16. September 2021
Wenn es nach den großen Parteien geht, sollen die Technologien von morgen durch Wagniskapital finanziert werden. Praktisch heißt das, einige wenige Investoren entscheiden zu lassen. Das blockiert den Fortschritt.
Tech-Investoren wie Frank Thelen haben schon jetzt eine immense Marktmacht. Die Förderung von Wagniskapital würde diese noch vergrößern.
Über die Folgen und Möglichkeiten neuer Technologien wie dem maschinellen Lernen und der künstlichen Intelligenz wird viel diskutiert, weniger über die grundlegenden Bedingungen ihrer Entwicklung. Im Wahlkampf und in den Wahlprogrammen der großen Parteien für die Bundestagswahl nimmt Technologie unter Schlagworten wie »Modernisierung« und »Digitalisierung« zwar eine zentrale Rolle ein, Technologieförderung wird aber vor allem auf den Markt ausgelagert: Über das direkte oder indirekte Anregen von Investitionen soll die Entwicklung technologischer Innovationen angetrieben werden.
Neben der Förderung der Wissenschaft und der Unterstützung von etablierten Unternehmen in Forschung und Entwicklung, ist in den Programmen von CDU und FDP, aber auch von SPD und Grünen, Wagniskapital das Mittel der Wahl. Die Kapitalform für junge Unternehmen, die auf neue Technologien setzen, verspricht mit hoher Risikobereitschaft und visionärem Blick Innovationen zu befördern – der Markt soll es also richten. Die so entstehenden neuen Technologien sollen gesellschaftliche Probleme je nach Belieben der Parteien lösen – Migration und geschlechterbasierte Diskriminierung bei den Grünen, Wirtschaftswachstum und Wohlstandserhalt bei der CDU.
Konkret möchte etwa die CDU Wagniskapital durch steuerliche Erleichterungen, eine Deregulierung der Altersvorsorge und die Ausweitung staatlicher Fonds wie den Zukunftsfonds fördern. Ähnliches sieht die FDP vor. Beide Parteien versprechen sich durch den Einsatz von Wagniskapital und die damit erhofften Innovationen vor allem eines: Wirtschaftswachstum. Der Markt soll bestimmen, in welche Technologien investiert wird, denn »Innovationen entstehen schließlich dann am besten, wenn der Staat sich nicht zu stark einmischt, sondern vor allem für beste Rahmenbedingungen sorgt«. So steht es zumindest im Wahlprogramm der CDU. Auch wenn finanzielle Anreize wie die CO2-Bepreisung nachhaltigere Technologien vorantreiben sollen, bleibt das Hauptkriterium für die Entwicklung von Technologien der Erfolg auf dem Markt.
Auch SPD und Grüne setzen auf Wagniskapital, betonen aber soziale und ökologische Kriterien. So soll laut SPD der »langfristige Bestand« von Unternehmen vor kurzfristigen Gewinnen priorisiert und eine Strategie für die Gemeinwohlorientierung von Unternehmen entwickelt werden. In den wirtschaftsnahen Politikvorschlägen der Grünen soll Nachhaltigkeit die oberste Leitlinie bilden. Auch weitere gesellschaftliche Probleme möchten sie auf diese Weise lösen, etwa soziale Ungleichheit und die Benachteiligung von Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte. Dies soll geschehen, indem man etwa Fonds speziell für Frauen aufsetzt.
Die Linkspartei hingegen entwirft ein Investitionsprogramm, das sich an alle Unternehmen richtet und über Sozial- und Wirtschaftsräte demokratisch gelenkt werden soll. Betroffene technologischer Gestaltung, zum Beispiel die Beschäftigten, sollen an der Entwicklung und Entscheidung über Technologien beteiligt werden. Technologische Innovation und deren Anwendung wird also als gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe verstanden. Eine linke Vision für die Förderung von Innovationen und Startups fehlt jedoch.
Geht es also nach dem Willen der meisten Parteien, wird Wagniskapital für die Technikentwicklung künftig eine größere Rolle spielen. Wagniskapital ist eine sehr spezifische Form der Finanzierung für junge, nicht börsennotierte Unternehmen, für die ein Börsengang quasi unmöglich ist und denen Banken aufgrund der großen Unsicherheiten höchstens mit immens hohen Zinsen Geld leihen. Bei der alternativen Finanzierung über Risikokapital beteiligen sich private Investoren, die im Gegenzug Anteile am Unternehmen erwerben.
Eine politische Förderung von Wagniskapital erfolgt oftmals über direkte staatliche Investitionen in Fonds. Die Wagniskapitalfirmen selbst sammeln ihr Geld nämlich von anderen Investorinnen und Investoren, also hauptberuflichen Anlegerinnen und Anlegern, ein. In Europa stammt rund ein Fünftel des in Wagniskapital angelegten Geldes von staatlichen Institutionen – nach der Finanzkrise war es mehr als ein Drittel. Auch der in Deutschland kürzlich aufgesetzte Zukunftsfonds, in den der Bund neben anderen Kapitalgebern 10 Milliarden Euro einzahlt, setzt hoffnungsvoll auf die zukunftsgestaltende Rolle von Wagniskapital. Welche Technologien mit wie viel Kapital unterstützt werden, entscheiden bei dieser Förderung private Investorinnen und Investoren. Zugleich fungiert der Staat selbst als Kapitalgeber und kann so wie alle anderen auf Erträge aus seinen »Investments« hoffen.
