20. November 2024
Nicht nur VW steckt in der Krise, die gesamte deutsche Wirtschaft schrumpft. Gegen den drohenden brutalen Stellenabbau und die anhaltende Rezession hilft nur eine aktive Industriepolitik.
IG-Metall-Flagge vor dem VW Werk in Zwickau.
Es ist eindeutig: die deutsche Ökonomie stagniert. Die Wirtschaftsleistung bewegt sich etwa auf dem Vorkrisenniveau von 2019 und auch im nächsten Jahr wird es nur geringes Wachstum geben. Das zeigen alle Prognosen, auch die jüngste des Sachverständigenrates. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Einige Dienstleister entwickeln sich relativ gut, was wiederum die Tatsache überdeckt, dass die deutsche Industrie nicht bloß stagniert, sondern in einer schweren Krise steckt und gerade dramatisch schrumpft.
Dafür gibt es viele Gründe: Während der Corona-Krise gaben die Menschen eher Geld für Konsumgüter als für viele Dienstleistungen aus, weil letztere (zum Beispiel Reisen) oft gar nicht oder nur eingeschränkt möglich waren. Die Krise der Globalisierung mit wachsendem Protektionismus macht der international stark verflochtenen deutschen Industrie, die sowohl von importierten Vorleistungen wie exportierten Endprodukten abhängig ist, stark zu schaffen. Dazu kommen gestiegene Energiekosten, die Herausforderungen der ökologischen Transformation und der Fachkräftemangel.
Zu all diesen strukturellen Problemen kommt noch eine konjunkturelle Nachfrageschwäche, weil die Massenkaufkraft in vielen Ländern durch hohe Inflationsraten gesunken ist und die Verunsicherung durch die diversen Krisenphänomene die Konsumlaune dämpft. Angesichts dieser schwierigen Situation gibt es Stimmen, die die Zukunftsfähigkeit der Industrie in Deutschland in Frage stellen und eine Unterstützung strikt ablehnen. Aber ohne eine aktive Industriepolitik ist der ökologische Umbau und die ökonomische Stabilisierung der Industrie nicht möglich.
All diese Probleme finden sich bei der Automobilindustrie, die mit dem Maschinenbau die größte Industriebranche Deutschlands ist, in ganz besonderem Maße. Hinzu kommt eine Marktsättigung in Europa, wachsender Wettbewerbsdruck vor allem durch die chinesische Autoindustrie und die Herausforderungen, die sich durch die notwendige Umstellung auf Elektromobilität stellen. Von der schwachen Autokonjunktur ist die gesamte Branche betroffen: Der Absatz von Automobilen weltweit lag zum Höhepunkt 2017 bei 70,7 Millionen PKW, im letzten Jahr waren es nur noch 65,3 Millionen. Besonders in Europa sind die Verkäufe drastisch gesunken: 2019 lag der Absatz bei 15,8 Millionen, im letzten Jahr nur noch bei 12,8 Millionen. Das geringere Marktvolumen führt zu geringeren Kapazitätsauslastungen und einem steigenden Wettbewerbsdruck.
Dessen ungeachtet ist die VW-Group mit 26 Prozent Marktanteil noch immer der Spitzenreiter auf dem europäischen Automarkt (mit Minus 0,1 Prozentpunkten zum Vorjahr). Allerdings stehen innerhalb der VW Group die Marken VW und Audi schlechter da als die anderen. Auf dem zweiten Platz folgt Stellantis mit 16,2 Prozent und einem kräftigen Rückgang um 0,8 Prozentpunkte. Die Stellantis-Gruppe hat aber bereits einen brutalen Restrukturierungskurs mit Beschäftigungsabbau hinter sich. Das, was VW jetzt praktizieren will, ist dort schon seit Jahren vollzogen worden. Den dritten Rang nimmt die Renault Group mit 9,7 Prozent Marktanteil (stabil zum Vorjahr) ein. Tesla steht ganz am Ende der Liste mit 2,3 Prozent Marktanteil und einem starken Rückgang um 0,5 Prozentpunkte. Chinesische Anbieter fehlen ganz, sie haben allesamt weniger als 2 Prozent Marktanteil in Europa.
