12. September 2022
Während die Preise ungebremst steigen, begnügen sich Europas Regierungen mit halbherzigen Maßnahmen. Es ist Zeit, die Inflation nachhaltig zu bewältigen.
Lebensmittel, Strom, Energie: Die steigenden Preise machen sich bei uns allen tagtäglich bemerkbar.
IMAGO / Levine-RobertsFür die Europäische Zentralbank (EZB) und die ihr angeschlossenen nationalen Notenbanken brachte die wirtschaftliche Großwetterlage Anfang 2021 erstmals seit einem Dreivierteljahr wieder einen Silberstreifen am Horizont: Die Deflation schien überwunden, die Preisstabilität gesichert. Wer zu dieser Zeit an einer Sitzung des EZB-Rats im Hauptquartier in Frankfurt am Main teilnahm, dem wird ein deutlich vernehmbares Aufatmen der EZB-Gouverneure wahrscheinlich nicht entgangen sein. Waren die Monate zuvor noch geprägt von einer Talfahrt des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (der Indikator, den die EZB zur Beurteilung der Preisentwicklung in der Eurozone verwendet), so zog dieser nun wieder merklich an und notierte solide im Plus – ein Anzeichen einer deutlichen wirtschaftlichen Erholung.
Die Erleichterung währte etwa ein halbes Jahr, bis sich das Blatt erneut wendete. Die monatlichen Inflationsraten lagen jetzt über der Zielmarke von 2 Prozent und kletterten von Monat zu Monat ununterbrochen weiter. Dieser Trend setzt sich bis heute fort und resultierte zuletzt in einer geschätzten Teuerung gegenüber dem Vorjahresmonat von 8,9 Prozent im Juli 2022. Schnell erklangen wieder die Rufe nach einer Anhebung der Euro-Leitzinsen. Geldpolitische Hardliner und fiskalkonservative Politikerinnen verbündeten sich und appellierten mit Erfolg an die EZB, es der britischen sowie der US-Notenbank gleichzutun und eine Zinswende einzuleiten. Diese fiel mit einer Erhöhung um 0,5 Prozent gleich überraschend heftig aus. Die Überlegung dahinter: Wenn Kredite sich verteuern und Sparen attraktiver wird, sinkt die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen – und damit die Preise.
Die Inflationsentwicklung der letzten zwei Jahre kommt nicht von ungefähr; sie ist das vorhersehbare Produkt eines von mehreren Krisen geplagten Konjunkturzyklus. Die erste und immer noch nachwirkende Krise ist die COVID-19-Pandemie. Der weltweite und recht abrupte Einbruch der Wirtschaft im Frühjahr 2020 im Zuge von Lockdowns und Social Distancing sorgte zunächst für ein Überangebot an Rohstoffen, Vorprodukten und vor allem fossilen Energieträgern (Kohle, Öl und Gas), für die die Industrie keine Verwendung mehr hatte. In der Folge verringerten sich die Güterpreise, und im nächsten Schritt auch die industriellen Produktionskapazitäten, welche nicht mehr so schnell hochgefahren werden konnten, als die Nachfrage auf den Weltmärkten allmählich wieder zunahm.
Die zweite – akute – Krise ist der russische Angriff auf die Ukraine, einem der wichtigsten Exporteure von Getreide. Hierdurch verknappen sich insbesondere Grundnahrungsmittel; aber auch die Energiepreise, der wohl wichtigste Inflationsfaktor, werden weiter angeheizt, da die meisten europäischen Staaten versuchen, ihre Energieimporte aus Russland durch teurere Alternativen wie Flüssiggas zu ersetzen. Beide Krisen haben gemein, dass sie sich inzwischen in erster Linie angebotsseitig auswirken, die ungewöhnlich hohe Inflation also Folge eines gestörten Welthandels ist, wogegen keine Zentralbank effektiv vorgehen kann. Im Gegenteil: Der jüngst vollzogene Kurswechsel der EZB läuft Gefahr, Wohlstandsgewinne in Europa zu untergraben.
Steigende Zinsen machen Investitionen teurer und könnten die konjunkturelle Erholung abwürgen, noch bevor sie sich konsolidiert hat. Bei Hypotheken und Kreditverträgen mit variablem Zinssatz erhöht sich das Ausfallrisiko, mögliche Bankenpleiten bedrohen die Stabilität des Finanzsystems. Selbst die Zahlungsfähigkeit mancher Euro-Staaten wird, wie wir am Beispiel Italiens sehen, ein weiteres Mal von den Kapitalmärkten in Frage gestellt, da von der Leitzinsanhebung auch die Zinsen auf Staatsanleihen betroffen sind. Doch anstatt das Phänomen der Inflation durch Angebotsschocks grundsätzlich anzugehen, kümmern sich die politischen Entscheiderinnen und Entscheider bestenfalls um die Linderung der Symptome. Die Ursachenbekämpfung wird den Bürokratinnen und Bürokraten in den Notenbanken überlassen – ein schwerer Fehler.
