26. April 2022
Armut ist ein Versagen des Staates. Doch anstatt dieses zu beheben, straft der Staat. Damit sich die Ungleichheit unserer Gesellschaft nicht in eine Ungleichheit vor dem Gesetz überträgt, brauchen wir ein neues Strafsystem.
Die Kriminalisierung von Armutsdelikten ist nicht nur ungerecht, sondern auch ineffektiv.
Jüngst hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) eine Entschärfung des Strafrechts in Aussicht gestellt. Er wolle prüfen, ob die Bundesregierung gewisse minderschwere Straftaten zu Ordnungswidrigkeiten herabstufen sollte und ob die Zahl der Inhaftierungen für derartige minderschwere Fälle reduziert werden könnte. Die Vorschläge von Buschmann zielen auf die jährlich rund 550.000 Fälle minderschwerer Vergehen ab, für die Geldstrafen verhängt werden. Wer diese Geldstrafen nicht begleicht, wird nach einer bestimmten Zeitspanne inhaftiert. Im Jahr 2017 saßen aus diesem Grund rund 55.000 Personen, die meisten von ihnen mit niedrigen Einkommen, im Gefängnis – rund doppelt so viele wie vor vierzig Jahren. Das Justizministerium wolle daher nun »prüfen, ob wir auch bundesrechtlich etwas beisteuern können«, um die Zahl dieser sogenannten Ersatzfreiheitstrafen zu reduzieren. Insbesondere Straftaten wie Fahren ohne Fahrschein und der Besitz von Marihuana sollen nach Buschmann möglicherweise zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft werden.
Dies wäre tatsächlich ein guter erster Schritt, doch er löst das zugrundeliegende Problem nicht. Ersatzfreiheitsstrafen – also die Inhaftierung von Menschen, die laut Gerichtsentscheid nur eine Geldstrafe hätten zahlen müssen – sind immer ungerecht. Eine Herabstufung von Straftaten ist nicht dasselbe wie eine vollständige Legalisierung. Häufige Straftaten wie Fahren ohne Fahrschein und Marihuana-Besitz würden, wie heute auch, weiterhin polizeilicher Überwachung unterzogen, die oft mit Racial Profiling einhergeht. Außerdem dürften Verstöße nach wie vor mit hohen Geldbußen und sogar Freiheitsentzug geahndet werden. Eine wirklich progressive Strafrechtsreform müsste daher deutlich weiter gehen.
Deutschland wendet beträchtliche Ressourcen auf, um ein System aufrechtzuerhalten, das einen erheblichen Teil seiner Strafen für Delikte verhängt, die Symptome von Armut sind. Dieser »Law- and-Order«-Ansatz wird gemeinhin damit gerechtfertigt, dass man Einzelne für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen müsse und so den Rechtsstaat bewahren würde.
Wenn es hingegen um die Vergehen von Konzernen und ihren Managern geht, sieht eben dieser deutsche Rechtsstaat angestrengt weg. Man denke nur an die Abgas-Skandale in der Autoindustrie oder an den gigantischen Wirecard-Betrug. Im letzteren Fall ließ der Staat das absichtlich knapp gehaltene Budget der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung durch dasselbe Unternehmen finanzieren, das diese »Bilanzpolizei« eigentlich unter die Lupe nehmen sollte. Als die Financial Times erdrückende Beweise vorlegte, reichte die deutsche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gegen die britischen Journalisten, die diesen Beitrag verfasst hatten, Klage bei der Münchner Staatsanwaltschaft ein.