»Auch die europäische Konkurrenz verliert Marktanteile. Ein wirklicher Vorteil ist dort nicht zu erkennen. Tesla hat viel von seinem einstigen Glanz eingebüßt und ist längst nicht mehr so profitabel wie vor Jahren.«
Für die derzeitige Entwicklung ist allerdings nicht Europa prägend, sondern der chinesische Automarkt. China ist mit 26 Millionen verkauften PKW der mit Abstand größte Automarkt der Welt. Für die deutsche Autoindustrie hat der chinesische Markt eine existenzielle Bedeutung, da viele Autos nach China exportiert werden und dort mit über 4 Millionen PKW deutlich mehr Autos produziert werden als in Deutschland. Gerade in China geht der Marktanteil der deutschen (und anderer ausländischer) Anbieter allerdings zurück. Die heimischen Marken gewinnen kräftig dazu. Das gilt ganz besonders für E-Autos, die in China bereits eine marktbeherrschende Stellung einnehmen. Auch wenn der Absatz von E-Autos von der VW Group in China im ersten Halbjahr 2024 um 45 Prozent zugelegt hat, bleibt der Marktanteil noch weit hinter dem der Verbrenner zurück.
Der zweitgrößte Automarkt der Welt sind die USA. Auch hier sind die deutschen Konzerne sowohl mit Exporten als auch mit eigenen Produktionskapazitäten vor Ort stark vertreten. Derzeit spielt die Entwicklung in den USA für die Krise der Autoindustrie in Deutschland noch keine herausragende Rolle. Doch für die Zukunft ist die Unsicherheit enorm groß. Mit dem Wahlsieg von Donald Trump steht das Thema Zölle und Protektionismus ganz oben auf der Tagesordnung. Es bleibt abzuwarten, welche konkreten politischen Schritte dort in nächster Zeit gegangen werden.
All diese Marktentwicklungen drücken auf die Auslastung der Kapazitäten der Autoindustrie in Deutschland und dementsprechend auf die Margen. Doch der Kern der Krise ist nicht das geringere Marktvolumen, sondern die Notwendigkeiten der Transformation und der vor allem in Deutschland stockende Absatz von Elektroautos. »Aktuell handelt es sich in der Automobilwirtschaft um eine Transformationskrise. Nicht kapitalistische Verwertungsgrenzen, sondern der Kampf gegen die Klimakrise erzwingt die Transformation. Das heißt im Kern: Ausstieg aus der Verbrennertechnologie, hin auch zum Elektroantrieb«, urteilt etwa der Ökonom Rudolf Hickel.
Wer, wie Timo Daum, die gesamte Branche abschreiben möchte und eher vor weiteren Investitionen in die Zukunft dieser Unternehmen warnt, verkennt zum einen den Ernst der Lage, überschätzt aber auch die Wettbewerber gnadenlos, die ebenfalls mit der Transformation zu kämpfen haben. Auch für die Konkurrenten der deutschen Autokonzerne wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Auf dem deutschen Markt war Tesla in den vergangenen Jahren der größte Anbieter für rein elektrische Automobile. In diesem Jahr (bis einschließlich Oktober) hat sich das Blatt gewendet. Mit dem Absatz von 49.234 E-Autos war VW nach Angaben des Kraftfahrtbundesamtes auf dem insgesamt schrumpfenden deutschen Markt für E-Autos der unbestrittene Marktführer. Auf dem zweiten Platz lag mit 33.167 E-Autos BMW. Erst auf dem dritten Rang folgte Tesla mit 31.461 abgesetzten E-Autos. Chinesische Modelle fristen auf dem deutschen Markt bisher ein Nischendasein. Auch der Tesla-Konzern hatte im Frühjahr mit einem starken Gewinneinbruch zu kämpfen. Der Markt ist also insgesamt stark in Bewegung, langfristige Tendenzen lassen sich schwer prognostizieren.
»Unter kapitalistischen Bedingungen führen große Strukturbrüche ohne eine staatliche Steuerung zu Verelendung und Deindustrialisierung. Die Hoffnung, neue Anbieter würden in gleichem Umfang Arbeitsplätze schaffen, ist rein illusionär.«
Die Automobilindustrie aufgeben und sich selbst überlassen zu wollen, wäre unverantwortlich. Gegenwärtig sind dort noch direkt knapp 800.000 Menschen beschäftigt. Dazu kommt eine erhebliche Zahl an Beschäftigten, die indirekt von der Branche abhängig sind. Der ökonomische und soziale Schaden wäre enorm. Die Automobilindustrie steht vor gewaltigen Strukturbrüchen. Wer in dieser Lage meint, der Staat solle sich heraushalten und der Markt wird die günstigste Konstellation hervorbringen, denkt im Grunde in neoliberalen Kategorien. Was die Folgen einer solchen Politikverweigerung sind, lässt sich in großen Teilen Englands oder im »Rust Belt« in den USA besichtigen. Der Untergang der alten Industrien hat dort zu einem Niedergang ganzer Regionen geführt. Unter kapitalistischen Bedingungen führen große Strukturbrüche ohne eine staatliche Steuerung und Abfederung zu Verelendung und Deindustrialisierung. Die Hoffnung, neue Anbieter würden in Europa oder sogar in Deutschland in gleichem Umfang neue Arbeitsplätze und Wertschöpfung schaffen, ist rein illusionär.