Die deutsche Bundesregierung, die bisher drei große Entlastungspakete beschlossen hat, ist ein Paradebeispiel für diese Form der Politik. Bedarfsgerechte Zuschüsse bei Löhnen und Sozialleistungen werden zwar gewährt und schaffen es teilweise, die sozialen Verwerfungen des aktuellen Inflationsgeschehens immerhin etwas abzufedern. Als nachhaltige Lösung der Problemlage kann dies allerdings nicht gelten. Ausgerechnet die beiden Maßnahmen, die nicht als rückwirkende Entlastung konzipiert sind, sondern die Preise direkt beeinflussen sollen (die Inflation also unmittelbar hemmen würden), funktionieren mehr schlecht als recht: Mineralölkonzerne geben die niedrigere Spritsteuer nur unvollständig an der Zapfsäule weiter und Stromkonzerne erhöhen ihre Preise weitaus stärker, als der Wegfall der EEG-Umlage sie gesenkt hat.
Es ist ein Irrtum zu glauben, die EZB könne mit der Inflation alleine fertig werden. Tatsächlich sind die oft zitierten »Transmissionsmechanismen« der Geldpolitik auf die Realwirtschaft wesentlich indirekter als die der Fiskalpolitik. Mit der erneuten Anhebung der Leitzinsen im September riskiert der EZB-Rat eine wirtschaftliche Stagnation bei kaum sinkenden Inflationsraten, wenn nicht sogar eine Rezession. Die EZB wäre mitverantwortlich für die Induzierung einer sogenannten Stagflation, also genau des Szenarios, das sie mit ihrer Geldpolitik zu verhindern versucht. Die eigentliche Verantwortung liegt bei den gewählten Politikerinnen und Politikern, die im Moment entweder zu wenig, gar nichts oder das Falsche tun. Wie aber sehen praktikable politische Abhilfen aus? Wir sollten bei der Betrachtung von Alternativen drei verschiedene Zeithorizonte unterscheiden.
Wie bereits erwähnt, ist Energie der ausschlaggebende Faktor im statistischen Warenkorb. Die Preissteigerung bei Energieprodukten verteuert nahezu alle Güter und lag im Juli 2022 bei rund 40 Prozent im Vergleich zum selben Zeitpunkt letzten Jahres. Gleichzeitig heimsen Ölkonzerne Rekordprofite – besser gesagt, Kriegs- und Krisengewinne – ein. Kein Wunder, es ist schließlich nicht so, als dass ihre Produktion plötzlich kostspieliger geworden wäre. Mit dem (lückenhaften, aber fortschreitenden) Verzicht westlicher Staaten auf Energielieferungen aus Russland wird die Auswahl an potenziellen Bezugsquellen für diese Länder kleiner. US-amerikanische Energieriesen, die OPEC und andere nutzen ihre Marktmacht aus und fordern entsprechend höhere Summen.
Im Bereich der fossilen Brennstoffe braucht es eine ordnungspolitische Intervention zur Begrenzung der Profitmargen von Energiekonzernen.
Solche Margenkontrollen ließen sich relativ einfach implementieren. Wenn ein Tankstellen-, Raffinerie- oder Pipelinebetreiber zum Ende des Geschäftsjahres beim zuständigen Finanzamt seinen Jahresabschluss samt Steuerbilanz einreicht, kann der Jahresgewinn mit den durchschnittlichen Gewinnen aus den Vorjahren abgeglichen werden. So könnte kontrolliert werden, ob der Gewinn signifikant über dem Vorkrisenniveau liegt. Ist dies der Fall, so wird der Übergewinn – das heißt, der Gewinn über einer gesetzlich festgelegten Grenze der akzeptablen Gewinnsteigerung – vom Fiskus abgeschöpft. Der Steuersatz verhält sich dabei proportional zur Höhe des Übergewinns und steigt linear an, von 90 bis zu – sagen wir – 110 Prozent. Verfassungsrechtlich wäre dies unproblematisch, da von einer Übergewinnsteuer selbst bei Steuersätzen in dieser Höhe keine »erdrosselnde« Wirkung auf die Unternehmen ausginge – ihre Existenz wäre nicht bedroht, denn sie wären auch tatsächlich in der Lage, die Steuer zu bezahlen.
