21. April 2023
Trotz heftiger Proteste hat Emmanuel Macron die Erhöhung des Rentenalters durchgesetzt. Er beteuert, die Wut der Bevölkerung vernommen zu haben – doch sein neuer Haushaltsplan sieht weitere Attacken auf Frankreichs Sozialstaat vor.
Nach der Umsetzung der umstrittenen Rentenreform plant Macron eine harte Sparoffensive.
IMAGO / ANPNachdem der Verfassungsrat am vergangenen Freitag Emmanuel Macrons Rentenreform durchgewunken hat, wurde das Gesetz zur Anhebung des Rentenalters auf vierundsechzig Jahre nun offiziell beschlossen. Die umstrittene Verabschiedung des Gesetzes ohne vorherige parlamentarische Abstimmung ist auf breiten Widerstand getroffen: Raffineriearbeiter haben Benzinlieferungen zurückgehalten, Hafenarbeiter haben Anlieferungen blockiert, und aufgrund des weiter anhaltenden Streiks der Müllmänner häufen sich in den Pariser Straßen seit Wochen die Abfallsäcke. Und was plant die Regierung als nächstes?
In einer Fernsehansprache an die Nation hat Macron am Montag verkündet, mit welcher Agenda er das Land jetzt voranbringen will. Er habe die Wut auf den Straßen vernommen, darauf dürfe aber weder »mit Lähmung [noch] mit Extremismus« reagiert werden. Stattdessen sieht er Folgendes vor: Macron will weitere Berufsschulen eröffnen, Sozialhilfeempfängern die Vermittlung eines Arbeitsplatzes erleichtern und Maßnahmen im Bildungssystem einführen, um die Mathematik- und Französischkenntnisse von Schülerinnen und Schülern zu verbessern und abwesende Lehrkräfte effizienter ersetzen zu können.
Außerdem will er das Gesundheitssystem des Landes wieder auf Vordermann bringen und Frankreich mit einem Umweltprogramm, das im Sommer vorgestellt werden soll, »grüner und produktiver« machen. Doch hinter diesen versöhnlich klingenden, vagen Versprechen (einschließlich der Ankündigung, sich dafür einzusetzen, dass Schülerinnen und Schüler »mehr Sport treiben«) steckt ein knallharter Plan.
»Trotz der heftigen Proteste gegen die Rentenreform plant die Regierung weitere Angriffe auf den Sozialstaat. Für das kommende Jahr stehen harte Sozialkürzungen auf dem Programm.«
Macron ist sich der Wut auf den Straßen wohl bewusst und hat entsprechend reagiert: Er will Zehntausend neue Richterinnen und Richter sowie Angestellte für das Justizsystem und zweihundert neue Gendarmeriebrigaden anheuern. Ist Frankreich bereit, diesen Weg mitzugehen?
In vielerlei Hinsicht hat Macron in seiner Fernsehansprache eine »Neustart«-Rhetorik bedient, die für ihn sehr typisch geworden ist. Dass er eine ambitionierte, transformative Agenda verspricht, ist inzwischen zur Routine geworden. Wenn man sich hingegen seinen Haushaltsplan für 2024 anschaut, erhält man ein realistischeres Bild darüber, was er in der nahen Zukunft tatsächlich vorhat. Trotz der heftigen Opposition gegen die Rentenreform plant die Regierung weitere Angriffe auf den Sozialstaat des Landes. Für das kommende Jahr stehen harte Sozialkürzungen auf dem Programm.
»Angesichts von Inflation [und] Rente … wurde der Bogen bereits überspannt«, sagte Nicolas, ein Nukleartechniker, der gemeinsam mit etwa zwanzig Kollegen von der Gewerkschaft Union Syndicale Solidaires (SUD) im letzten Monat in Paris auf die Straße gegangen ist. Mit dieser Meinung ist er keineswegs allein. Außerhalb des Landes wird Macron als geschwächt und isoliert wahrgenommen. Selbst die konservative, wirtschaftsnahe Presse warnt davor, dass die aktuelle Krise das Ende seiner innenpolitischen Agenda bedeuten könnte oder gar das Präsidialsystem der Fünften Republik gänzlich für obsolet erklären könnte. Aber Macron hat allem Anschein nach nicht vor, jetzt einen Rückzieher zu machen. Auf Frankreichs Straßen mögen Millionen von Menschen protestieren, aber er hat bereits ein neues Ziel anvisiert.