»Menschen werden dafür bestraft, dass sie sich den öffentlichen Nahverkehr, Haushaltswaren oder Lebensmittel nicht leisten können.«
Der Autor Ronen Steinke hat also Recht, wenn er schreibt, dass »vor dem Gesetz nicht alle gleich« seien. Wirklich neu ist diese Klassenjustiz jedoch nicht. Sie liegt überdies auch nicht nur in der ungleichen Anwendung oder Umsetzung der Gesetze begründet oder darin, dass sich reiche Angeklagte die beste Verteidigung einkaufen können. Vielmehr ist unser Rechtsstaat darauf ausgerichtet, ein Wirtschaftssystem zu reproduzieren, das Ungleichheit schafft und voraussetzt. Wer Profite erwirtschaftet, gilt als Stütze der Gesellschaft – wer arm ist, steht unter Generalverdacht.
Was der Staat unter Strafe stellt, ist eine politische Entscheidung, die gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegelt. In einer von massiver Ungleichheit geprägten Gesellschaft sollte es deshalb niemanden überraschen, dass Gerichte heute einen erheblichen Teil ihrer Strafen für Delikte verhängen, die aus Armut erwachsen. Kleindiebstahl und Fahren ohne Fahrtschein machen zusammen etwa 20 Prozent der jährlichen Verstöße aus. Menschen werden also dafür bestraft, dass sie sich den öffentlichen Nahverkehr, Haushaltswaren oder Lebensmittel nicht leisten können.
Menschen werden unter Umständen aber auch kriminalisiert, wenn sie Sozialleistungen beziehen. Seit der neoliberalen Hartz-Reformen der 2000er Jahre kürzen die Arbeitsämter regelmäßig die ohnehin schon geringen Leistungen durch »Sanktionen«. Diese werden bereits dann fällig, wenn man etwa Termine versäumt oder eine angebotene Arbeitsstelle nicht annimmt. Sanktionen des Jobcenters können sogar eine strafrechtlichen Verfolgung nach sich ziehen: Im Jahr 2017 wurden 49.769 Fälle an die Staatsanwaltschaft übergeben, weil der Verdacht auf Betrug beim Bezug öffentlicher Leistungen bestand. Tatsächlich zeigen Recherchen jedoch, dass die Jobcenter oftmals wenige oder gar keine Beweise für intendiertes Fehlverhalten haben.
Leistungsempfängerinnen und -empfänger werden auch dann kriminalisiert, wenn sie arbeiten, um die geringen Sozialhilfeleistungen aufzubessern. Bei Verstößen drohen den Betroffenen hohe Geldstrafen oder verwaltungsrechtliche Verfahren. Und sie können strafrechtlich wegen Betrug belangt werden, wenn die Arbeitsämter von den Nebeneinkünften erfahren – selbst wenn die Person überhaupt nicht die Absicht hatte, ihre Tätigkeit zu verschleiern. Die neue Ampel-Regierungskoalition erkennt zwar die Notwendigkeit an, es Menschen zu erleichtern, zusätzliches Geld zu verdienen, die Kriminalisierung bleibt jedoch weiterhin bestehen.
Die Behandlung dieser Delikte – Fahren ohne Fahrschein, Gelegenheitsdiebstahl und Sozialleistungsbetrug – als Formen des Diebstahls ist darüber hinaus auch überaus fragwürdig. Harald Thomé, der Direktor des Hilfsvereins Tacheles, ist sich sicher: »Das Problem von Kriminalität in Hartz IV ist: Die Leute haben zu wenig Geld. Und wenn sie zu wenig Geld haben, müssen sie sehen, wie sie an Geld kommen.« Einige Menschen sähen daher Gelegenheitsdiebstahl als Ausweg aus ihrer Not, andere nutzen die öffentlichen Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrtschein, wieder andere beziehen ein nicht berichtetes Einkommen. Wenn der Staat Armutsdelikte kriminalisiert, hat das einen ähnlich systemerhaltenden Effekt wie sein systematisches Wegschauen in Fällen wie Wirecard. Die Bestrafung von Armutsdelikten wälzt die Schuld auf das Individuum ab: Der Staat konzentriert seine Empörung auf den Einzelnen und sein Verhalten, statt auf die zugrundeliegenden wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten und sein Versagen dabei, diese zu beseitigen.
