09. Juni 2023
Sahra Wagenknechts potenzielle Basis sind vor allem Linke mit gesellschaftspolitisch konservativen Ansichten und Anhänger des rechten Lagers, allen voran der AfD. Um diese zu binden, müsste sie kulturkonservative Politik machen – doch das birgt Gefahren.
Vor Sahra Wagenknecht liegen schwere Entscheidungen.
IMAGO / epdEs ist der Wahlabend der Bundestagswahl 2025: Sahra Wagenknecht winkt strahlend in die Menge und lässt sich für den komfortablen Einzug ihrer neuen Partei in den Bundestag feiern. In der ersten Reihe stehen Sevim Dağdelen und Andrej Hunko und klatschen zum Schlager von Dieter Dehm, der zur Begleitung läuft. Andernorts ringen Martin Schirdewan und Janine Wissler bei der LINKEN um Worte, und auch bei der AfD ist angesichts der dramatischen Verluste Katzenjammer angesagt.
Schenkt man den Einschätzungen von Meinungsforschern und der wohlwollenden Medienberichterstattung Glauben, welche einer Wagenknecht-Partei große Erfolgsaussichten zusprechen, steuert das Land gerade auf ein Szenario zu, in dem eine solche Partei die AfD auf einstellige Werte zurückstutzt und die Linkspartei zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Im Frühjahr hat Wagenknecht ihren Verzicht auf die sowieso wenig aussichtsreiche Kandidatur für einen Listenplatz der LINKEN in Nordrhein-Westfalen bei der nächsten Bundestagswahl verkündet. Bis zum Ende des Jahres will sie über eine Parteineugründung entscheiden.
Sollte sie den Sprung ins Ungewisse wagen, sind ihre Ambitionen recht klar: Eine linke Partei soll es sein, die die Arbeiterschaft versteht und ehemalige Linke wieder abholt, die heute die AfD oder gar nicht mehr wählen. Doch wie belastbar sind solche Erfolgsprognosen? Welches politische Potenzial steckt wirklich in einer solchen möglichen Parteineugründung? Und welche politischen Auswirkungen hätte sie?
Auf diese diffuse Gemengelage werfen die jüngsten repräsentativen Umfragen zum Wahlpotenzial einer Wagenknecht-Partei etwas Licht. Anfang März konnten sich demnach etwa 19 Prozent der Wahlberechtigten grundsätzlich vorstellen, eine solche Partei zu wählen, was in etwa der Größe des maximalen Potenzials der Partei DIE LINKE entspricht. Wie viele von diesen Wählerinnen und Wählern eine Wagenknecht-Partei für sich gewinnen würde, hängt unter anderem davon ab, inwiefern sich diese Menschen in den Positionen und dem Personal der neuen Partei wiederfinden würden.
Den Ergebnissen einer Forschungsgruppe um die Politikwissenschaftlerin Sarah Wagner zufolge handelt es sich bei dieser potenziellen Wählerschaft insbesondere um sogenannte »Linksautoritäre« oder auch »Linkskonservative«. Diese sind ökonomisch links und zugleich kulturell konservativ eingestellt – sie befürworten sozialen Ausgleich, fordern aber ebenso eine restriktivere Migrations- und Integrationspolitik. Darüber hinaus sind sie politisch unzufrieden und werden in kaum einem politischen System Westeuropas durch eine entsprechend ausgerichtete Partei repräsentiert.
»Nur 28 Prozent der potenziellen Wagenknecht-Wähler würden zurzeit Mitte-links-Parteien wählen.«
Dieser Befund ist bemerkenswert, weil sich dieses Profil von der Wählerschaft von Wagenknechts aktueller Partei merklich unterscheidet: Die tatsächlichen Wählerinnen der LINKEN sind zwar ebenso politisch unzufrieden und befürworten stark ökonomische Umverteilung, sind aber, wie die Anhänger ihrer europäischen Schwesterparteien, überdurchschnittlich progressiv gegenüber Migration und Minderheitenbelangen eingestellt.