Das Wirtschaftsblatt Les Echos berichtete, dass Wirtschaftsminister Bruno Le Maire gegenüber dem Radiosender Franceinfo erklärt habe, dass die Regierung bei ihrem Haushaltsentwurf für das kommende Jahr gute Fortschritte mache. »Dieser Plan sieht Einsparungen in Milliardenhöhe vor«, so Le Maire.
Drei Bereiche sind in das Fadenkreuz des Gesetzespakets geraten: die Sozialausgaben, die sogenannten »braunen Ausgaben« – also Ausgaben für fossile Brennstoffe – und Unternehmenshilfen.
Durch diese Kürzungen wird die Sparpolitik, die Macron seit seiner Wahl verfolgt, weiter forciert. Auf einer Kundgebung gegen die steigenden Lebenshaltungskosten hatte Marianne Maximi von der Partei La France Insoumise bereits im November vergangenen Jahres angeprangert, dass der Haushaltsplan für das Jahr 2023 bereits »eine Rückkehr der Austerität« darstellt.
»Das Ergebnis davon sind Haushaltskürzungen in Höhe von 11 Milliarden Euro [...] In den letzten zwei Jahrzehnten gab es nur einen anderen Haushalt, bei dem noch extremer eingespart wurde.«
Maximi erklärt, was das konkret bedeutet: Lokale öffentliche Dienstleistungen – etwa Schulkantinen, Bibliotheken, öffentliche Schwimmbäder und die Beheizung in Schulen – werden erheblich beeinträchtigt werden.
»Kinder frieren jetzt schon, und das wird auch in Zukunft so bleiben«, fährt sie fort. La France Insoumise werde daher gegen den Haushalt 2023 stimmen, denn »Austerität ist tödlich«. »Sie werden weiterhin Betten in den Krankenhäusern abbauen, und das mitten in einer Krise!«
Unter der Regierung des konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy wurden zwischen 2007 und 2012 bereits etwa 37.000 Krankenhausbetten abgebaut. Sein Nachfolger François Hollande kürzte weitere 10.000. Während Macrons erster Amtszeit, die 2017 begann, hat die Regierung trotz des Ausbruchs der Corona-Pandemie und kritischer Versorgungsengpässe weitere 21.000 Krankenhausbetten abgebaut.
»Seit Macrons Amtsantritt sind die Ausgaben für Unternehmenshilfen in die Höhe geschossen.«
Macrons Sparkurs ist also alles andere als neu. Jean-Luc Mélenchon bezeichnete schon Macrons Haushalt von 2017 als einen Haushalt für die Reichen. Über den Haushaltsplan für das Jahr 2020 schrieb er, dieser würde »den Staat ausplündern«. Durch die heftige Wirtschaftskrise, die die Pandemie auslöste, wurden Macarons Sparpläne notgedrungen eingeschränkt. Macron reagierte auf diese Krise mit einer Fiskalpolitik, die irrigerweise unter dem Schlagwort »koste es, was es wolle« bekannt wurde.
Die ganzen zögerlichen Maßnahmen, die in dieser Zeit ergriffen wurden – etwa Einmalzahlungen gegen die Inflation und Zuschüsse zur Deckung der Energiepreise –, stehen nun in der Schusslinie. Im vergangenen Herbst verkündete Haushaltsminister Gabriel Attal: »Wir sind von der Strategie ›koste es, was es wolle‹ übergegangen zu ›gerade so viel, wie es kostet‹«.