Im Gegensatz zum italienischen, britischen und ungarischen Modell einer Übergewinnsteuer geht es nicht darum, bloß einen Anteil des Übergewinns abzuschöpfen, um damit spätere Entlastungen zu finanzieren. Konzerne, die in Krisenzeiten 75 Prozent ihrer Gewinnsteigerung einbehalten dürfen, haben keinen Anreiz dazu, ihre Margen zu verringern, selbst wenn der Staat »mitverdient«. Nur wenn CEOs und Unternehmenseigner wissen, dass sie im Zweifel mehr zurückzahlen müssen, als sie durch fragwürdige Geschäftspraktiken zusätzlich verdienen können, ist eine Margenbegrenzung effektiv gewährleistet. Margenkontrollen sind, anders als klassische Preiskontrollen, erstaunlich unbürokratisch und greifen aufgrund der Orientierung an vergangenen Profitniveaus nicht fundamental in den Mechanismus von Angebot und Nachfrage ein.
Doch was, wenn nach der Margenbegrenzung der Preis für Benzin, Diesel oder Heizöl nach wie vor zu hoch ist, weil etwa der Betreiber der Ölförderanlage – das erste Glied in der Wertschöpfungskette – im außereuropäischen Ausland sitzt und nicht direkt besteuert werden kann? In diesem Fall bleibt dem Staat natürlich noch die Möglichkeit, den Preis für die Endverbraucherinnen zu subventionieren, indem er beispielsweise dem Tankstellenbetreiber oder dem Heizöllieferanten den Differenzbetrag zwischen Normal- und Zielpreis erstattet.
Aber wären solche Subventionen für fossile Energieträger überhaupt wünschenswert? Es kommt auf die Ausgestaltung an. Die Kombination und flexible Anwendung – je nach Weltmarktpreisen – von Emissionssteuern und Preissubventionen kann heute wirksame Entlastungen und in den nächsten Jahren einen graduellen, gleichmäßig ansteigenden Preispfad in Richtung Klimaneutralität sicherstellen.
Der wesentlich pragmatischere Ansatz, für Planungssicherheit und weniger volatile Energiepreise zu sorgen, ist es jedoch, schlicht keinen Markt für Energie zuzulassen. Wären ausschließlich öffentliche Unternehmen, die keinem Profitzwang unterworfen sind, für die europäische Energieversorgung zuständig, könnte der Preis für Strom, Gas, Heizöl und Benzin nach Belieben festgesetzt und in einer mittelfristigen Planung so kalibriert werden, dass soziale und ökologische Gesichtspunkte gleichermaßen Berücksichtigung finden. Rein marktwirtschaftliche Ansätze stellen nicht für jeden Sektor die beste Organisationsweise dar – gerade, wenn dieser unsere Grundbedürfnisse bereitstellen soll. Für ein Umdenken in dieser Frage ist gesellschaftlicher Druck notwendig. Initiativen wie »RWE & Co enteignen« leisten im deutschsprachigen Raum diesbezüglich wertvolle Pionierarbeit.
Ein erster wichtiger Schritt hin zu einer sozialisierten Energiewirtschaft wäre die Neuordnung des europäischen Stromnetzes. Um fehlende Kapazitäten in einer Region zu kompensieren und überschüssige Kapazitäten andernorts gegen Bezahlung abtreten zu können, gibt es im EU-Binnenmarkt einen algorithmisch unterstützten Stromhandel über Landesgrenzen hinweg. Basierend auf Stromangebot und -nachfrage kalkuliert das System einen einheitlichen europäischen Strompreis für den darauffolgenden Tag. Technisch sehr effizient hat diese digitale Strombörse doch ein großes Manko: Der Einheitspreis richtet sich nach den Grenzkosten, also den Kosten für die letzte zusätzliche Kilowattstunde, die produziert wurde. Bei Spitzenlastbetrieb, wenn besonders viel Strom nachgefragt wird, werden dadurch sehr hohe Preise erzielt.
