09. Juni 2022
Durch Spekulation an der Börse treiben Investoren die Weizenpreise in die Höhe – und machen großes Geschäft. Damit stoßen sie die ärmsten Länder der Welt in den Hunger.
Bauer bei der Weizenernte in Banha, Ägypten. Die Preissteigerungen sind dort besonders extrem, 19. Mai 2022.
Auch wenn wir es immer wieder hören: Nicht alle werden ärmer. Mineralölkonzerne und die Rüstungsindustrie machen gerade offensichtlich hohe Profite. Doch auch Investoren, die seit Kriegsbeginn auf steigende Weizenpreise gewettet haben, fahren fette Gewinne ein. Die Rechnung dafür zahlen Menschen in Entwicklungsländern, die nicht mehr satt werden. Der Börsenpreis für Weizen ist seit Beginn des Krieges durch die Decke gegangen und befindet sich bis heute auf Rekordniveau.
Seit Ausbruch des Krieges ist der Weizenpreis um fast 50 Prozent angestiegen, zwischenzeitlich sogar um 70 Prozent. Das hat Folgen. Etliche Länder sind von Weizenimporten abhängig. Einer der größten Weizenimporteure der Welt in absoluten Zahlen ist Ägypten. Das Land importiert rund 12 Millionen Tonnen Weizen. Darauf folgen die Türkei und Indonesien. Offensichtlich treffen die Weizenpreise diese Schwellenländer besonders hart. Beim Preis für Mehl zeigt sich der Anstieg noch extremer. Ein Bäcker in Ägypten berichtete etwa, dass der Preis sich mehr als verdoppelt habe. Wenn er diese Kosten an seine Kunden weitergäbe, würden sie nicht mehr kommen und er müsste schließen. Daher sollen die ägyptischen Bäuerinnen und Bauern nun vermehrt Weizen anbauen und es dem ägyptischen Staat unter Weltmarktpreis verkaufen. Auch ein Brotpreisdeckel wurde aufgesetzt.
Aber nicht nur die Schwellenländer sind betroffen. Auch die Entwicklungsländer trifft es hart. Sie importieren zwar in absoluten Zahlen deutlich weniger, aber in Relation zum Weizenkonsum deutlich mehr. Burkina Faso, Nigeria und Madagaskar sind fast zu 100 Prozent von Importen abhängig. Darauf folgen Länder wie Mexiko, Panama, Korea und Bangladesch.
Die Ukraine und Russland produzieren rund ein Drittel der weltweiten Weizenexporte. Somit steuern auch die vielen Länder, die von diesen Importen abhängig sind, auf eine Weizenkrise zu: Dreißig Länder beziehen mindestens 30 Prozent ihrer Weizenimporte aus der Ukraine und Russland, zwanzig Länder mindestens 50 Prozent, Libyen und Ägypten sogar knapp 70 Prozent, Eritrea und Somalia – beide bitterarm – fast 100 Prozent.
»Weizenpreis: Stärkster Preissprung seit 13 Jahren« – das titelte auch Börse-Online kurz nach Kriegsbeginn, der an der Börse vor allem als Investment-Chance aufgefasst wurde. Allein in der ersten Märzwoche 2022 sind 4,5 Milliarden Dollar in Fonds geflossen, die mit Agrarrohstoffen handeln – so viel, wie sonst in einem ganzen Monat. Die drohenden Engpässe in der Ukraine haben das schnelle Geld auf den Plan gerufen. Das niederländische Recherchenetzwerk Lighthouse Reports hat sich die zwei größten Agrarfonds, den Teucrium Weizenfonds und den Invesco DB Agriculture Fonds, genauer angesehen. Während die Fonds im Jahr 2021 von Anlegern noch 197 Millionen Dollar einsammelten, waren es in den ersten vier Monaten 2022 bereits 1,2 Milliarden Dollar.