Le Maire hat die Ausgaben der Regierung seit Januar einer Prüfung unterzogen, inzwischen nehmen die Konturen des neuen Haushalts Gestalt an. Ein einwöchiges Treffen aller Ministerinnen und Minister ist bereits angesetzt. Dabei soll dann gemeinsam erarbeitet werden, wie die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben umgesetzt werden soll.
Doch wie ein Berater von La France Insoumise JACOBIN gegenüber berichtet, wird vor allem der Sozialstaat von den Einsparungen betroffen sein. Das Gerede von der Senkung der »braunen Ausgaben« sei eine Nebelkerze. Ebenso unwahrscheinlich sei es, dass die Zuschüsse für Unternehmen gekürzt werden würden.
Die Reduzierung der »braunen Ausgaben« könnte theoretisch allein durch die Schließung einiger Steuerschlupflöcher erzielt werden. Doch das Finanzministerium hat bereits eine Arbeitsgruppe, die sich vor allem aus Macron-Anhängern zusammensetzt, damit beauftragt, einen Gesetzesvorschlag für grüne Industrie aufzulegen. Der Entwurf soll in den kommenden Wochen veröffentlicht werden. Laut dem Berater von La France Insoumise ist diese Arbeitsgruppe der Auffassung, es sei »kontraproduktiv und voreilig«, Steuergutschriften für »braune Ausgaben« zu streichen. Es sei daher kaum zu erwarten, dass die Ausgabenkürzungen auf diesem Weg erfolgen würden.
Was die Ausgaben für Unternehmenshilfen anbelangt, so äußerte der Berater von La France Insoumise ebenfalls Zweifel. Denn seit Macrons Amtsantritt seien die Ausgaben in diesem Bereich in die Höhe geschossen. Seit 2017 seien sie um satte 80 Milliarden Euro gestiegen. Der Ausbruch der Corona-Pandemie allein erklärt diese Erhöhung nicht, da die Hilfen für Unternehmen bereits zwischen 2017 und 2019 um 30 Milliarden Euro heraufgesetzt wurden.
»Steuererhöhungen werden völlig ausgeschlossen. Mehr noch, die Steuern sollen sogar gesenkt werden.«
Éric Berr, Ökonom an der Universität von Bordeaux, teilt diese Analyse. Berr – der beim Thinktank von La France Insoumise die Abteilung für Wirtschaftswissenschaften leitet – sagte mir gegenüber, dass die jüngsten Ankündigungen von Le Maire und das Stabilitätsprogramm der Regierung derselben Logik folgen würden. Bei letzterem handelt es sich um ein Dokument, das die Regierung jedes Jahr dem Parlament und der Europäischen Kommission vorlegt, um ihren Plan zum Abbau der Staatsverschuldung darzulegen.
»Die Regierung will das Defizit des öffentlichen Haushalts bis 2027 auf unter 3 Prozent des BIP zu senken«, erklärte Berr. Dieses Ziel hat die EU für ihre Mitgliedstaaten vorgesehen. Um dieses Defizit abzubauen, stützt sich der Plan der Regierung jedoch ausschließlich auf die Steigerung des BIPs. Steuererhöhungen werden als Option völlig ausgeklammert. Mehr noch, Berr zufolge sollen die Steuern sogar gesenkt werden. »Wenn das Defizit im öffentlichen Haushalt reduziert werden soll und gleichzeitig die Steuern gesenkt werden sollen, dann werden die Sozialausgaben darunter leiden.«
Die Zielvorgabe, das Defizit unter 3 Prozent des BIP zu halten, »hat keine ökonomische Grundlage«, erklärte Berr. »Die Zahl wurde von François Mitterrands Beratern Anfang der 1980er Jahre einfach erfunden«, so Berr.