Stromkundinnen und -kunden zahlen demnach häufig de facto einen Aufpreis, da ihr Netzbetreiber die überhöhten Kosten des eingekauften Stroms auf sie abwälzt. Davon profitieren die Stromproduzenten, also Konzerne wie RWE. Das ist nicht zuletzt auch klimapolitisch unsinnig, da es zeitweise selbst die schmutzigsten Kohlekraftwerke wieder profitabel macht, ganz zu schweigen von der Inflation, die dadurch weiter Auftrieb erhält. Die Strombörse muss samt der an ihr teilnehmenden Unternehmen verstaatlicht werden, sodass die physische Infrastruktur des Stromnetzes und der Stromerzeugung vollständig in die öffentliche Hand gelangt. Bürgerinnen und Bürger sollten Anrecht auf ein monatliches Energie-Grundkontingent mit niedrigem Garantiepreis bekommen, darüber hinaus sollte der Verbrauch progressiv besteuert werden.
Da es sich beim Stromnetz um ein länderübergreifendes System handelt, müsste dieser politische Wandel auf europäischer Ebene vollzogen werden. Die EU sollte ein dauerhaftes öffentliches Stromversorgungs-Konsortium im Rahmen einer Europäischen Grünen Energieunion juristisch etablieren und mit den Nachbarregionen des Kontinents vernetzen. Mit der zunehmenden Elektrifizierung von Mobilität, Wärmesystemen und Industrieprozessen wird der Strombedarf künftig weiter steigen. Der private Börsenhandel mit Strom würde in dieser Zukunft hohe finanzielle Belastungen für Europas Bürgerinnen und Bürger mit sich bringen. Lediglich eine vorausschauende, gemeinwohlorientierte Energiepolitik kann das verhindern, indem massiv in erneuerbare Energie investiert wird sowie Effizienz, Subsistenz und Konsistenz im Ressourcenmanagement durchgesetzt werden.
In jedem Fall ist eine enorme Ausweitung der öffentlichen Investitionen im Euroraum unumgänglich. Schon seit 2015 – mit einer kurzen Unterbrechung zwischen 2018 und 2019 – kauft die EZB in großem Umfang Staats- und Unternehmensanleihen auf und erhöht so die im europäischen Bankensektor im Umlauf befindliche Menge an Zentralbankgeld. Diese Geldschwemme sollte die Geschäftsbanken eigentlich zur Kreditvergabe anregen und private Investitionen ankurbeln. Die Eurozone wurde so zwar gerade noch vor dem Auseinanderbrechen bewahrt, höhere Investitionsausgaben bei Unternehmen und Haushalten konnten allerdings kaum beobachtet werden. Die Mittel verblieben vielmehr am Finanzmarkt und verursachten eine Vermögenspreisinflation, deren Konsequenzen wir heute in Form von steigenden Aktienwerten, Mieten und Immobilienpreisen, dem Krypto-Boom und allgemein wachsender Ungleichheit tragen.
Parallel zur Zinswende wurden nach Beschluss des EZB-Rats die Netto-Ankäufe im Anleihekaufprogramm nun eingestellt und durch ein an toxische Konditionalitäten geknüpftes »Transmissionsschutzinstrument« (TPI) ersetzt. Diese Entscheidung wird die negativen Entwicklungen der vergangenen Jahre nicht rückgängig machen, stattdessen aber dazu beitragen, die Kreditkonditionen für hoch verschuldete Eurostaaten wie Griechenland und Italien zu erschweren. Wohin das führt, wissen wir längst: Mehr Sparauflagen, Privatisierungen, Kürzungen im Sozialbereich. Austerität ist eine grausame Antwort auf Inflation, weil die Senkung der Verbraucherpreise durch eine Verringerung des Wohlstands der Bevölkerung erreicht wird und somit eine Reihe schlimmer Externalitäten nach sich zieht. Die sowohl ethisch als auch ökonomisch richtige Antwort wäre das Gegenteil – staatliche Investitionen.
Die institutionelle Architektur der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion kennt zwei hoch problematische Dogmen, die einer nachhaltigen Entwicklung, vielleicht sogar dem Fortbestehen des Staatenbundes, grundsätzlich im Weg stehen: Erstens die Vermeidung von Defiziten im Staatshaushalt, auch als »Stabilitäts- und Wachstumspakt« bezeichnet, zweitens die Trennung von Geld- und Fiskalpolitik, das heißt die Unabhängigkeit der EZB von gewählten Parlamenten und Regierungen. Beide Prinzipien sind in den EU-Verträgen verbindlich festgeschrieben; ihre Begründung gehört seit jeher zum argumentativen Arsenal des akademischen und politischen Neoliberalismus: Ohne strenge rechtliche Einschränkungen bei der Höhe von Staatsausgaben, oder aber wenn Politikerinnen und Politiker Zugriff auf die metaphorischen Gelddruckmaschinen erhielten, drohe die ungebremste Entwertung der eigenen Währung und eine beschleunigte Inflation.