»Rund zwanzig Länder haben Ausfuhrverbote für Getreide verhangen, um die eigene Versorgung zu sichern, darunter Großexporteure wie China und Indien.«
Das Internationale Expertenpanel für Nachhaltige Lebensmittelsysteme (IPES-Food) hat im Mai einen Report dazu herausgegeben, der davor warnt, dass innerhalb der kommenden fünfzehn Jahre eine dritte Hungerkrise droht. IPES-Expertin Jennifer Clapp sagt unmissverständlich:
»Es gibt Hinweise darauf, dass sich Finanzspekulanten auf Rohstoffinvestitionen stürzen und auf steigende Lebensmittelpreise setzen, was die ärmsten Menschen der Welt noch tiefer in den Hunger treibt. Die Regierungen haben es versäumt, exzessive Spekulationen einzudämmen und die Transparenz der Lebensmittelvorräte und Rohstoffmärkte zu gewährleisten – hier muss dringend Abhilfe geschaffen werden.«
Die Engpässe und Preissteigerungen sind das Ergebnis mehrerer Probleme. Durch den Krieg können Weizenfelder in der Ukraine nicht normal bewirtschaftet werden. Außerdem hängen 25 Millionen Tonnen geernteter Weizen in Häfen am Schwarzen Meer fest. Der Weizen kann nicht verschifft werden, weil die Häfen vermint und blockiert sind. Dieses Jahr wird Weizen also knapp werden. Das hat auch Putin verstanden. Mittlerweile nutzt er die Weizenblockade sogar als Druckmittel. Er würde die Blockade aufgeben, wenn der Westen seine Sanktionen lockere, so Putin jüngst zu Scholz, Macron und Draghi. Russland selbst hat obendrauf auch noch einen Ausfuhrstopp von Weizen und Düngemittel verhangen.
Doch das ist noch nicht alles. Dürren, Hitzewellen, steigende Energiepreise und Düngemittelknappheit sorgen dafür, dass auch in anderen Ländern die Ernteerträge sinken. Rund zwanzig Länder haben mehr oder weniger starke Ausfuhrverbote für Getreide verhangen, um die eigene Versorgung zu sichern, darunter Großexporteure wie China und Indien.
Besonders gravierend ist, dass dieses Jahr gleich mehrere Regionen der Welt von Ausfällen der Weizenernte betroffen sein werden, darunter China, Indien und die USA. Den USA droht bereits das zweite schlechte Jahr in Folge, die Lagerbestände gehen zurück. Die Klimakrise macht gleichzeitige Extremwetterereignisse in mehreren Regionen der Welt wahrscheinlicher – und untergräbt die weltweite Ernährungssicherheit. »Multiple Breadbasket Failure« – der gleichzeitige Ausfall mehrerer Kornkammern der Welt – heißt das Horrorszenario, vor dem viele Expertinnen und Experten seit Jahren warnen. Eine Studie der Beratungsagentur McKinsey & Company kam 2020 zu dem Schluss, dass »ein ›echtes‹ Versagen mehrerer Kornkammern« in naher Zukunft »immer wahrscheinlicher« werde.
Das Aufeinandertreffen von Krieg, Ernteverlusten und Spekulation zieht fatale Folgen nach sich. Wenn in armen Ländern Weizen fehlt oder so teuer wird, dass sich viele keinen mehr leisten können, droht Hunger und Mangelernährung. In armen Ländern geben die Menschen unter normalen Umständen fast die Hälfte ihres Einkommens für Lebensmittel aus, in Schwellenländern etwa ein Viertel. Die Welthungerhilfe schlägt deshalb Alarm. Ernährungskrisen sind zudem nicht nur eine humanitäre Katastrophe, sondern auch ein politisches Pulverfass.
Termingeschäfte an der Börse sind nicht per se schlecht. Wenn sich Bauer und Abnehmer schon vor der Ernte auf Preis und Menge einigen, haben beide Planungssicherheit und sind vor Preisschwankungen geschützt. Bauern können etwa Ausgaben wie Saatgut und Dünger über den vorgezogenen Verkauf ihrer Ernte finanzieren.