Das deutet darauf hin, dass vor allem jene sich vorstellen können, eine solche Partei zu wählen, die neben Wagenknechts friedenspolitischen und ökonomisch linken Positionen ihre kulturell konservativen Standpunkte gutheißen. Wagenknecht zielt laut eigenen Aussagen darauf ab, diesen Linkskonservativen ein politisches Angebot zu machen. Dies deckt sich mit ihren Aussagen zu gleichstellungs- und minderheitenpolitischen Themen in jüngerer Zeit, etwa ihrer Ablehnung des Gesetzes für geschlechtliche Selbstbestimmung, der Ablehnung geschlechtergerechter Sprache sowie in Polemiken gegen sogenannte »Lifestyle-Linke« in ihrem Buch Die Selbstgerechten.
Dass sich das von Wagenknecht adressierte Wählerpotenzial stark von dem der LINKEN unterscheidet, wird deutlich, wenn man das gegenwärtige Wahlverhalten dieser Menschen betrachtet.
Obwohl sich der hier verwendeten Umfrage des Instituts Kantar zufolge etwa 50 Prozent der Wählerinnen der LINKEN grundsätzlich die Wahl einer Wagenknecht-Partei vorstellen können, macht diese Personengruppe nur einen kleinen Anteil von 15 Prozent aller Wagenknecht-Sympathisantinnen aus. Nur 28 Prozent der potenziellen Wagenknecht-Wähler würden zurzeit Mitte-links-Parteien wählen. Ein Großteil der zur Wahl gehenden Wagenknecht-Sympathisanten würde gegenwärtig für Parteien des konservativen Lagers stimmen – ganze 41 Prozent für die AfD, gefolgt von der Union mit 22 Prozent und der FDP mit 8 Prozent.
Auch unter Nichtwählerinnen trifft sie den Ergebnissen der erwähnten Forschungsgruppe zufolge auf überdurchschnittlichen Zuspruch. Innerhalb dieser in ihren Motiven zur Wahlenthaltung recht heterogenen Gruppe dürften sich wiederum die Linkskonservativen von einer Wagenknecht-Partei angesprochen fühlen. Für die LINKE dagegen sind Anhänger des konservativen Parteienlagers kaum erreichbar. Die meisten Menschen, die sie zusätzlich für sich gewinnen könnte, wählten 2021 zu etwa gleichen Teilen die SPD, die Grünen oder enthielten sich ihrer Stimme.
Es ist unklar, ob eine Wagenknecht-Partei ihr Potenzial tatsächlich in Wahlerfolge verwandeln könnte. So wird die Attraktivität einer solchen Partei zurzeit wohl von Wagenknechts friedenspolitischen Positionen beeinflusst, worauf die nach ihrer Kundgebung in Berlin Ende Februar deutlich gesunkenen Umfragewerte hindeuten. Im Wahlkampf könnte sie durch einzelne Äußerungen, Ereignisse oder einen zugespitzten Zweikampf um das Kanzleramt ins Straucheln geraten, wie die volatilen Wählerwanderungen vor der Bundestagswahl 2021 nahelegen. Auch ein misslingender Parteiaufbau oder parteiinterne Konflikte könnten das Projekt scheitern lassen – zumal eine gesellschaftspolitisch konservative Positionierung diese wahrscheinlicher machen könnte.
»Als ökonomisch linke Partei um kulturell und parteipolitisch rechte Wähler werben – kann das gutgehen?«
Aus wahlstrategischer Sicht aber erscheint Wagenknechts linkskonservativer Kurs dennoch am erfolgversprechendsten, da sich auf die Unterstützung ihrer Sympathisantinnen im rot-grün-roten Parteienlager alleine keine Partei über der 5-Prozent-Hürde aufbauen ließe. Nur wenn es ihr gelingen sollte, die Linkskonservativen im konservativen Parteienlager und unter den Nichtwählerinnen als ihr Kernklientel zu mobilisieren, könnte sie ein Wahlergebnis erzielen, mit dem sie Ampelregierung und Union tatsächlich unter Druck setzen könnte. Um der AfD oder der Union Stimmen streitig zu machen oder Nichtwähler zu mobilisieren, müsste sie aber tatsächlich kulturell konservative Positionen repräsentieren. Sich nur auf linkspopulistische Weise im Namen des Volkes gegen die Eliten zu stellen, würde hierfür gerade nicht reichen, weil kulturell konservative Haltungen für diese Personen bei der Wahlentscheidung oft ausschlaggebend sind.