Die Realität ist komplexer als diese Erzählung. Staaten und Währungsräume wie die Eurozone, die Waren und Dienstleistungen produzieren, welche international nachgefragt werden, können darauf bauen, dass auch ihre Währung, welche sie selbst herausgeben, im Ausland nachgefragt wird. Bei frei schwankenden Wechselkursen müssen sie sich weder um ihre Bonität noch um die Stabilität ihrer Währung allzu große Sorgen machen, wenn sie ihrem Privatsektor Liquidität zur Verfügung stellen möchten. Die zu Beginn der Pandemie rasant angewachsene staatliche Schuldenaufnahme überall in der EU, die durch ein Aussetzen des Stabilitäts- und Wachstumspakts ermöglicht wurde, beweist dies. Wären die Staatsbilanzen Ursache der Inflation, hätten die Preise bereits ein Jahr früher anziehen müssen, als sie es taten. Die Regierungen der EU sollten sich diesen Vorteil zunutze machen und veraltete finanzpolitische Konventionen über Bord werfen, bevor es zu spät ist.
Konkret bedeutet das: Die europäischen Schuldenregeln müssen über das Jahr 2023 hinaus fortwährend ausgesetzt bleiben. Die Alternative dazu wäre, sie im Zuge weiterer Integration zu einer Fiskalunion so zu reformieren, dass Euro-Staaten einen nicht unerheblichen Teil ihres Finanzbedarfs über gemeinsame Steuern und Anleihen (Eurobonds) decken können. Die Geldpolitik der EZB muss unter die Kontrolle des Europäischen Parlaments gestellt werden, das souverän über Wertpapierkäufe und Zinsniveau entscheiden darf. Solche fundamentalen Reformen erfordern eine Änderung der EU-Verträge, weshalb sie zwangsläufig über einen längeren Zeitraum erkämpft werden müssen. Sie würden es erlauben, die Handlungsfähigkeit des Staates und seiner Institutionen zu erweitern und endlich die notwendigen politischen Maßnahmen in die Wege zu leiten, um langfristig und frei von Kollateralschäden Preisstabilität herzustellen.
Funktionieren kann das nur durch öffentliche Investitionen. Doch nicht bloß die Summen sind entscheidend, sondern auch die Frage, wofür das Geld ausgegeben wird. Anstatt globale Lieferketten zu »reparieren« und weiteres Offshoring zu begünstigen, sollten, so weit wie möglich, Industriezweige zurück nach Europa geholt und lokale Produktionskapazitäten aufgebaut werden, insbesondere im Technologiesektor. Ansonsten werden wir in zehn bis zwanzig Jahren, falls die Volksrepublik China Taiwan angreift, vor demselben moralischen Dilemma stehen wie jetzt in Bezug auf Russland. Und sind wir nicht eigentlich schon in dieser Lage? Beim Wiederaufbau von industriellen Kapazitäten sollten Investitionsentscheidungen partizipativ gestaltet und Bürgerinnen und Bürgern ein echtes Mitspracherecht eingeräumt werden. Die Prioritäten sind klar: Die Stärkung der wirtschaftlichen Resilienz, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Vollendung der Energiewende – ein Green New Deal für Europa.
Das größte Hindernis für diese Vorschläge ist nicht die technische Umsetzbarkeit, sondern die politische, sprich der Unwille und die Visionslosigkeit der politischen Klasse. Doch die Herausforderungen sind zu groß für einzelne europäische Staaten, vor allem die wirtschaftlich schwächeren unter ihnen, und können nicht in nationalen Alleingängen bewältigt werden. Die Lösung des Inflationsproblems, und vieler anderer grenzüberschreitender Probleme, kann nur auf europäischer Ebene erfolgen. »Europa ist die Antwort« ist mehr als ein billiger sozialdemokratischer Wahlslogan. Eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Zukunft befindet sich in greifbarer Nähe – wir müssen sie von den Mächtigen einfordern. Letztendlich muss die EU föderalisiert werden. Aber um sich zu einem demokratischen Bundesstaat zu entwickeln, muss sie zunächst in sämtlichen Politikbereichen demokratisiert werden. Es ist offen, ob dies gelingt, bevor sie von den wirtschaftlichen und geopolitischen Fliehkräften unserer Ära auseinandergerissen wird.
Vincent Welsch ist Mitglied im deutschen Koordinationsteam der transnationalen Partei MERA25.