Doch es gibt auch andere Wege, um extreme Preisschwankungen zu umgehen. »In China gibt es eine lange Tradition von öffentlichen Getreidelagern, die antizyklisch am Getreidemarkt kaufen und verkaufen, um die Preise zu stabilisieren. Diese Praxis reicht bis in die Zeit der Antike zurück. Wenn die Preise nach der Ernte niedrig waren, kauften diese öffentlichen Speicher Getreide auf und setzten ihre Reserven frei, wenn das Angebot knapp wurde, insbesondere während Hungersnöten«, betont etwa die Ökonomin Isabella Weber. Um die Märkte für Getreide zu stabilisieren und die kontinuierliche Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln zu gewährleisten, muss man sich also nicht auf private Marktakteure verlassen.
Das traditionelle Absichern über Termingeschäfte ist seit der Deregulierung der Finanzmärkte ins Hintertreffen geraten. Zwischen 50 und 80 Prozent aller Börsenpositionen gehen inzwischen auf das Konto von Spekulanten, etwa durch Fonds oder Investmentbanken.
»Der Finanzmarkt ist kein effizienter Markt. Und je mehr Spekulanten mitmachen, desto ineffizienter wird er.«
Wie weit sich die Börse von der realen Landwirtschaft entfernt hat, zeigt auch folgende Statistik: 2019 wurden in den USA und Europa Termingeschäfte über 5 Milliarden Tonnen Weizen abgeschlossen, obwohl die weltweite Jahresernte nur 731 Millionen Tonnen betrug. Spekuliert wurde also mit dem Siebenfachen der Ernte. Die Börsengeschäfte sind von der Wirklichkeit der Bauern völlig entkoppelt. Mit echten Knappheiten und Veränderungen in der Produktionsmenge haben die Börsenpreise daher häufig nicht mehr viel zu tun. Das war 2007 der Fall, das war 2012 der Fall und es ist jetzt wieder so – es ist der dritte Preisschock innerhalb von fünfzehn Jahren.
Das Problem ist aber grundsätzlicher. Die Finanzmärkte sind das Gegenteil der effizienten Märkten aus den Lehrbüchern, die vernünftige Preise bestimmen sollen. Sie funktionieren anders als Gütermärkt. Ein Grund dafür ist das Herdenverhalten, das für Finanzmärkte typisch ist.
Wenn etwa der Preis für Kartoffeln steigt, sinkt üblicherweise die Nachfrage. Konsumentinnen und Konsumenten weichen dann auf Reis und Nudeln aus. So weit, so trivial. Genau das gilt an der Börse aber nicht. Wenn der Börsenpreis für Weizen steigt, wittern Investoren eine Einstiegschance in eine Preisrallye. Steigende Börsenpreise wiederum ziehen andere Investoren an. Alle Anleger interpretieren Preisinformationen danach, wie wiederum andere Anleger die Informationen interpretieren. Der Preisanstieg an der Börse schürt also neue Nachfrage und lässt die Preise weiter steigen – so lange, bis die ersten relevanten Investoren aus dem Geschäft aussteigen.
Man muss es so klar sagen: Der Finanzmarkt ist kein effizienter Markt. Und je mehr Spekulanten mitmachen, desto ineffizienter wird er. Die Spekulanten tragen schließlich keine neuen Informationen an den Markt, die dabei helfen, einen vernünftigen Preis zu finden. Im Gegenteil: Alle nutzen dieselben zentralisierten Informationen und interpretieren sie nach identischen Mustern. Das verfälscht die Preise. Jeden Marktwirtschaftler und jede Marktwirtschaftlerin sollte das eigentlich stören.
Die extremen Preisschwankungen helfen auch den Bäuerinnen und Bauern nicht. Wie sollen sie ihre Produktion daran anpassen, wenn die hohen Preise Ergebnis von Börsenspekulationen sind und es tatsächlich gar keine Knappheiten gibt? Die Signalfunktion von Preisen ist durch diese Dynamik völlig hinfällig geworden.