Aus der Perspektive der IG Metall geht es um die Arbeitsplätze in Deutschland und um ihre Mitglieder. Es geht aber auch um gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen. Es ist positiv, wenn ausländische Investoren in Deutschland neue Fabriken bauen. Doch in der Regel bieten diese neuen Betriebe deutlich schlechtere Standards als in der etablierten Autoindustrie. Das zeigt auch die Ansiedlung von Tesla in Grünheide. Die IG Metall kämpft darum, die Belegschaften in diesen Betrieben zu organisieren und in die Tarifbindung zu bringen. Doch das ist in jedem einzelnen Fall ein Kraftakt.
Die Zukunftssicherung der Industrie ist dabei nicht nur aus der gewerkschaftlichen Sichtweise eine Notwendigkeit, sondern auch aus der makroökonomischen. Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie gehören auch die Wertschöpfungsverflechtungen zwischen den Branchen Stahl, Chemie, Maschinenbau und Autoindustrie. Alle diese Branchen sind mehr oder weniger in der Krise. Der gesamte Komplex muss weiterentwickelt werden. »Wir machen uns dafür stark, dass die Industrien, die viel Strom verbrauchen, bei den Energiekosten unterstützt werden und insgesamt in die Infrastruktur im Land massiv investiert wird. Und wir brauchen das Paket zum Hochlauf der E-Mobilität. Denn ansonsten droht alles wegzubrechen. [...] Und unsere Forderung, das Volkswagen auch massiv in die Batteriefertigung einsteigt, das war und ist die richtige Strategie«, erklärt die Vorsitzende der IG Metall Christiane Benner.
Es ist inzwischen unstrittig, dass der Staat in Deutschland viel zu wenig in die Infrastruktur investiert. Neben den klassischen Investitionen (etwa in Brücken) erfordert auch die ökologische Transformation spezifische Investitionen, etwa in Wasserstoffnetze oder in Ladenetze für E-Autos. Es braucht also die öffentliche Infrastruktur genauso wie die Förderung für die Umstellung der Produktion. Politisch ist das kein einfacher Prozess. »Angesichts des aktuellen Gegenwinds wird ein starker politischer Druck der Gewerkschaften im Verein mit anderen gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren für wirkungsvolle sozial-ökologische Weichenstellungen immer wichtiger«, prognostiziert der Arbeitsmarktforscher Steffen Lehndorf.
»Tatsächlich führen derzeit die chinesischen Produzenten. Doch sie sind nicht einfach besser, sondern sie wurden und werden in erheblichem Umfang staatlich subventioniert.«
Timo Daum behauptet dagegen, solche Förderungen seien sinnlos und letztendlich Geldverschwendung, weil die anderen es halt einfach besser können als die deutsche Autoindustrie. Dabei verliert auch die europäische Konkurrenz wie oben beschrieben Marktanteile. Ein wirklicher Vorteil ist dort nicht zu erkennen. Auch Tesla hat viel von seinem einstigen Glanz eingebüßt und verliert ebenfalls Marktanteile. Das Unternehmen ist auch längst nicht mehr so profitabel wie vor Jahren.
Tatsächlich führen derzeit allerdings die chinesischen Produzenten. Doch sie sind nicht einfach besser, sondern sie wurden und werden in erheblichem Umfang staatlich subventioniert. Deshalb hat die EU-Kommission nach einer entsprechenden Untersuchung Strafzölle für diese Hersteller beschlossen. Die Höhe der Förderungen sind durch eine Vielzahl von Programmen schwer abzuschätzen. Nach Presseberichten erhielten über ein Dutzend chinesische Autobauer zwischen 2021 und 2023 rund 5,7 Milliarden Euro an direkten Fördergeldern. Des Weiteren seien die Anbieter in der Volksrepublik mit 10 Milliarden Euro an Steuervergünstigungen unterstützt worden. Unklar ist, ob dabei alle politischen Ebenen berücksichtigt wurden, da auch Regionalregierungen in China eigene Förderprogramme erhalten. Auch von Arbeitsmarktförderungen in erheblichem Umfang haben die Unternehmen profitiert. Hinzu kommt, dass Fahrerinnen und Fahrer von E-Autos ebenfalls Unterstützung erhalten und auch die Batterieproduzenten subventioniert werden.