Die Partei wäre praktisch dazu gezwungen, eine gesellschaftspolitisch konservative Haltung einzunehmen, um einen hinreichend großen Anteil ihres Wählerinnenpotenzials auch tatsächlich zu mobilisieren. Entgegen einer verbreiteten und auch von Wagenknecht geteilten Einschätzung waren die meisten AfD-Wähler nämlich niemals Anhänger linker Parteien, sondern wählten stattdessen vorher die Union oder gar nicht. Um Wählerinnengruppen, die man nie verloren hat, im größeren Maß für das eigene Projekt zu gewinnen, muss man deren Positionen bedienen.
Die wichtigste Unwägbarkeit für eine mögliche Wagenknecht-Partei wäre aber vielleicht nicht ihre unmittelbaren Erfolgsaussichten bei Wahlen, sondern ihre eigene mittelfristige politische Entwicklung. Als ökonomisch linke Partei um kulturell und parteipolitisch rechte Wählerinnen zu werben – kann das gutgehen?
Auch wenn es einer Wagenknecht-Partei gelingen würde, linkskonservative Wähler von der AfD zu gewinnen: Eine noch stärkere öffentliche Fokussierung auf gesellschaftspolitische Debatten rund um geschlechtergerechte Sprache, Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität oder die vermeintliche Abgehobenheit linker Milieus wäre durchaus im Sinne der AfD. Die Übernahme ähnlicher Positionen würde nicht nur die AfD normalisieren und ihre Akzeptanz als wählbare Partei in der Bevölkerung erhöhen.
Die AfD könnte sich zugleich als das kulturkämpferische Original gegenüber anderen Parteien inszenieren. Studien zeigen, dass der mediale Fokus auf die Kernthemen rechtsradikaler Parteien deren Wahlergebnisse verbessert. Indirekt könnte eine kulturell konservative Wagenknecht-Partei also dazu beitragen, dass Union und FDP weiter rechtskonservative Wählerinnen an die AfD verlieren, was eine Entwicklung in Richtung politischer Verhältnisse wie in Italien, Österreich oder Frankreich in Gang setzen könnte, wo die extreme Rechte inzwischen führende politische Kraft ist.
Umgekehrt könnten diese Wählergruppen sich auch wieder von einer Wagenknecht-Partei verabschieden, sollte sie ihre Positionen modifizieren. Spätestens bei einer Regierungsbeteiligung mit SPD oder gar den Grünen läge ein Absprung für gesellschaftspolitisch Konservative nahe, analog zur Dynamik, bei der FDP-Wähler dieser unter umgekehrten Vorzeichen den Rücken zukehren.
Sollte eine Wagenknecht-Partei in die Parlamente einziehen, reichen die möglichen Folgen aber tiefer als eine bloße Dominanz gesellschaftspolitischer Themen im öffentlichen Diskurs. Statt weite Teile der Arbeiterschaft anzusprechen, könnte eine linkskonservative Partei die kulturelle Spaltung dieser Klasse vertiefen.