Doch das Sanktionieren bei Hartz IV ist nicht der einzige Bereich des Rechts, in denen der Staat straft, obwohl andere sozialpolitische Maßnahmen nicht nur fairer, sondern auch effektiver wären. So ist etwa Drogenbesitz (30.947 Fälle im Jahr 2020) oftmals nicht schädlich für die Allgemeinheit – und in den Fällen, in denen eine staatliche Reaktion notwendig und hilfreich wäre, ist Bestrafung sogar kontraproduktiv. Die Bestrafungspraxis ist zudem von strukturellem Rassismus geprägt. Durch Begriffe wie »Clan-Kriminalität« werden rassifizierte und migrantische Gruppen kriminalisiert und als verdächtig eingestuft. Racial Profiling, das infolgedessen grassiert, führt dazu, dass sie von den Strafverfolgungsbehörden stärker überwacht werden.
»Menschen mit Migrationshintergrund sind auch deshalb auf der Anklagebank für Armutsdelikte überrepräsentiert, weil Menschen mit Migrationshintergrund in der Armutsstatistik überrepräsentiert sind.«
Gewisse Stadtgebiete mit hohem Migrationsanteil werden als »Kriminalitätsschwerpunkte« oder »kriminalitätsbelastete Orte« klassiert, was wiederum zu einer Ausweitung der Polizeipräsenz und -befugnisse führt. Da rassifizierte Personen und Menschen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig angehalten und kontrolliert werden, werden sie auch überdurchschnittlich oft für minderschwere Vergehen mit Geldstrafen belegt: Über 35 Prozent der Geldstrafen werden gegen nicht-deutsche Staatsangehörige verhängt. Daten beweisen außerdem, dass Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft im Vergleich zu denen mit deutscher Staatsbürgerschaft härter bestraft werden.
Dies ist weder Zufall noch die Schuld einzelner Justizbeamter. Es ist vielmehr ein Effekt des strukturellen Rassismus, der in unserer Gesellschaft verankert ist: Nicht-weiße Menschen sind auch deshalb auf der Anklagebank für Armutsdelikte überrepräsentiert, weil Menschen mit Migrationshintergrund in der Armutsstatistik überrepräsentiert sind. Laut Daten aus dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamts ist die Armutsgefährdung von Menschen mit Migrationshintergrund mit 27,8 Prozent mehr als doppelt so hoch als die von Menschen ohne Migrationshintergrund (11,7 Prozent). Dabei ist Deutschland keineswegs ein Ausreißer – überall auf der Welt greifen Kapitalismus und Rassismus bei der Produktion sozio-ökonomischer Unterdrückungsverhältnisse nahtlos ineinander.
Wer nun hofft, unsere Gerichte würden diese aus der Polizeipraxis erwachsenden Ungerechtigkeiten auffangen, wird enttäuscht. Im Gegenteil – die mehr als fünfzig Interviews, die ich mit Richterinnen und Staatsanwälten in ganz Deutschland geführt habe, zeigten, dass diese Dynamik vor Gericht noch verstärkt wird. Dabei soll das System der Tagessätze eigentlich helfen, Geldstrafen auf die jeweiligen finanziellen Verhältnisse abzustimmen, sodass sie Arme und Reiche gleichermaßen treffen. In der Praxis jedoch sind Geldstrafen häufig dennoch zu hoch für Menschen mit geringem Einkommen.
Die Richterinnen und Richter setzen Bußgeldbeträge oft auf Basis ihrer eigenen Schätzungen fest. Ein Richter sagte uns etwa, er gehe in der Regel davon aus, dass die Angeklagten etwa 600 bis 900 Euro pro Monat zur Verfügung hätten. Eine Richterin räumte später hingegen ein, dass schätzungsweise 80 Prozent der Verurteilten von Sozialleistungen leben würden – was wiederum bedeutet, dass die tatsächlich zur Verfügung stehenden Geldmittel weitaus niedriger sein dürften.