Zölle sind eher problematisch und nicht die beste handelspolitische Antwort. Aber den hiesigen Herstellern sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich mit den gleichen Voraussetzung dem Wettbewerb zu stellen. Die kurzfristige Streichung der E-Auto Prämie in Deutschland ist ein gutes Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. Unabhängig davon, ob dieses Instrument ideal war, ist Verlässlichkeit ein wichtiger Faktor. Ein interessanter Ansatz kommt aus Frankreich. Der französische Industrieminister Marc Ferracci möchte gern das französische Modell einer Kaufprämie für Elektroautos auf die gesamte EU übertragen. In Frankreich wurde die Kaufprämie – im Gegensatz zu Deutschland – nicht abgeschafft. Außerdem ist in Frankreich die Höhe der Kaufprämie unter anderem vom CO2-Ausstoß bei der Produktion abhängig.
Grundsätzlich ist eine solche Förderung weder neu noch ungewöhnlich. Neuen Technologien wurde auch in der Vergangenheit oft mit staatlicher Unterstützung der Durchbruch auf den Märkten ermöglicht, weil sie zunächst einfach zu teuer waren und somit keine Chance bekommen hätten. Auf ein interessantes Beispiel, wie das funktionieren kann, weist auch Steffen Lehndorf hin: »Das massive Wachstum z.B. der Batterie-Produktion in den USA zeigt, welche Wirkungen mit gezielten und bedingungsgebundenen Steuererleichterungen erreicht werden können, wie sie der Inflation Reduction Act (IRA) bietet.«
»Wer finanziert, braucht auch demokratische Mitsprache.«
Offen ist dabei die Frage der Konditionalität. Die deutsche Autoindustrie hat in der Vergangenheit hohe Profite erzielt, auch wenn das nicht für alle Zulieferer in gleichem Maße gilt. Auch im VW-Konzern wurden kürzlich noch die Dividenden erhöht und großzügige Boni an die Vorstände gezahlt. In der Betrugsaffäre um die Abgaswerte für Diesel-PKW hat VW insgesamt über 30 Milliarden Euro versenkt. Förderungen – die ja Steuergelder von uns allen sind – dürfen daher nicht einfach als Geschenke an die Unternehmen verteilt werden, sondern müssen an strikte Bedingungen geknüpft werden. Die Mindestanforderungen der IG Metall dazu hatte Christiane Benner bereits auf dem Gewerkschaftstag in ihrer Antrittsrede formuliert: »Wir brauchen klare Regeln: Steuergeld nur gegen Tarifvertrag, Beschäftigungsgarantie und Ausbildungsplätze! Nur dann gibt es Förderung, und sonst nicht!«
Timo Daum weist auf die noch deutlich darüber hinausweisenden Vorstellungen der Linken hin. Wer finanziert, braucht auch demokratische Mitsprache. Notwendig ist daher ein ökologisches Mobilitätskonzept, das nicht nur mit der Umstellung auf E-Mobilität eine Antriebswende bedeutet, sondern eine echte Mobilitätswende darstellt. Dazu gehört zwingend die Stärkung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs. Das stellt die Autoindustrie vor weitere Herausforderungen. Schon die Umstellung auf E-Mobilität verringert wegen der geringeren Komplexität die Wertschöpfung und damit auch die Zahl der notwendigen Arbeitsplätze. Die Abkehr vom ökologisch schädlichen Trend zu immer größeren und schwereren Autos und vor allem der Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel verstärken diesen Effekt weiter.
Die zu erwartenden Anpassungsleistungen der Automobilindustrie, etwa die Erschließung neuer Geschäftsfelder, werden ohne entsprechende öffentliche Förderung und Regulierung in schweren Wirtschaftskrisen enden. Wer wie Timo Daum kritisiert, dass die Gewerkschaften ihre Forderungen an die ewig Gleichen adressieren, verkennt, das diese Gleichen – Kapital und Staat – weiter die entscheidenden Akteure sind. Alles andere sind nur Nebelkerzen in der Debatte.
Wilfried Kurtzke ist Makroökonom und Mitstreiter der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Bis zum Eintritt in den Ruhestand im Sommer 2024 war er beim Vorstand der IG Metall tätig.