Dass die hohen Weizenpreise so fatale Folgen für arme Länder haben, liegt auch an einer fehlgeleiteten Entwicklungspolitik. Zu viele Länder stecken in einer gefährlichen Sackgasse fest: hohe US-Dollarschulden, hohe Importabhängigkeit bei Energie, Medizin und Lebensmitteln. Hinzu kommt, dass die eigene Landwirtschaft auf Exporte für den Weltmarkt statt auf Selbstversorgung ausgelegt ist. Statt Getreide werden daher Cash-Crops wie Kaffee, Tabak oder Baumwolle für den Weltmarkt angebaut. Häufig verschlechtert industrielle Landwirtschaft die Bodenqualität, wodurch die Länder abhängig von Dünger, Saatgut und Pestiziden werden. Diese müssen sie dann wiederum aus dem Ausland einkaufen. Die Cash-Crops sollen US-Dollar einbringen, um Auslandsschulden zu bedienen. Wenn aber Importpreise für Energie und Nahrung durch die Decke gehen, entwickelt sich diese Abhängigkeit zu einer Art Todesspirale. Auch die Rolle der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds verschlechtern die Lage durch ihre Kreditauflagen nochmal.
»Spekulation mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen gehört verboten, nicht besteuert.«
Die Politik muss dringend handeln, auch Deutschland ist in der Pflicht. Zum einen muss dafür gesorgt werden, dass Weizen aus der Ukraine aus dem Hafen laufen kann und auch Putin seinen Ausfuhrstopp für Weizen und Dünger aufgibt. Dabei sind Diplomatie und Verhandlungsgeschick gefragt. Gewiss keine einfache Aufgabe, aber eben eine notwendige – denn anders wird man überdies auch den russischen Angriffskrieg nicht beenden können.
Ebenso muss den Ländern, die besonders von Knappheiten und Preissteigerungen sind, pragmatisch geholfen werden. Schuldenerlasse, günstige Kredite, Weizenkontingente – alle Optionen gehören auf den Tisch.
Außerdem muss die Spekulation unterbunden werden, indem physische Händler von Spekulanten getrennt und die Höhe der Positionen noch stärker begrenzt werden. Wer nicht nachweisen kann, dass er Weizen anbauen, ernten, lagern oder transportieren kann, hat am Markt nichts verloren. Es braucht hier harte Regeln. Das Problem löst man außerdem auch nicht mit einer Steuer auf Börsenumsätze, der sogenannten Finanztransaktionsteuer. Denn Spekulation mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen gehört verboten, nicht besteuert.
Langfristig braucht es eine neue Entwicklungspolitik, die sich von der stumpfen Exportorientierung loslöst und vor allem in der Landwirtschaft auf nachhaltige Selbstversorgung setzt. Auch der internationale Handel muss sich ändern. Weltbank und IWF werden ihrer Rolle nicht gerecht. Ausgaben für Entwicklungshilfe sollten in Deutschland von der Schuldenbremse ausgenommen und deutlich ambitionierter werden.
Aber auch in Deutschland sind die Preise für Brot, Mehl und andere Getreideerzeugnisse stark gestiegen. Auf diese Auswirkungen kann die Regierung Einfluss nehmen, indem sie die Zuschüsse der Entlastungspakete erhöht oder die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel abschafft. Ebenso brauchen wir langfristig eine andere Landwirtschaftspolitik, um die Preise zu stabilisieren. Dabei sollte der regionale Anbau von Grundnahrungsmitteln im Fokus stehen.
Um die Nahrungsmittelkrise zu lösen, sind von Außen- über Entwicklungs- bis hin zur Finanz- und Wirtschaftspolitik alle Ebenen gefragt. Denn nur mit einem umfassenden fortschrittlichen Anspruch können die zugrunde liegenden Probleme angegangen werden.
Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.
Lukas Scholle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag für Finanzpolitik und betreibt den Podcast »Wirtschaftsfragen«.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.
Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.