Mitterrand wurde 1981 mit einem ehrgeizigen Sozialprogramm zum Präsidenten gewählt, das zweifellos das Defizit vergrößern würde – so setzte er etwa unter anderem das Rentenalter von fünfundsechzig auf sechzig Jahre herab. Er bat seine Berater daher, eine Regel zu erarbeiten, mit der er Ministerinnen, die höhere Ausgaben verlangten, abwimmeln konnte. Und da das Defizit damals bei etwa 2 Prozent des BIP lag, entschieden sie sich für 3 Prozent, wie Berr erklärt. Als 1992 mit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht die EU gegründet wurde, avancierte Mitterrands Regel zur wirtschaftlichen Norm der Mitgliedstaaten.
Das Vorhaben der Regierung, ihren Haushalt an diese Vorgabe anzugleichen, basiert also vollkommen auf der Förderung des wirtschaftlichen Wachstums.
Doch laut dem Berater von La France Insoumise ist »[ihre] Wachstumsprognose überzogen«. Für 2023 prognostiziert die Regierung etwa ein Wachstum von 1 Prozent des BIP – in dem Wissen, dass ein derartiges Wachstum unrealistisch ist. Zuvor hatte sie sogar ein Wachstum von 1,3 Prozent vorausgesehen und korrigierte diese Schätzung dann nach unten. Die Französische Zentralbank geht hingegen von einem Wachstum von lediglich 0,6 Prozent aus.
»Die Konsequenz? Ein noch nie dagewesenes Ausmaß der Austerität.«
Wenn diese Wachstumsziele nicht erreicht werden, wird das Defizit weiter ansteigen – es sei denn, es werden erhebliche Ausgabenkürzungen durchgesetzt. Die Konsequenz? »Ein noch nie dagewesenes Ausmaß der Austerität.« Ohne Präzedenzfall, ohne Ende. Da weder Aussicht auf neues Wachstum noch eine Erhöhung der Steuern besteht, wird die Verringerung des Defizits zwangsläufig dazu führen, dass »die Sparmaßnahmen jedes Jahr heftiger ausfallen müssen als im Jahr zuvor«.
Für den Internationalen Währungsfonds und den Europarat – die auch die Anhebung des Renteneintrittsalters begrüßten – sind das gute Nachrichten, wie Berr erklärt. Denn diese wirtschaftsliberale supranationale Organisationen deuten diese Reformen als »Zeichen, [...] dass Frankreich ein ›guter Schüler‹ ist und gewillt ist, das Defizit zu reduzieren«.
»Das ist nichts Neues«, sagte Berr. »Es ist die Fortsetzung von dem, was sie schon immer gesagt haben.« Berr glaubt, dass Le Maire der Finanzwelt damit signalisieren will, dass die französische Regierung angesichts der aktuellen Sozialproteste »ihrem Kurs treu bleiben wird« – und dieser Kurs bedeutet »Steuern senken, öffentliches Defizit [und] öffentliche Ausgaben reduzieren«.
Um dieses Signal zu senden, sollen eine ganze Reihe von Gesetzen auf den Weg gebracht werden. Eines davon wird vom Arbeitsminister vorbereitet und sieht vor, den Arbeitsmarkt umzubauen, ein weiteres wird die Arbeitslosenversicherung angreifen.
Das alles fügt sich in ein langjähriges ideologisches Projekt ein, mit dem Macron und die EU »staatliches Handeln einschränken wollen«, sagt Berr. In einem Interview mit dem Investigativjournalisten Marc Endeweld in Le Vent Se Lève hat Endeweld dargelegt, dass Macron seit Jahren versucht, »den Nachkriegs-Kompromiss aufzulösen, vermeintlich um etwas [anderes] wiederherzustellen«. In Wirklichkeit bliebe Macron schlichtweg nichts anderes übrig, so Endewald. Macron wird also nicht aufhören, in seinen Reden von »›Anpassung‹ im Namen Europas [...], im Namen der ›Effizienz‹« zu sprechen. Und bedeutet übersetzt: Kürzungen, Kürzungen und nochmals Kürzungen.
Marlon Ettinger ist der Autor des Buches »Zemmour & Gaullism«.