentalen Bedingungen dafür, dass die Staaten der Welt Kriege abwenden können – auch wenn es löchrig ist, permanent missachtet wird und unter massivem Einfluss der Politik steht. Denn es hält zumindest rhetorisch die Ideale in die Höhe, an die einige immer noch glauben.
Wir leben mit inzwischen mehr als 8 Milliarden Menschen auf dieser Erde, die sich auf fast zweihundert mehr oder weniger funktionierende Staaten verteilen. Ohne gemeinsame Regeln, ohne international abgestimmte Vereinbarungen, an die sich prinzipiell alle halten müssen – ausnahmslos alle –, wird die Welt noch mehr aus den Fugen geraten, noch mehr wie eine Waffe entsichert, als es derzeit bereits geschieht. Präsident Donald Trump hat angedeutet, was das konkret bedeutet, als er von der gewaltsamen Annexion von Grönland und des Panamakanals sprach. Ganz zu schweigen von den Plänen, den Gazastreifen, in dem die Menschen seit fast anderthalb Jahren leiden, sterben und massivsten Kriegsverbrechen ausgesetzt sind, ethnisch zu säubern.
Daher sind Institutionen wie der IStGH, bei allen seinen Mängeln – etwa dem erwähnten, früheren Fokus auf Vergehen von Politikern aus Ländern des Globalen Südens – notwendig und müssen im Kern gestärkt, nicht geschwächt und zugleich demokratisiert werden. Gleiches gilt für die Vereinten Nationen. Diese müssen sich neu ausrichten, reformieren – und ebenfalls demokratisieren. Denn ja: Es gibt auch so etwas wie eine Demokratisierung internationaler Beziehungen. Diese bedeutete im Kern eine Stärkung der bislang schwächeren Staaten des Globalen Südens, die sich nicht der »regelbasierten Ordnung« unterwerfen wollen. Angesichts des Vorgangs rund um den IStGH entpuppt sich diese ohnehin einmal mehr als US-basierte Ordnung, an die sich alle halten müssen, nur der Regel-Macher und seine ausgewählten Partner nicht.
»Wenn auf der einen Seite Wladimir Putin vom IStGH zu Recht verfolgt wird, und auf der anderen Seite Benjamin Netanjahu Schutz genießt, dann stimmt etwas Grundsätzliches nicht.«
In dutzenden Ländern, etwa in Lateinamerika, in afrikanischen Staaten oder in Indien, sehen die Gesellschaften und auch die Politik, wenn sie es bisher noch nicht taten, immer deutlicher die Doppelmoral des Westens mit den USA an der Spitze. Denn wenn auf der einen Seite Wladimir Putin vom IStGH zu Recht verfolgt wird, und auf der anderen Seite Benjamin Netanjahu Schutz genießt, dann stimmt etwas Grundsätzliches nicht. Um Werte geht es hier freilich nicht. Es geht um die Verteilung von Macht und um Interessen – und wenn es zu ihrer Umsetzung sein muss, dann gegen das Recht, mit Krieg.
Wenn aber Gerichte, ob nun internationale oder nationale, kein Recht gegen Verbrechen dieser Kriege sprechen können, ohne um ihre Unabhängigkeit bangen zu müssen, dann ist das ein Schritt in Richtung noch mehr Krieg. Denn wo zwischen Staaten immer weniger allseitig anerkannte Mindestnormen existieren, setzt sich in der darauffolgenden Etappe die schiere Macht durch, inklusive Gewalt.
Sich steigernde Rechtlosigkeit ist eine Spirale, die ab einem bestimmten Drehmoment nicht mehr aufzuhalten ist und zwangsläufig in staatliche Gewalt umschlägt. Hoffen wir, dass wir nicht bald eine noch direktere Version davon auch seitens der USA erleben. Die internationale Staatengemeinschaft ist diesem Zustand einen großen Schritt näher gekommen, und die Entscheidung Washingtons, den IStGH zu sanktionieren, ist ein übersehener Ausdruck davon. Was bedeutet das aus Sicht Europas? Dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten, wenn sie nicht für die von ihnen verkündeten demokratischen Grundsätze eintreten, ihr ohnehin schon zerfleddertes Gewand verbrennen.
Es ist aber keine Zwangsläufigkeit, dass all das so geschehen muss. Die Zukunft hängt davon ab, ob Menschen europaweit in größerer Zahl als bisher ihre Gedanken und Handlungen auf eine Zukunft ausrichten, in der der Frieden als grundständiger, unerlässlicher Kompass einen unersetzlichen Platz in der Steuerkabine einnimmt.
Etwas weniger pathetisch: Europa war stets der Kontinent des Krieges. Doch die Europäische Union war trotz all ihrer Fehler, eine Großidee der Befriedung und zumindest teilweisen Überwindung der nationalen Grenzen. Auf den eigenen Kontinent bezogen klappte das auch lange ganz gut, die Soft Power wirkte über Jahrzehnte anziehend auf neue Mitglieder, die zugleich auch, vor allem nach 1990, allgemein abrüsteten. Sie rüsteten ab, weil sie zwischen 1989 und 1991 die historische Erfahrung gemacht haben, dass ein Imperium kollabieren kann und dabei – dem Lenker der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, sei Dank – keine Rückzugsgefechte und keine Blutbäder anrichtet. Das war trotz aller späteren Fehler ein Wind of Change, auf den man sich wieder besinnen muss. Diese einzulösende Friedensdividende ist ein Erbe Europas.
Eine solche Friedensdividende, das heißt, ein sich gewaltlos integrierender Kontinent, der seine unkriegerischen Verbindungen bis nach Moskau ausbaute, ist aber nicht in dem Sinne unseres größten Verbündeten – den USA. Das haben US-Politiker und Geostrategen wie Zbigniew Brzeziński schon in den 1990er Jahren deutlich gemacht. Brzeziński war Mastermind hinter dem Vorgehen der US-Regierung von Jimmy Carter, die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan zu provozieren. In dem Buch Grand Chessboard von 1997 legte er die strategischen Eckpfeiler der USA für das 21. Jahrhundert dar. Wir müssten nur richtig lesen:
»Dieses riesige, seltsam geformte eurasische Schachbrett, das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt, bildet den Rahmen für »das Spiel«. Wenn es gelingt, den mittleren Raum zunehmend in die wachsende Umlaufbahn des Westens zu ziehen (wo Amerika überwiegt), wenn die südliche Region nicht von einem einzigen Spieler beherrscht wird und wenn der Osten nicht in einer Weise geeint wird, die die Vertreibung Amerikas von seinen Stützpunkten vor der Küste zur Folge hat, dann kann man sagen, dass Amerika siegt. Aber wenn der mittlere Raum dem Westen eine Abfuhr erteilt, zu einer selbstbewussten Einheit wird und entweder die Kontrolle über den Süden gewinnt oder ein Bündnis mit dem wichtigsten östlichen Akteur eingeht, dann schrumpft Amerikas Vorrangstellung in Eurasien dramatisch.«
Brzeziński wies der Ukraine in seinen Überlegungen eine Schlüsselrolle zu, um Amerikas Vormachtstellung in Eurasien zu erhalten: als Bauer auf dem Schachbrett. Wenn Europa kein Bauer und auch kein Pferd sein will, muss es sich von den USA emanzipieren. Es geht um nicht weniger als Krieg und Frieden.
Jan Opielka ist freier Journalist und arbeitet vorwiegend für deutschsprachige Print- und Radiomedien in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Freitag, Frankfurter Rundschau, WOZ, Deutschlandfunk, ORF Ö 1).