»Wenn linke Parteien in der Geschichte konservative Arbeiter für sich gewannen, taten sie das nicht, indem sie sich kulturell konservative Programmpunkte aneigneten.«
Ablehnende Grundhaltungen gegenüber kulturellem Wandel oder Migration und Sorgen über die Auswirkungen der ökologischen Transformation auf die eigene wirtschaftliche Situation sind zwar durchaus real und im Falle letzterer in Arbeiterinnenklassenlagen weiter verbreitet als in der Mittelklasse. Wagenknechts Analyse einer mehrheitlich kulturell konservativen Arbeiterschaft ist aber empirisch nicht haltbar: Sie schließt von einer begrenzten Gruppe innerhalb dieser Klasse auf die unteren Schichten schlechthin. Gerade Produktions- und Dienstleistungsbeschäftigte haben etwa zum Thema Migration stark heterogene Ansichten, weshalb eine linkskonservative Partei wohl vor allem von Konservativen unterschiedlicher Schichten gewählt werden würde.
Die kulturelle Spaltung zwischen Arbeiter- und Mittelklassenlagen würde sie dagegen weiter vertiefen: Auch wenn erstere seit jeher häufiger migrationsskeptische Ansichten haben als letztere, zeigen Studien, dass diese kulturellen Klassenunterschiede substanziell größer sind, wenn die betreffenden Themen seitens politischer Parteien stark politisiert werden. Es sind keine klassenspezifischen lebensweltlichen Erfahrungen, die die gegenwärtige hyperpolitische Polarisierung vorantreiben. Stattdessen priorisieren politische Parteien und Medien entsprechend ihrer Agenda ausgewählte Themen, was die ideologische Polarisierung zwischen Klassenlagen und entlang von Parteibindungen maßgeblich verstärkt. Eine erfolgreiche Wagenknecht-Partei würde also die kulturelle Spaltung auch innerhalb der potenziellen Wählerinnen linker Parteien zu einem guten Teil überhaupt erst herstellen und parteipolitisch verfestigen.
Diese vertiefte kulturelle Spaltung und die diskursive Dominanz kultureller Themen würde es aber erschweren, Aufmerksamkeit für linke Kernthemen zu erzeugen. Wenn linke Parteien in der Geschichte konservative Arbeiterinnen für sich gewannen, taten sie das nicht, indem sie sich kulturell konservative Programmpunkte aneigneten. Sie sprachen auch diese Menschen als die Arbeiter an, als die sich viele von ihnen in Abgrenzung zu »denen da oben« – den Reichen, den Konzernen und der herrschenden Politik – auch heute noch sehen.
Mit einer Spaltung der LINKEN würde eine machtpolitisch relevante linke Partei, die Arbeiterinnen und Arbeiter anspricht, aber auf kulturell konservative Positionen verzichtet, in weitere Ferne rücken. Im Bundestag würde sich, wenn überhaupt, entweder die Linkspartei oder eine Wagenknecht-Partei behaupten – mehr als eine linke Partei von relevanter Größe gibt es in keinem europäischen nationalen Parlament, in dem es zugleich eine sozialdemokratische und grüne Partei gibt. Auch wenn beide Parteien für sich genommen andere Wählergruppen erschließen könnten, würde, wie jüngst in Spanien, mindestens eine davon wohl daran scheitern, diese Stimmen in Mandate umzusetzen.
Sollte dieses Schicksal die LINKE treffen, würden größere Teile ihrer Wählerschaft wohl zu SPD und Grünen abwandern und ein harter Kern bei der übrig gebliebenen Kleinpartei verbleiben. Dass eine linkskonservative Wagenknecht-Partei diese Menschen mehrheitlich für sich gewinnen könnte, erscheint zweifelhaft. Trotz ihres desolaten Zustands und der bestehenden innerparteilichen Widerstände: Die jetzige Linkspartei ist letztlich die beste Chance, für eine Klassenpolitik zu kämpfen, die unabhängig von kulturellem Dissens Wählerinnen und Wähler mobilisiert und so die Machtverhältnisse zugunsten der Mehrheit der Menschen in diesem Land verschiebt. Diesen Menschen wäre zu wünschen, dass die interessierten politischen Akteure sich in Anbetracht der möglichen Folgen nicht auf ein solches Spaltungsprojekt einlassen.
Carsten Braband ist Sozialwissenschaftler. Er beschäftigt sich mit politiksoziologischen Fragestellungen und der Wählerschaft linker und rechtspopulistischer Parteien.