»Statt um die Entwicklung neuer Technologien, geht es den Investoren von Wagniskapital vor allem darum, immense Gewinne mit bereits existierenden Technologien zu machen.«
Das ist aus zweierlei Gründen problematisch. Erstens kommen nur sehr bestimmte Technologien für Wagniskapital in Frage. In der Finanzwelt gilt: Hohe Risiken erfordern hohe Gewinne. Da das Geschäft mit jungen Unternehmungen sehr viel Unsicherheit mit sich bringt, müssen die wenigen Startups, die es schaffen – die sogenannten Einhörner –, extrem lukrativ sein. Wagniskapital fließt also vor allem in Startups, die das Potenzial haben, in kurzer Zeit sehr profitabel zu werden – etwa, weil sie skalierbare Produkte anbieten, in monopolistische Märkte einsteigen oder mit bewährten Technologien arbeiten.
Ein Beispiel dafür sind Lieferdienste für Lebensmittel, in die aktuell besonders viel Kapital fließt. Neben schon länger operierenden Lieferplattformen wie Deliveroo oder Lieferando erleben derzeit Einkaufslieferdienste einen regelrechten Boom. Der Anbieter Gorillas ist das europäische Startup, das es am schnellsten von der Gründung zu einer Bewertung von mehr als 1 Milliarde US-Dollar geschafft hat. Das Produkt ist leicht skalierbar, denn es braucht im Grunde nur Warenhäuser und Arbeitende. Umso mehr Lagerhäuser und Arbeitende ein Unternehmen hat, desto schneller und günstiger kann es operieren und wachsen. Dieser Netzwerkeffekt begünstigt wiederum die Bildung monopolistischer Märkte. Die Kerntechnologie ist dabei eine App, die die Rider durch die Stadt steuert, sowie vermutlich auch ein digitales Planungssystem für die Lagerhallen.
Das ist alles nichts Neues. Auch das Geschäftsmodell gibt es schon seit 2014 in den USA, und mit Flink und Getir sind bereits zwei weitere Lieferdienste für Lebensmittel auf dem deutschen Markt – und es sollen noch weitere folgen.
Statt um die Entwicklung neuer Technologien, geht es den Investoren von Wagniskapital also vor allem darum, immense Gewinne mit bereits existierenden Technologien zu machen. Dieser Druck lastet auf den Arbeitenden – das Ergebnis ist weder besonders innovativ, noch sozial oder ökologisch nachhaltig.
Selbst wenn man von dieser zweifelhaften Innovationskraft absieht, ist Wagniskapital zweitens durch und durch undemokratisch. Einige wenige Investorinnen und Investoren bestimmen darüber, in welche Startups und Technologien ihr Kapital fließt. So können wenige Investorinnen immense Marktmacht aufbauen.
Als Kapitalgeber agiert auch der Staat intransparent. Der Zukunftsfonds etwa besteht aus einer undurchsichtigen Struktur verschiedener Kapitalpakete, die vermittelt über ebenfalls intransparente Akteure wie die KfW oder den Europäischen Investmentfond (EIF) zu unbekannten Konditionen in Wagniskapitalfonds investiert werden. Wenn das Kapital einmal geflossen ist, hat der Staat außerdem wenig Handhabe darüber, was damit geschieht.
Junge Unternehmen müssen sich auf dem freien Markt zunächst beweisen. Hinter dem Prinzip des Wagniskapitals steht die Vorstellung, dass die Konsumierenden über den Erfolg entscheiden – Demokratie durch Konsum. Dieses Argument blendet jedoch aus, dass Konsum immer von Einkommens- und sonstigen Lebensverhältnissen geprägt ist. Und diese wiederum sind politisch bestimmt. Zwar mag Nachhaltigkeit theoretisch vielen ein Anliegen sein, doch wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung ein nachhaltigeres, sozial verantwortlich hergestelltes Produkt schlichtweg nicht leisten kann, wird dieses auf dem Markt keinen breiten Erfolg erzielen können.
Der demokratische Anspruch scheitert hier – wie an so vielen anderen Stellen auch – an unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Die Finanzierungsform der Technologien von morgen sollte nicht länger auf Profit ausgerichtet sein, sondern demokratisch verhandelt und an gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse gekoppelt werden. Dafür ist es wichtig, nicht erst über die Anwendung von Technologien zu diskutieren, sondern auch deren Entwicklung demokratisch und transparent zu gestalten.
Eine Möglichkeit, um das zu erreichen, wäre ein kollektiver Kapitalfonds. In regionalen Bezirken würde das Kapital nach Einwohnerzahl verteilt und basisdemokratisch von allen verwaltet. Nach der politischen Aushandlung der Prioritäten, wie etwa Stadtentwicklung, Gesundheit, Nachhaltigkeit oder Arbeitsbedingungen, würden die jeweils Betroffenen – also etwa Anwohner, Patientinnen oder Beschäftigte – über die konkreten Unternehmungen entscheiden, die der Fonds finanziert. Die erworbenen Anteile würden langfristig im Besitz des Fonds bleiben, in den profitable Unternehmen einen Anteil ihrer Gewinne einzahlen. Durch eine solche Finanzierung würden nicht nur Entscheidungsprozesse, sondern auch die Eigentumsverhältnisse demokratisiert – eines der zentralen Mittel, um gesellschaftlichen Wandel voranzubringen.
Ein solcher Vorschlag fehlt in allen Wahlprogrammen der großen Parteien. Er könnte die Macht über die Frage, welche Technologien unsere Zukunft gestalten, aus den Händen einzelner finanzstarker Akteure nehmen und eine demokratische Aushandlung darüber ermöglichen.
Franziska Cooiman arbeitet als politische Ökonomin am Weizenbaum Institut und ist Teil des Zentrums für Emanzipatorische Technikforschung.
Helene Thaa ist Soziologin und Doktorandin an der Uni Basel. Sie ist außerdem Mitglied des Zentrums für Emanzipatorische Technikforschung.