Für Armutsdelikte verhängte Strafen sind oftmals besonders drakonisch. Eine Person, die Hartz IV bezieht, kann für eine Anklage aufgrund des Fahrens ohne Fahrschein zu einer Geldstrafe in Höhe von 150 bis 400 Euro verurteilt werden. Das entspricht etwa 30 bis 100 Prozent ihrer verfügbaren Barmittel von 340 Euro pro Monat. Die Bußgelder sind für viele somit unbezahlbar. Das führt zu Verschuldung und im schlimmsten Fall sogar zu Freiheitsverlust.
Selbst wenn Richterinnen und Richter die jeweilige Zahlungsfähigkeit der Menschen berücksichtigen, führen die sozioökonomischen Unterschiede zwischen ihnen und den Verurteilten nicht selten dazu, dass die Geldstrafen zu hoch angesetzt werden. Ein Richter, mit dem wir sprachen, war etwa fest überzeugt: »Niemand in Deutschland hat so wenig Geld übrig, dass er gezwungen wäre, [ohne Fahrkarte zu fahren]« – eine Fehleinschätzung, die für viele Bestrafte schwere Konsequenzen hat.
»Weder die Reformpläne für die Finanzmarktaufsicht noch für Armutsdelikte reichen aus, um den Status quo wirklich zu verändern.«
Manager eines Konzerns wie Wirecard machen indes gänzlich andere Erfahrungen mit der Justiz: Sie standen dem Rechtsstaat so nahe, dass der ehemalige bayerische Polizeipräsident sogar Lobbyarbeit in ihrem Auftrag betrieb. Als der Vorwurf des massiven Betrugs bereits im Raum Stand, warb Karl-Theodor zu Guttenberg als Wirecard Lobbyist bei Angela Merkel für eine geplante Übernahme – woraufhin sich die Kanzlerin persönlich in China für die Münchner Hochstapler einsetzte.
Es ist gut, dass die Ampel-Koalition die Überkriminalisierung auf den Prüfstand stellen will – allerdings zeigt sich die Regierung diesbezüglich äußert unambitioniert. Selbst bei der Abschaffung der Ersatzfreiheitstrafe verspricht der Koalitionsvertrag lediglich eine »Überprüfung«. Die Grünen sind der einzige Koalitionspartner, der in seinem Programm eine entsprechende Gesetzesänderung fordert. Auch wurde die Chance verpasst, eine sanktionsfreie Grundsicherung einzuführen.
Weder die Reformpläne für die Finanzmarktaufsicht noch für Armutsdelikte reichen aus, um den Status quo wirklich zu verändern. Die Justiz wird auch weiterhin darauf ausgerichtet bleiben, Armut zu bestrafen und Profite zu schützen.
Alternativen existieren, doch sie erfordern eine neue Denkweise. Hier können wir viel von Ansätzen des Abolitionismus lernen, in deren Vision einer klassenlosen Gesellschaft die Abschaffung der Strafjustiz ein zentrales Element darstellt. Doch auch heute schon könnten wir eine Vielzahl der derzeit bestraften Vergehen schlichtweg legalisieren. Für andere Straftaten – wie etwa Trunkenheit am Steuer – könnten wir Wege finden, um Menschen eine Wiedergutmachung leisten zu lassen, beispielsweise durch sogenannte »Restorative Justice«-Ansätze. Das Strafsystem für minderschwere Delikte ganz abzuschaffen, wäre ein großer Sprung in diese Richtung. Reformen wie die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe sind kleine Schritte auf dem Weg zu diesem ambitionierten, aber erreichbaren Ziel.
Mitali Nagrecha ist Anwältin und Forscherin. Sie ist Gründerin von Justice Collective, einem neuen, in Berlin ansässigen Projekt, das sich gegen Überwachung, Bestrafung und Freiheitsentzug einsetzt.